Zeitenwende - vom Leben nach der blista

Das Foto zeigt ein stattliches Gebäude, das Schloss Ehrenhof West ist der Sitz des Anglistisches Seminars.

Auch ohne Plan zum Ziel

Eveline Seidel, Abitur 2012

Erst mal studieren

Anders als einige meiner Mitschüler hatte ich nach dem Abitur keine konkreten Vorstellungen oder Wünsche bezüglich meines Berufs. Für mich war damals nur klar, ich wollte studieren und in der Nähe meines Heimatortes Speyer bleiben. Die Universität Mannheim war daher meine erste Wahl – vor allem weil mir die Stadt bereits aus meiner Grundschulzeit bekannt und ans Herz gewachsen war. Praktischere Gründe beinhalteten die erheblichen Einsparungen bei Miete und Lebenshaltungskosten, da ich während meines Studiums zu Hause leben konnte. Witzigerweise brauchte ich oft auch viel weniger Zeit, um zur Uni zu gelangen, als einige meiner in Mannheim lebenden Kommilitonen.

Bei der Wahl meiner Studienfächer orientierte ich mich an meinen Leistungsfächern und bewarb mich bei der Uni Mannheim für den Studiengang Bachelor Kultur und Wirtschaft, mit Anglistik als Kern- und Betriebswirtschaftslehre als Beifach, und wurde angenommen. Nachdem das erste Semester herum war, zog ich eine Zwischenbilanz: Während sich meine Entscheidung für Anglistik als goldrichtig herausgestellt hatte, zeichnete sich bei BWL ein anderes Bild ab. An sich ist BWL ein sehr interessantes Fach; jedoch kam in mir während des Semesters nie die Begeisterung für das Fach auf, die nötig ist, um das (besonders am Anfang) sture Auswendiglernen heil zu überstehen.
Das zweite Semester bestätigte meine Vermutung, dass mir das Studienfach BWL nicht liegt. Also wechselte ich im Beifach zu Germanistik und sattelte auf den Bachelor of Arts um. Diesen Wechsel habe ich nicht ­bereut, da ich mich auch in der Germanistik wie zu Hause fühlte und sich das Fach später als vorteilhaft auf meinen späteren Beruf auswirkte.

Mit Sehbehinderung ins Studium der Literaturwissenschaften

In der Anglistik und Germanistik studiert man anfangs Literaturwissenschaft und ­Linguistik zu gleichen Teilen, mit ein wenig Kulturwissenschaft und Geschichte gewürzt. Später muss man sich für eine Kerndisziplin entscheiden, so wie ich für die Literaturwissenschaft. Das faszinierende an der Literaturwissenschaft ist, dass man nicht einfach ­Bücher lang verstorbener Autoren seziert, sondern sich mit den unterschiedlichsten, oft tagesaktuellen Themen im Kontext der Literatur auseinandersetzt. So gut wie jede meiner Vorlesungen und Seminare im literaturwissenschaftlichen Bereich überschnitt sich an einer oder mehreren Stellen mit anderen Fächern. Manche machten dies sogar explizit zum Programm, wie mein germanistisches Hauptseminar zum Thema „Der Teufel und das Böse“, das Literatur mit Theologie kombinierte und von Studenten beider Studienfächer besucht werden konnte.

Im Laufe des Studiums eignete ich mir neben fachlichem Wissen aber auch die Fähigkeit an, selbstständig zu arbeiten. Man erlernt wichtige Arbeitstechniken zum richtigen Recherchieren, Zeitmanagement, sorgfältigen Schreiben von Texten aller Art und – be­sonders wichtig – Selbstorganisation. Denn anders als in der Schule tragen einem die Professoren an der Uni nichts hinterher. Wer die Hausaufgaben nicht macht und deshalb schlechte Prüfungen schreibt oder Abgabetermine nicht einhält – wer ohne Selbstdisziplin ins Studium geht –, dem wird keine Standpauke gehalten, der fällt durch.

Hinzu kommt: Wer studieren will, muss das Lesen mögen. Nicht nur die Geisteswissenschaften sind äußerst leseintensiv. In BWL verschlingt man ebenfalls mehrere Bücher pro Semester. Wer jedoch trotz Sehbehinderung dazu bereit ist, diese Herausforderung mit Enthusiasmus anzunehmen, dem kann ich ein Studium – egal welches Fach einen begeistert – nur empfehlen.

