Zeitenwende - vom Leben nach der blista

von Lisa Wolf, Abitur 2014

Von der Regelschule an die Förderschule

Bis Juli 2012 besuchte ich die Realschule an meinem Heimatort und machte dort auch den Realschulabschluss. Anschließend wollte ich gerne Abitur machen, wobei mir jedoch klar war, dass das an einer Regelschule für mich nicht zu schaffen wäre. Schon die Realschulzeit war für mich als einzige blinde Schülerin mit enormen Anstrengungen, Frustrationen und oft auch mit Abstrichen verbunden. Trotz regelmäßiger Begleitung durch eine Fachkraft der Förderschule Düsseldorf, die mit mir verschiedene Arbeitstechniken einübte und sowohl mich als auch die Lehrer*innen vor Ort unterstützte, war es doch sehr anstrengend und kräftezehrend. Neben sehr visuell orientierten Unterrichtsmethoden und -materialien sowie logistischen Problemen, wie dem regelmäßigen Raumwechsel mit meinen gesamten Hilfsmitteln, war mir auch die Teilnahme u. a. am Sport- und Kunstunterricht am Ende nicht mehr möglich. Aus diesen Gründen entschloss ich mich, das Abitur an der blista in Marburg zu machen. Dort waren die im Wesentlichen barrierefreien Lernbedingungen nach 10 Jahren Inklusion eine große Entlastung für mich. Positiv habe ich auch die Möglichkeit des  selbstverständlichen Austauschs mit gleichaltrigen blinden und sehbehinderten Schüler*innen sowie die damit verbundenen Freundschaften und Freizeitaktivitäten in Erinnerung behalten. 

Ein Jahr voller praktischer Erfahrungen

Im Juli 2015 hatte ich endlich mein Abiturzeugnis in der Hand, aber noch keine wirkliche Idee, was ich später einmal machen wollte. Während der Schulzeit lag mein Interessenschwerpunkt im sprachlichen Bereich und so dachte ich kurz über ein entsprechendes Studium, wie zum Beispiel der Germanistik, nach. Mehr noch interessierte mich allerdings der soziale Bereich, den ich in der Schulzeit während zweier Hospitationen in einer Frühförderstelle sowie in einer Kindertageseinrichtung kennenlernen durfte. Auch wollte ich nicht nahtlos von der Schule in ein Studium wechseln, sondern zunächst lieber erst mal etwas Praktisches machen. Daraus entstand schließlich die Idee, einen einjährigen Freiwilligendienst in einer sozialen Einrichtung zu absolvieren. Also nahm ich Kontakt zu verschiedenen Trägern von Freiwilligendiensten auf (DRK-Schwesternschaft, Diakonie, Internationaler Bund und Paritätischer Wohlfahrtsverband). Dort traf ich mit meinen Bewerbungen zunächst auf einige Skepsis und Unsicherheit, ob ich als blinde Person den Anforderungen in einer Kita oder einer vergleichbaren Einrichtung überhaupt gewachsen sein würde. Von einigen Trägern habe ich erst gar keine Möglichkeit erhalten, mich in einer ihrer Einrichtungen vorzustellen, während mir andere offen und interessiert begegneten. Kurz: Ich brauchte einen langen Atem und einige Frustrationstoleranz, bis ich schließlich den Bundesfreiwilligendienst in der Evangelischen Kinderkrippe in Marburg-Cappel antreten durfte. Es wurde ein spannendes und interessantes Jahr. Mit vielen der mir dort übertragenen Aufgaben, wie zum Beispiel dem Wickeln oder Füttern von Kindern oder dem Anleiten und Begleiten verschiedener Spiele und Aktivitäten, hatte ich vorher noch nie zu tun, sodass ich neue Erfahrungen sammeln und viel dazulernen konnte. Im Laufe der Zeit wurde ich immer sicherer und wuchs an den Herausforderungen. Gleichzeitig bin ich auch an Grenzen gestoßen, vor allem wenn es darum ging, größere Gruppen von Kindern selbstständig zu beaufsichtigen oder aus der Ferne zu interagieren. Entsprechend wurde mir einiges an Kreativität und Eigeninitiative abverlangt und ich musste immer wieder eigene Ideen entwickeln, wie ich mich im Rahmen meiner Möglichkeiten produktiv in den Krippenalltag einbringen kann. Im Rahmen des Freiwilligendienstes fanden auch Seminartage statt. Gemeinsam mit Freiwilligen aus anderen Einrichtungen bearbeiteten wir unter Anleitung pädagogische Themen und Aufgaben und auch Ausflüge und Selbsterfahrung sowie die gemeinsame Reflexion der Arbeit in den Einrichtungen standen auf dem Programm. Da ich die einzige Nicht-Sehende war, waren auch hier einige Probleme nicht zu vermeiden. So lagen Texte und Materialien meist nur in Papierform vor und Gruppenaufgaben oder -spiele setzten oft ein gutes Sehvermögen voraus. Dennoch habe ich die Erfahrung gemacht, dass ich jederzeit um Hilfe bitten konnte und wir dann gemeinsam nach einer Lösung suchten. Dazu musste ich allerdings aktiv auf die anderen zugehen, mein Problem schildern und Vorschläge machen – denn Erfahrungen mit nicht sehenden Menschen gab es im Unterschied zur blista keine.  

