Sollen Blinde wieder Bürstenbinder werden?

Bundesregierung plant drastische Verschlechterung der Bildungschancen

Rudi Ullrich. Wenn man den Kabinettsentwurf des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) liest, mag man seinen Augen nicht trauen. Statt der angekündigten Verbesserungen, insbesondere im Bereich der Selbstbestimmung und Chancengleichheit von Menschen mit Behinderung, drohen jetzt unter anderem im Bildungsbereich dramatische Verschlechterungen für blinde und sehbehinderte Schülerinnen und Schüler.

So fehlt im Gesetzentwurf der Verweis, dass blinde oder sehbehinderte Jugendliche nach Beendigung der Schulpflicht beim Besuch einer „Weiterführenden Schule“ ein Recht auf Förderung durch die Eingliederungshilfe haben. Stellt sich die Frage, wer dann die speziellen Lehrmaterialien und Hilfsmittel, die Unterstützung durch Förder- und Beratungszentren oder den Besuch eines speziellen Bildungszentrums wie der blista zahlen soll.

Sozusagen im „Kleingedruckten“ der Gesetzesbegründung findet sich eine weitere Stolperfalle auf dem Weg zum qualifizierten Schulabschluss. So wird entgegen aller Lippenbekenntnisse für mehr Selbstbestimmung das Wahlrecht der Eltern und Jugendlichen zur Schulwahl nicht etwa gestärkt, da diese Entscheidung auch zukünftig weitgehend bei den abgebenden Schulen liegt. Ganz besonders düster könnte die Zukunft für sehbehinderte Schülerinnen und Schüler werden, da jeder Einzelne nach dem Willen der Bundesregierung in mindestens fünf ­Lebensbereichen beweisen muss, dass er massive Unterstützungsbedarfe hat, um überhaupt Leistungen aus der Eingliederungshilfe zu erhalten. Wer aber weiß, und das war bisher absolut unstrittig, dass eine massive Seheinschränkung gerade in Schule und Ausbildung erhebliche Schwierigkeiten bei der Wissensaufnahme und -verarbeitung oder Kommunikation mit sich bringt, obwohl der sehbehinderte Jugendliche ­an­-sonsten seinen Alltag vielleicht ziemlich selbstständig meistert und somit keine fünf Lebensbereiche mit besonderen Schwierigkeiten nachweisen kann, kann sich die katastrophalen Folgen leicht ausmalen. Er erhält keine besondere Förderung und Hilfsmittel mehr und bleibt im Zweifelsfall einfach auf der Strecke.

Das pädagogische Konzept der blista besteht seit jeher darin, Fähigkeiten und Selbstständigkeit zu fördern. Dies war in der Vergangenheit äußerst erfolgreich. Jetzt soll sich der Einzelne möglichst hilflos darstellen, als wäre eine massive Seheinschränkung in unserer äußerst visuell dominierten Gesellschaft nicht schon Herausforderung genug. Das kann, wie es Claus Duncker in seinem Editorial bereits betont hat, eigentlich nicht der Wille von verantwortungsbewussten ­Politikerinnen und Politikern in Bund und Ländern sein. Keiner kann ernsthaft Interesse daran haben, dass blinde und sehbehinderten Jugendlichen der Zugang zu qualifizierten Berufen im IT-Bereich, als Juristen oder BWLer praktisch verwehrt oder zumindest massiv erschwert wird und sie wieder, wie vor 100 Jahren, Bürstenbinder oder Korbflechter werden müssen.

Nutzen Sie Ihre Kontakte und schreiben Sie an Ihre Bundes- und Landtagsabgeordnete. Bringen Sie Ihre Sorge um die Zukunft blinder und sehbehinderter Kinder zum Ausdruck. Einen entsprechenden Musterbrief und weitere Informationen, Stellungnahmen und konkrete Vorschläge, wie die entsprechenden Paragrafen im geplanten Bundesteilhabegesetzt abgeändert werden müssen, finden Sie unter www.blista.de/bthg.

Da das Gesetz noch in diesem Herbst verabschiedet werden soll, drängt die Zeit. Helfen Sie mit, dass auch zukünftige Generationen blinder und sehbehinderter Kinder eine echte Chance in Schule und Beruf haben!