Zeitenwende - vom Leben nach der blista

Skyline von Frankfurt, aufgenommen von einer Brücke über dem Main

Studium Soziale Arbeit

Ikram Alaamri, Fachoberschulabschluss Sozialwesen 2001

Willkommen in Deutschland

Es gibt ja nicht nur ein Leben nach der blista, sondern auch eines davor. Ich kam 1986 im Rahmen der Familienzusammenführung als 10-Jährige nach Deutschland. Geboren wurde ich in Marokko und war von Geburt an blind. Eine Schule habe ich dort nicht besucht, und auch in Deutschland, obwohl hier Schulpflicht herrscht, bin ich zunächst durch alle (Schul)Raster gefallen. Da in den 80er Jahren in Marokko wenige bis keine Hilfen für Menschen mit einer Sehschädigung existierten, haben dies meine Eltern wohl auch für Deutschland vorausgesetzt, und da sich anfangs auch sonst niemand für ihre blinde Tochter zu interessieren schien, verbrachte ich die ersten beiden Jahre in Deutschland zuhause bei meinen Eltern – in sozialer Isolation. Ich verstand ja die fremde Sprache nicht, und lesen und schreiben konnte ich natürlich auch nicht – in keiner Sprache. Erst Anfang 1988 wurde man auf mich aufmerksam und ich wurde im April in der Blinden- und Sehbehinderten-Schule in Friedberg eingeschult – im Alter von fast 12 Jahren. Ich habe mich dort, mit 12 Jahren, wie ein kleines Kindergartenkind gefühlt, weil ich die Lehrer nicht gut verstehen konnte und nicht wusste, was sie genau von mir verlangten. Auch fühlte ich mich recht einsam, weil ich zusammen mit 6- und 7-jährigen Kindern ­unterrichtet wurde und mich nur schwer ­verständigen konnte. Mit älteren Schülern zu spielen, traute ich mich ebenfalls nicht so recht – ich war doch die dumme 12-Jährige aus der ersten Klasse, die nur schlecht ihre Sprache sprach. So blieb ich anfangs auch in der Schule weiter isoliert, doch ich lernte schnell, so dass die Zeit der Isolation bald hinter mir lag.

An meiner Schule in Friedberg gab es für die achten und neunten Klassen eine Art Berufsorientierung. Wir besuchten unter anderem ein Berufsinformationszentrum und mussten während dieser Schuljahre zwei dreiwöchige Praktika absolvieren. In diesem Rahmen erzählten uns die Lehrer auch von der blista und den Möglichkeiten, die wir dort haben. Mir wurde in dieser Zeit klar, dass ich später einmal im sozialen Bereich ­arbeiten wollte, also wechselte ich nach ­meinem Abschluss in Friedberg auf die Carl-Stehl-Schule in Marburg und besuchte dort die Fachoberschule Sozialwesen.

Ein Gebäude der Fachhochschule Frankfurt

Mein Studium in Frankfurt

Nach meinem Fachabitur an der blista 2001 begann ich im Wintersemester des gleichen Jahres in Frankfurt am Main an der Fachhochschule mit dem Studium der Sozialen Arbeit. Meine Motivation für dieses Studium zog ich aus meinen persönlichen Lebenserfahrungen. Ein Höhepunkt meines Studiums war für mich ein Austauschseminar, in dem es u.?a. um Ökotourismus und soziale Arbeit in anderen Ländern ging, damit verbunden waren u.?a. Reisen nach Frankreich und Marokko. Auch wenn dadurch mein Studium zwei Semester länger dauerte, hat es sich ­gelohnt. Es war eine intensive Zeit, reich an Erlebnissen und Erfahrungen.

Zurück zum Studium. Da ich mich in Frankfurt noch nicht auskannte, hieß es vor dem Beginn des ersten Semesters eifrig Wege üben und Mobilitätstraining machen. Ich musste in meiner Heimatstadt Offenbach ­zunächst mit dem Bus ins Zentrum fahren, dann weiter mit der S-Bahn nach Frankfurt. Dort musste ich wieder in einen Bus umsteigen. Ich brauchte für jede Strecke mehr als eine Stunde, das bedeutete für mich, dass die Phase der Konzentration schon lange vor den Vorlesungen und Seminaren begann.