Die Entscheidung für den Freiwilligendienst habe ich nie bereut und würde diese jederzeit wieder treffen. Nach Beendigung des Freiwilligendienstes habe ich noch für einige Zeit in der Kinderkrippe als Aushilfskraft weitergearbeitet, bis die zunehmende Arbeitsbelastung im Studium mir dieses Engagement leider nicht mehr erlaubte.

Von der Krippe an die Uni

Und nun? Wie weiter? Am liebsten wäre ich ja in diesem Bereich in genau dieser Krippe geblieben. Jedoch war mir auch klar, dass der Beruf der Erzieherin aufgrund verschiedener Hürden langfristig keine erfolgsversprechende Alternative für mich darstellte. Dennoch wollte ich später gerne im sozialen Bereich arbeiten - nur eben nicht unbedingt im klassischen Kita-Bereich. Also fragte ich mich, welches Studium zu meinen Stärken und Vorlieben passen könnte. Ich schwankte zwischen Erziehungs- und Bildungswissenschaften und – um damit unter anderem auch das Problem der Aufsichtspflicht zu umgehen – einem Studium der Psychologie. Schließlich schreckte mich das Naturwissenschaftliche sowie die Statistik von letzterem ab. Im Oktober 2016 nahm ich folglich das Studium der Erziehungs- und Bildungswissenschaften in Marburg auf, um so meinen Weg in den pädagogischen Bereich weiter zu verfolgen und meine Möglichkeiten über den Erzieherberuf hinausgehend zu erweitern.

Anfangs war es für mich eine enorme Umstellung, von einer getakteten 39 Stundenwoche in der Kita in einen weitgehend selbstständig zu strukturierenden, wesentlich freieren Studienalltag zu wechseln und mich an der Uni und in meinem neuen Alltag zurechtzufinden. Inhaltlich gefiel mir mein Studium sehr und ich konnte einige Themen, die in den Begleitseminaren im Rahmen meines Freiwilligendienstes angeschnitten wurden, weiter vertiefen. Da ich den größten Teil meiner Schulzeit an einer Regelschule verbracht und dadurch Erfahrung im Umgang mit nicht barrierefreien Materialien sowie mit eigenverantwortlichem Lernen hatte, fiel mir dies nicht allzu schwer. Dennoch sind die Anforderungen an Eigenständigkeit im Studium viel höher und mit mehr Aufwand verbunden als in der Schule.

Ich arbeite mit Laptop und Sprachausgabe sowie mit einer speziellen Software zur Umwandlung von Bilddateien in Textdateien, da die meisten Texte und Materialien aus dem Studium als Bild eingescannt werden und damit nicht ohne Weiteres lesbar sind. Auch habe ich eine Studienassistenz, die mir bei der Beschaffung und Umarbeitung von Literatur, der Formatierung von Hausarbeiten und der Beschreibung von Abbildungen behilflich ist. Es hat eine Weile gedauert, bis ich die für mich richtige Arbeitstechnik gefunden hatte. Vom selbstständigen Einscannen über das Vorlesen von Texten durch meine Studienassistenz bis hin zum Anfertigenlassen von Tonaufnahmen, habe ich verschiedene Alternativen ausprobiert und auch heute noch muss ich immer mal wieder ein bisschen rumprobieren, um die beste Möglichkeit zu finden.

Draufgesattelt

Im 3. Semester kam noch ein Nebenfach hinzu, das ich mir selbst aussuchen konnte. Mir war sofort klar, dass es das Fach Psychologie sein sollte, also fing ich an, dort Vorlesungen zu belegen. Dabei habe ich schnell Feuer gefangen und viel Energie und Lernaufwand, oft sogar mehr als in mein Hauptfach. Bald reifte in mir der Gedanke, es doch – entgegen meiner vorherigen Bedenken – mit Psychologie als Hauptfach zu versuchen. Nach gründlicher Überlegung (Faktor Studienzeit, Abbruch oder Fortführung meines Studiums der Erziehungswissenschaft, Arbeitspensum) begann ich schließlich ab Oktober 2018 neben der Erziehungswissenschaft noch das Fach Psychologie zu studieren.

Und - doch noch im Fachbereich Psychologie gelandet

Wie erwartet erwies sich meine Entscheidung als enorm arbeitsintensiv. Im Vergleich zur Erziehungswissenschaft war der Studiengang Psychologie mit sehr viel mehr Lernaufwand und höheren Anforderungen verbunden, sodass sich mein Studienalltag drastisch änderte. Von einem eher entspannten Leben mit vielen Freiheiten entwickelte ich mich zur Frühaufsteherin mit strikten Lernzeiten. Gerade in der Anfangszeit, in der ich die Veranstaltungen beider Studiengänge stemmen musste, bedeutete dies für mich viel Arbeit und Disziplin, wobei ich manches Mal an meine Grenzen kam. Wie befürchtet musste ich mich natürlich auch mit Statistik sowie mit naturwissenschaftlichen Fächern auseinandersetzen, was mir bis heute nicht immer leichtfällt. Neben den naturwissenschaftlichen Fächern wie biologische Psychologie, Wahrnehmung und Kognition oder Neurowissenschaftliche Psychologie gibt es aber auch Bereiche wie die Sozialpsychologie, Entwicklungspsychologie, Pädagogische Psychologie, Klinische Psychologie und Diagnostik, die mich sehr viel mehr begeistern und für die ich den Lernaufwand – meistens – gerne in Kauf nahm und immer noch nehme.

Natürlich stoße ich als blinde Studentin immer wieder auf Schwierigkeiten. So ist der Umgang mit der Software, die wir benötigen, sehr herausfordernd und oft nicht barrierefrei. In vielen Vorlesungen wird zudem mit Abbildungen gearbeitet, was für mich zusätzlichen Aufwand und Assistenzbedarf zur Folge hat. Wichtig ist nach meiner Erfahrung auch hier, sich nicht zu verstecken, sondern offen und sachlich das Gespräch mit Lehrenden oder anderen Betroffenen zu suchen und die Bereitschaft zu zeigen, sich selbst aktiv einzubringen. Es gibt immer Lösungen und gerade in Marburg trifft man dabei auch immer wieder auf Gleichgesinnte und kann voneinander profitieren. Auch die Lehrenden sind immer bemüht, zu unterstützen und möglich zu machen, was geht, um den Studienalltag zu erleichtern.

Bodenindikatoren im Foyer der Marburger Univeristätsbibliothek.

Und dann kam Corona

Seit März 2020 hat sich nochmal einiges für mich geändert. Vorlesungen und Seminare fanden nur noch als Videokonferenzen statt, die man von zu Hause aus verfolgte, oder es wurden einfach nur Lernmaterialien hochgeladen, die man dann selbstständig bearbeiten sollte. Mein bisheriger Lernort, die Unibibliothek, blieb lange geschlossen, öffnete anschließend nur mit begrenzter Platzanzahl und unter strikten Vorgaben. Dazu kam, dass ein Großteil der Studierenden zurück in ihre Heimatorte ging. Das studentische Leben fand nur noch sehr eingeschränkt statt und fehlte mir sehr. Zwar war ich dankbar, dass ich die Möglichkeit bekam, wenigstens die Prüfungen ablegen zu können, dennoch habe ich nach wie vor mit den geltenden Einschränkungen und Auflagen zu kämpfen und bin wahnsinnig froh, wenn es endlich wieder besser wird. 

Aktueller Stand und weitere Pläne

Mittlerweile stehe ich kurz vor meinem Bachelor in Erziehungs- und Bildungswissenschaft und kann mich somit mehr und mehr auf das Fach Psychologie fokussieren. Meine aktuellen beruflichen Vorstellungen gehen in Richtung Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie oder alternativ Erziehungs- und Familienberatung als Schnittstelle meiner beiden Studienfächer. Beides wäre mit teils sehr teuren Weiterbildungen verbunden. So bin ich weiterhin gespannt, wo mich mein Weg letztlich hinführen wird.