Allerdings sollte ich hinzufügen, dass ich mit meinem Sehrest von ca. fünf Prozent glücklicherweise noch recht gut sehe und die Bücher meist ohne Lesehilfen bewältigte. Nur bei sehr klein gedruckten Texten und Abbildungen musste ich auf eine handliche kleine Lupe zurückgreifen, und meine Kurzsichtigkeit glich ich in Vorlesungen und ­Seminaren leicht mit Hilfe eines Monokulars aus. Um auf Nummer sicher zu gehen, nahm ich die Veranstaltungen zusätzlich auch mit einem Diktiergerät auf, damit ich mich auf die Vorträge konzentrieren und meine Notizen später ergänzen konnte.

Obwohl das alles etwas einschüchternd ­klingen mag, muss man sich keine Sorgen machen, dass man mit einer Sehbehinderung im Uni-Alltag alleine dasteht. Die erste Anlaufstelle für Behinderte an der Uni ist die Behinderten-Beauftragte. An der Uni Mannheim unterstützte mich Frau Knapp immer freundlich und hilfsbereit bei allem, was ich benötigte. Das stellte sich als wahrer Segen heraus, als die ersten Prüfungen anstanden, und sie mir mit dem Papierkram für die Prüfungsformalien (z. B. Antrag auf Zeitverlängerung und Prüfungslaptop) half.

Besonders bei Prüfungen war richtiges ­Zeitmanagement essentiell – nicht nur fürs Lernen. So sollte man dem Professor nicht erst zwei Tage vor der Prüfung Bescheid geben, dass man einen Laptop mit Drucker für die Prüfung braucht. Besonders bei ­großen Veranstaltungen mit mehreren ­Behinderten musste ein separater Raum oder ein Büro organisiert werden, worin wir die Prüfung in Ruhe schreiben konnten. Im Idealfall wurden die Dozenten sowohl von mir als auch von Frau Knapp über solche Dinge zwei bis drei Wochen vor der Prüfung informiert.

Das ist jedoch nur einer der Gründe, warum man sich als Sehbehinderte weniger Berührungsängste mit Professoren leisten kann als ein nichtbehinderter Student. Da viele der Vorlesungssäle recht groß und nicht alle Dozenten mit der Optimierung der Lesbarkeit von Präsentationsfolien vertraut sind, ist es vorteilhaft, weiter vorne zu sitzen, um alles gut mitzubekommen. Da kam es schon mal vor, dass ich ganz allein in den vordersten Rängen saß, während meine Kommilitonen alle hinten in Deckung gingen. Allerdings machte ich mit den Dozenten ausschließlich gute Erfahrungen, was den Umgang mit meiner Sehbehinderung angeht. Manche merkten von selbst (wahrscheinlich durch den häufigen Gebrauch meines Monokulars und meiner Sitzplatzwahl), dass ich seh­behindert war. Einige sprachen mich sogar früh von sich aus darauf an und fragten, ob ich der Veranstaltung gut folgen könne oder ob sie etwas verbessern könnten. Und auch diejenigen, die nur wenig bis gar keine ­Erfahrung mit behinderten Studenten hatten, waren sehr aufgeschlossen und entgegenkommend, solange man offen auf sie zuging und etwaige Fragen und Probleme rechtzeitig klärte.

Das gleiche galt für die Zusammenarbeit mit meinen Kommilitonen. Selbst wenn ich in einigen Seminaren kein einziges vertrautes Gesicht antraf, begegneten mir die meisten, die auf meine Sehbehinderung aufmerksam wurden, mit Neugier und Hilfsbereitschaft. Oft arrangierten wir uns zu einem Team – jemand machte Fotos von Zeichnungen und Texten an der Tafel, und ich verschickte im Gegenzug Kopien meiner Audio-Aufnahmen.

Durch Selbstanalyse zum Traumberuf

Da ich ohne konkrete Berufswünsche ins ­Studium gegangen war, stellte das Pflichtpraktikum zunächst eine Herausforderung für mich dar, weil ich mich dafür zumindest zeitweise für ein Berufsfeld entscheiden musste. Um einen Eindruck davon zu erhalten, welche Möglichkeiten Absolventen der Geisteswissenschaften offen stehen, besuchte ich einige Veranstaltungen aus der Vortragsreihe „Wohin denn ich?“, die die Uni Mannheim zusammen mit der Studierendeninitiative Artes Liberales e.V. regelmäßig organisiert. Dazu werden Geisteswissenschaftler aus den unterschiedlichsten Branchen eingeladen, von ihrer Arbeit zu erzählen und mit den Studenten zu diskutieren. Leider wurde ich dort jedoch nicht fündig.

Stattdessen besann ich mich auf meine persönlichen Interessen – allem voran meine Liebe zu Büchern und Geschichten. Dank eines Schülerpraktikums wusste ich, dass ich nicht zur Buchverkäuferin taugte. Also durchforstete ich die Verlagsbranche und stieß auf das Berufsbild des Lektors. Danach begann die langwierige Bewerbungsphase: Ich holte Informationen über Verlage in ­meiner Umgebung ein und verschickte meine Bewerbungsschreiben. Auf viele ­Absagen kam dann endlich eine Zusage: Der Wellhöfer Verlag, ein kleiner Verlag für ­regionale Literatur in Mannheim, sicherte mir für das kommende Frühjahr einen ­Praktikumsplatz zu. Sofort beantragte ich bei der Uni ein Urlaubssemester, um mich voll und ganz dem Praktikum zu widmen, das ich Dank dieser freien Zeit später verlängern konnte. Die Arbeit im Lektorat des Verlags, die in erster Linie die Korrektur und Bearbeitung von Autorenmanuskripten beinhaltete, machte mir große Freude. Da ich das ausdauernde und aufmerksame Lesen schon vom Studium gewohnt war, machte mir auch meine Sehbehinderung keine Schwierigkeiten. Ich hatte meinen Traumberuf gefunden!

Nach einigen Monaten war mein Praktikum leider bereits vorbei, und es wurde Zeit, mich wieder auf mein letztes Semester an der Uni und meine Abschlussprüfungen vorzubereiten. Bei einem Abschiedsessen in kleiner Runde erfuhr ich, dass Herr Wellhöfer mich gerade wegen meiner Behinderung als Praktikantin ausgewählt hatte. Da die Augen eines der wichtigsten Werkzeuge eines Lektors sind, war er gespannt gewesen, wie viel Ehrgeiz hinter meiner für eine Sehbehinderte recht ungewöhnlichen Berufswahl ­stecken mochte. Ein klarer Beweis dafür, dass ein offener und selbstbewusster Umgang mit der eigenen Behinderung nicht unbedingt ein Nachteil bei einer Bewerbung sein muss.

Nach dem Studium

Nach meinen Abschlussprüfungen nahm ich sofort alles Amtliche in Angriff: Exmatrikulation beantragt, beim Arbeitsamt gemeldet und bei der Krankenkasse vorbeigeschaut (besonders der letzte Schritt sollte zeitig ­erledigt werden, da bei der Krankenversicherungen wichtige Fristen leicht verschlafen werden können). Der nächste Schritt auf dem Berufsweg eines Lektors ist eigentlich ein Volontariat, weshalb ich wieder nach Verlagen suchte und Bewerbungen verschickte, bisher jedoch ohne Erfolg.

Zeitgleich streckte ich aber auch meine Fühler aus und fragte beim Wellhöfer Verlag an, ob sie eine Aushilfe im Lektorat gebrauchen könnten. Schon nach kurzer Zeit erhielt ich Antwort und konnte nur einen Monat nach Beendigung meines Studiums meine Arbeit als Lektorin aufnehmen. Hier zeigte sich, welchen Wert persönliche Kontakte und Netzwerke für das spätere Berufsleben haben.

Nebenher bereite ich mich auf die Selbstständigkeit als Freiberuflerin vor, was heutzutage die Norm für viele Lektoren darstellt. Immer weniger Verlage stellen Lektoren fest an, und die eigentliche Arbeit am Manuskript wird größtenteils an Freiberufler outgesourct, während Verlagslektoren mehr als Manager agieren.

Persönliches Fazit

Auch wenn man nach dem Abitur keinen perfekt ausgearbeiteten Lebensplan hat, ist das kein Grund zur Panik. Solange man ­flexibel ist, sich die eigenen Schwächen und Stärken bewusst macht, sich in Disziplin und Arbeitseifer übt und gewillt ist, viel Energie und Zeit zu investieren, kann man seinen Weg finden und Berufe ergreifen, die von außen betrachtet für einen Sehbehinderten abwegig erscheinen mögen.