Buchtipps

Auf dem Cover sind Kekse, Schokolade, eine Vinyl-Schallblatte und betende Hände abgebildet

Glaube, Gaumenfreuden und Musik – Sylvia Lenz

Winfried Thiessen* | In ihrer kurzen Autobiografie (90 Seiten) nimmt uns Sylvia Lenz (Jahrgang 1970, geburtsblind), aufgewachsen in einem winzigen Dorf in Rheinland-Pfalz, zunächst mit auf die Reise durch die Stationen ihrer schulischen und universitären Ausbildung: die Blinden- und Sehbehindertenschule in Neuwied, die blista in Marburg, nebst Praktika und Klassenfahrten und ihre Studienzeit in Mainz. Anschließend berichtet sie ausführlich über ihre diversen Versuche, beruflich Fuß zu fassen. Immer wieder trifft Sylvia Lenz dabei auf unerwartete Hindernisse – aber zuweilen ist auch einfach etwas Pech mit im Spiel. Dazu gesellen sich im Laufe ihres Lebens kleinere und größere Verletzungen der Psyche, angefangen damit, dass die Eltern, die ihr blindes Kind im Kindergarten anmelden wollten, dort zu hören bekamen, sie sollten ihre blinde Tochter doch besser in eine Einrichtung für geistig Behinderte schicken. Kurz: der berufliche Durchstart misslingt. Eindrücklich schildert Sylvia Lenz die Höhen und Tiefen ihres Lebens und wie sie immer wieder Kraft im Glauben findet. Hinfallen, sich wieder aufrappeln und weitergehen – der Glaube als Pflaster für die geschundenen Knie. Das Buch soll Menschen in schwierigen Lebens­situationen Mut machen. Sylvie Lenz betreibt keine Nabelschau und gerade dadurch bekommt der Leser einen Eindruck davon, wie anstrengend so ein Leben als blinder Mensch sein kann, und dennoch schafft sie es, sich trotzdem immer wieder irgendwie durchzubeißen. Das Büchlein ist eher etwas für Einsteiger in die Thematik Alltagsbewältigung und Freizeitgestaltung blinder Menschen.

Das Buchcover zeigt den Titel in weißer Schrift auf violettem Grund

ICH SEH, ICH SEH, WAS DU NICHT SIEHST. Denn ich bin blind. – Constanze Hill

Frühchen, Brutkasten, Netzhautablösung, von Geburt an blind, erste blinde Schülerin an einem österreichischen Gymnasium, zweimal verheiratet, zweimal geschieden, zwei Kinder und drei Jobs, moderiert seit 20 Jahren Radiosendungen zum Thema Liebe und Beziehungen – sehr zu empfehlen ist übrigens ihr erstes Buch: Love on air. Constanze Hill wohnt in Linz/ Österreich und dort führt sie trotz oder gerade wegen ihrer Blindheit ein bewegtes und erfülltes Leben. Im Gegensatz zu Sylvia Lenz hatte Constanze Hill das Glück, dass ein inspirierender familiärer Background sie mit vielen Ressourcen ausstattete, die später dann die Grundlagen für einen erfolg- und abwechslungsreichen (beruflichen) Lebensweg bildeten.

Während in Love on air Constanze Hills Radiosendungen im Mittelpunkt standen, stehen in diesem Buch Fragen der Alltagsbewältigung einer blinden Frau im Vordergrund, die zugleich Geliebte, Partnerin, Geschäftsfrau, Moderatorin und Mutter ist. Freizeit, Beziehungen, Kinder, Erziehung, Sport … über alles gibt Constanze Hill Auskunft, auch eine Prise Lebensphilosophie fehlt nicht.

Natürlich überlässt Constanze Hill – als öffentliche Person – das Gelingen ihres Buches nicht dem Zufall. Unterstützung holte sie sich durch die „Ghostwriterin“ Maria-Christine Leitgeb. Die autobiografische Erzählung wird immer wieder durch Stellungnahmen von Freunden, Weggefährten, Partnern oder Eltern, die das Bild dieser agilen, selbstbewussten Frau vervollständigen, unterbrochen. Professionell aufgebaut und geschrieben entsteht so beim Leser das Bild einer leidenschaftlichen Powerfrau, die trotz oder gerade wegen ihrer Behinderung ein erfülltes, eigenständiges und aufregendes Leben führt.

Das Cover stellt den Eingang zum imposanten Schloss dar

Hanover’s Blind – Kia Kahawa

Dann hätten wir da noch eine junge Schriftstellerin mit einem flott geschriebenen Jugendroman. Adam ist hochgradig sehbehindert, wohl so Anfang 20 und lebte bis vor kurzem bei seinem geschiedenen Vater in Cambridge und studierte das von ihm ungeliebte Fach BWL. Aber nun hat er sein Studium abgebrochen, das wohlbehütete familiäre Umfeld verlassen und ist auf der Suche nach Verselbständigung in seiner Traumstadt Hannover gezogen (richtig gelesen: Hannover). Dort kommt er zunächst bei seiner arbeitslosen Tante unter. Bei ihr kann er aber nicht lange bleiben, denn das Jobcenter wittert eine Bedarfsgemeinschaft. Auf der Suche nach einer Bleibe trifft er auf zwei nette Studentinnen, die in ihrer Wohngemeinschaft gerade ein Zimmer zur Zwischenmiete frei haben. Da Adam nicht als Behinderter behandelt werden möchte und weil er denkt, dass seine Chance, das WG-Zimmer zu bekommen, sich verschlechtern würde, wenn er sich als Blindfisch outet, macht er einen auf sehend – und bekommt die Unterkunft. Wenig später trifft er in einem Café auf einen jungen Kellner, in den er sich sofort verliebt und dieser erwidert seine Zuneigung. Auch ihm versucht Adam etwas vorzumachen. Dass das natürlich nicht lange gut gehen kann, können wir uns ja denken. Nicht nur Adam ist hier auf der Suche nach dem richtigen Platz im Leben, aber was für Sehende schon nicht einfach ist, stellt sich für den sehbehinderten jungen Mann dann doch noch etwas komplizierter dar. Behinderung, Partnerschaft, die erste eigene Wohnung, Brot-Job oder Beruf(ung) – viele Themen, die zum Erwachsen werden dazugehören, werden von Kia Kahawa angeschnitten.

Stil, Sprache und Thema passen zum Alter der Autorin (Jahrgang 1993). Hier schreibt kein reifer Autor, der versucht, die Jugendperspektive einzunehmen, und seinen Protagonisten Gedankengebäude mit auf den Weg gibt, bei denen mancher Leser denken mag: „Hola, dieser 17-Jährige ist ja schon ein ganz reflektiertes Bürschlein, was der sich für wohl sortierte, komplexe Gedanken über die Welt macht und wie der sich so gut auszudrücken versteht, der wird mal ein ganz großer Philosoph!“ Nein, Gedanken und Sprache sind jung. Die Zielgruppe des Buches sind Teens des letzten und Twens des ersten Quartals, eben junge Menschen, die glauben, dass das Abenteuer Leben nicht unbedingt in einem öden Job enden muss, sondern dass man es schaffen kann, sein Ding irgendwie durchzuziehen – dieses Buch wird sie darin bestärken.

In verschneiter Landschaft hängt ein Mann an einem Seil, ein rotes signet lautet Schweizer Bestseller

Der Blindgänger – Das gewagte Leben des Steven Mack – von Niels Walter

„Freiheit bedeutete für ihn: Leben wie ein wildes Tier. Nichts besitzen. Nichts haben außer sich selbst, seine Instinkte, seine Kraft, sein Selbstvertrauen. