Buchtipps

Auf dem Cover sind Musikinstrumente schwungvoll gezeichnet dargestellt

Winfried Thiessen* | Heute mal keine literarische Hausmannskost, sondern haute cuisine, die die Geschmacksknospen der Feuilletonisten hat jubilieren lassen.

Am Anfang war die Nacht Musik von Alissa Walser – aus dem Jahre 2010

Wien 1777 zu Zeiten von Kaiserin Maria Theresia und Amadeus Mozart. Franz Anton Mesmer, einer der berühmtesten und wohl umstrittensten Wiener Ärzte, führt in seinem Haus „magnetische“ Kuren durch. Mesmer ist der Begründer des animalischen Magnetismus, auch Mesmerismus genannt, einer Therapieform, die bei seinen Patienten durchaus positive Effekte hatte, deren Wissenschaftlichkeit und Wirksamkeit allerdings von seinen Standeskollegen angezweifelt wurden, was wiederum in jener Zeit nicht unbedingt allzu viel bedeuten musste, obwohl sie in Mesmers Fall Recht behalten sollten. Mesmer gelang es nicht, die Wirksamkeit seiner Methode wissenschaftlich zu belegen. Die ersehnte Anerkennung der Ärzteschaft und – was ihn noch mehr wurmte – bei Hofe blieb ihm zeitlebens verwehrt.

Anno 1777 therapierte er die blinde Pianistin Maria Theresia Paradis, Tochter des Hofsekretärs der Kaiserin, mit seiner Magnetismusmethode. Mit einer Heilung seiner berühmtesten Patientin hoffte er endlich den großen Durchbruch zu haben. Er nimmt die blinde Pianistin bei sich auf, trennt sie für einen längeren Zeitraum von ihren Eltern, die sie zu einem Vorführobjekt abgerichtet haben, lässt sie zur Ruhe kommen und tatsächlich erlangte das Fräulein Paradis einen Teil ihrer Sehfähigkeit, die sie im frühen Kindesalter durch ein traumatisches Ereignis verloren hatte, für eine gewisse Zeit wieder. Aber statt Ruhm rief Mesmers Erfolg nur Neider und Skeptiker auf den Plan, die ihn und seine Methode zerlegten – Mesmer blieb bis zu seinem Tode eine tragische Figur. Er hielt unerbittlich an der Theorie der heilenden Wirkung des Magnetismus fest. Heute würde man ihn als eine Art Nervenarzt oder Psychotherapeuten bezeichnen. Er kümmerte sich in seinem Haus, das er zu einer Art Sanatorium ausgebaut hatte, fürsorglich um die Belange seiner Patienten und ging geduldig auf ihre meist psychisch verursachten Beschwerden und Probleme ein.

Alissa Walser konzentriert sich in ihrem Roman auf die Begegnung von Mesmer und der blinden Paradis. Ihr gelingt es gut, die Stimmung des Auf- und Umbruchs in jener Zeit einzufangen, in der die Verwissenschaftlichung des Denkens und das Interesse der Gesellschaft an naturwissenschaftlichen Themen eine ungeahnte Dynamik gewann. Ein gut gelungenes Sittengemälde des ausgehenden 18. Jahrhunderts, einer Zeit des Standesdünkels, in dem sich mystisches und materialistisches Denken immer weiter auseinander entwickelten und ein Arztbesuch auch schon einmal mit Verstümmelung oder dem Tode des Patienten enden konnte.

Der Roman von Alissa Walser diente dem Film Licht, der im Februar 2018 in die deutschen Kinos kam, als Vorlage. Außerdem gibt es zu diesem Thema noch eine ältere englische Filmversion aus dem Jahre 1994 mit Alan Rickmann unter dem Titel: Mesmer.

 

Das Cover zeigt das Gesicht einer jungen Frau, das eine rote Fläche verdeckt

Rot vor Augen von Lina Meruane

Seit ihrer Kindheit lebt Lina mit der Gefahr zu erblinden, aber sie verdrängt das über ihr schwebende Damoklesschwert gekonnt. Anscheinend unbeeindruckt von der bedrohlichen Augenkrankheit geht sie ihren Weg durchs Leben. Augenarzttermine, Klinikaufenthalte und Operationen gehören zwar zu ihren ständigen Begleitern, aber davon lässt sie sich nicht aufhalten. Dann auf einer Party in New York erwischt es die junge Schriftstellerin und Doktorandin dann doch. Eine Netzhautader ist geplatzt, die Augen füllen sich mit Blut. Bald sieht sie die Welt nur noch schemenhaft. Ein Operationstermin wird angesetzt. Um die Zeit bis zur Operation zu überbrücken, will sie – nun fast vollständig blind – mit ihrem Freund zu ihren Eltern in die alte Heimat Chile fahren. Es wird eine Reise des Erinnerns und des Abschiednehmens. Zurück in New York steht die Operation an – und eine Frage drängt sich immer stärker in ihr Leben: Was, wenn die Operation nicht erfolgreich verläuft?

Im Roman von Lina Meruane geht es um das Wechselspiel zwischen Krankheit und Persönlichkeit. Meruane beschreibt, wie ihre Protagonistin Lina entdeckt, dass sich die Augenkrankheit viel tiefer in ihr Lebensgefühl und ihre Persönlichkeit hineingefressen hat, als sie bisher wahrhaben wollte, dass ihre Krankheit das Verhältnis zu ihren Eltern und ihrem Freund tief geprägt hat und dass sich auch aktuell eine ganz neue Dynamik der Veränderung in ihren Beziehungen zu den Menschen ihrer Umgebung vollzieht. Sie merkt, dass ihre Blindheit im Begriff ist, ihre Persönlichkeit zu übernehmen. Lina versucht verzweifelt, sich gegen ihr Schicksal aufzulehnen, will es nicht wahrhaben: ihre Blindheit – unumkehrbar? Unmöglich, das darf und kann nicht sein. Aber wenn doch?

Das Thema: ernst. Die Worte: mit Bedacht gesetzt, schöpferisch und kreativ – gehobene Literatur, die sich nicht als Antwortgeber auf die Fragen des Lebens versteht und zum aktiven Lesen zwingt. Ende offen.

Neuauflage alter Titel, Erscheinungsdatum August 2018

Auge um Auge von Lukas Erler/Thriller, Taschenbuch

Ein erblindeter Kunsthistoriker ermittelt zusammen mit einer feschen Journalistin in einem bizarren Mordfall auf dem Documenta-Gelände in Kassel. Krimi- und Thrillerliebhaber greifen bei Auge in Auge sicher nicht daneben – ausführliche Besprechung blista news 1/2017.

Ich sehe das, was ihr nicht seht – Eine blinde Strafverteidigerin geht ihren Weg von Pamela Pabst und Shirley Michaela Seul ist eine gelungene und anregend zu lesende Biografie. Pabst beschreibt ihre beschwerliche aber erfolgreiche Reise durch Regelschule und Jurastudium – ausführliche Besprechung in blista news 2/2014.

[*Pädagogischer Mitarbeiter im Internat]