Während meiner Studienzeit war ich dort die einzige blinde Studentin und war anfangs dementsprechend angespannt, zumal auch die Frankfurter FH wenig Erfahrung mit blinden Student/innen hatte. Mir ist dann schnell klar geworden, dass ich offen und aktiv sein musste, wollte ich im Unibetrieb bestehen. Zu Beginn jedes Semesters teilte ich jedem Dozenten mit, dass ich blind bin, und dass ich das Lehrmaterial in digitaler Form benötige, was ganz gut funktioniert hat. Aber nicht nur ich war unsicher, auch die Dozenten waren es. Als ich mich in einem ­Seminar im Grundstudium für eine Haus­arbeit anmelden wollte, fragte mich der ­Dozent doch tatsächlich: „Aber wie soll ich Ihre Hausarbeit lesen? Ich kann ja keine Blindenschrift lesen.“

4 Fahnen mit der Aufschrift „Frankfurt University of applied sciences”
Gebäude des ASTA der FH Frankfurt

Mit den Kommilitonen lief es ganz gut. Was an der Tafel stand, wurde mir ebenso vorgelesen wie Aufgabenstellungen bei Gruppenarbeiten in den Seminaren. Als Hilfsmittel zum Studium hatte ich einen Laptop. Bücher für Hausarbeiten habe ich mit Hilfe einer Kommilitonin in der Bibliothek ausgesucht, dafür habe ich beim Landeswohlfahrtsverband (LMV) Hessen Vorlesegeld beantragt. Zuhause habe ich die Bücher dann eingescannt, was nicht immer problemlos verlief, denn oft hatten meine Vorgänger Markierungen in den Büchern angebracht oder mit Bleistift sich Notizen zwischen den Zeilen gemacht. Meine Vorlesekraft musste dann alles wegradieren, erst dann konnte ich die Bücher richtig einscannen. Gegen Ende meines Studiums habe ich durch Zufall erfahren, dass es einen blindentechnisch ausgerüsteten Arbeitsplatz in der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt geben sollte, den ich dann auch gleich für meine Diplomarbeit genutzt habe.

Mein Anerkennungsjahr als Abschluss meines Studiums absolvierte ich nach meinem Diplom 2007 an der Frankfurter Stiftung für Blinde und Sehbehinderte. Mein Arbeitsschwerpunkt lag auf der Begleitung von sehbehinderten und blinden Migranten in behördlichen Angelegenheiten, sowie deren Beratung und Unterstützung bei der Ausstattung von blindentechnischen Arbeitsplätzen und Hilfsmitteln für das tägliche Leben. Des Weiteren hatte ich die Aufgabe, ihnen bei der Berufsorientierung, Ausbildung und Lebensplanung beratend zur Seite zu stehen. Dieses Anerkennungspraktikum beinhaltete genau das, was ich aufgrund meiner eigenen Erfahrungen schon immer habe machen wollen.

Zeitenwende – nach dem Studium:

Dialog im Dunkeln

Nach meinem Anerkennungsjahr war ich zunächst ein halbes Jahr auf der Suche nach einem Job. Schon während meines Studiums (seit 2005) war ich beim Dialogmuseum in Frankfurt als Aushilfskraft tätig. Dort wurde mir 2009 eine Vollzeitstelle angeboten, und da ich im sozialen Bereich bis zu diesem Zeitpunkt keine Stelle gefunden hatte, habe ich die unbefristete Anstellung angenommen, die von der Bundesarbeitsagentur in Offenbach für drei Jahre bezuschusst wurde. Zu meinen Aufgaben gehörte es, sehende Besuchergruppen durch dunkle Erlebnisräume, die unterschiedliche Alltagssituationen nachempfinden, zu führen. Darüber hinaus habe ich Workshops für größere Gruppen selbst konzipiert und durchgeführt, die tiefere Einblicke in den Umgang blinder Menschen mit Hilfsmitteln und täglichen Herausforderungen gewährten. Anfangs fand ich die Arbeit beim Dialogmuseum interessant, aber nach einigen Jahren fühlte ich mich von meiner Arbeit inhaltlich unterfordert und spürte oft eine körperliche Erschöpfung, denn gerade in den Wintermonaten lebte ich fast ausschließlich im Dunklen. Ich fuhr im Dunkeln zur Arbeit, arbeitete oft in völliger Dunkelheit und fuhr im Dunkeln wieder nach Hause. Und es fiel mir auch zunehmend schwer, immer wieder Fragen über Blindheit und Blinde zu beantworten.

Mein Ziel war es, mich als Sozialarbeiterin in meinem Berufsfeld weiterzuentwickeln, deshalb habe ich mich immer wieder im ­sozialen Bereich beworben – leider lange Zeit ergebnislos. Ich wurde aufgrund mangelnder beruflicher Erfahrungen – so hieß es immer wieder – nicht genommen.

Auf zu neuen Ufern?

Im Oktober 2015 hatte ich mich wieder bei zwei Einrichtungen im Raum Offenbach beworben und bekam zwei Zusagen. Ich habe mich für das kommunale Jobcenter der Stadt Offenbach entschieden, da es näher zu meiner Wohnung lag. Also kündigte ich meinen unbefristeten Vertrag beim Dialogmuseum zum 31. Januar 2016 und trat meine neue Stelle am 1. Februar an. Dort sollte ich für die Arbeitsvermittlung von Hartz IV-Beziehern zuständig sein. Bisher hatte ich mich immer in einem förderlichen Umfeld bewegt. Jetzt machte ich erstmals die Bekanntschaft mit den Härten einer anderen Arbeitswelt. Der erste Wermutstropfen war, dass zu meinem Einstieg mein blindentechnischer Arbeitsplatz noch nicht eingerichtet war. Meine ­Arbeitsplatzausstattung habe ich erst Mitte März bekommen. Eine adäquate Unterstützung seitens des Jobcenters zur Einarbeitung in die interne Software bekam ich nicht. Mein Bruder, der auch blind ist und ebenfalls in der Agentur arbeitete, half mir freundlicherweise bei der Einarbeitung. Im April habe ich meine ersten Kunden ins Jobcenter eingeladen. Zuvor hatte ich bei meinen Kollegen hospitiert und natürlich hatte ich auch eine Mentorin, die mich unterstützte. Es hieß also „learning by doing“, da ich ja bisher noch keine Schulung für meinen Aufgabenbereich erhalten hatte. Die für mich relevanten Gesetzestexte habe ich mir in meiner Freizeit eigenständig erarbeitet. Doch am 6. Juni 2016 teilte mir meine Teamleiterin mit, dass mein Vertrag über die Probezeit nicht verlängert werden wird, und dass meine Kündigung schon bei der Stadt läge. Einen Monat vor dem Ende meiner sechsmonatigen Probezeit, die im Grunde mangels ­technischer Ausrüstung und unzureichender Einarbeitung für mich noch gar nicht richtig begonnen hatte, war schon über meine Zukunft entschieden worden. Ich wurde zum 1. Juli bis zum Ende meiner Probezeit freigestellt. Inzwischen habe ich gehört, dass die Abteilung, in der ich kurze Zeit gearbeitet hatte, aufgelöst wurde.

Und wie weiter?

Das ist wirklich eine gute Frage. Ich werde natürlich alles dafür tun, in absehbarer Zeit eine berufliche Tätigkeit aufnehmen zu können, die meiner Qualifikation entspricht. An einem Job hängt bekanntlich so einiges im Leben. Erwerbsarbeit gibt dir einen Wert, einen Platz in der Gesellschaft, sie entscheidet wie und wo du wohnst, was du hast und wer du bist und auch wie du dich im Leben verwirklichen kannst. Für mich ist das der ­Bereich der Sozialen Arbeit, das Gefühl andere Menschen bei der Bewältigung ihrer ­Lebensaufgaben unterstützen zu können.

Fotos: Daniela Junge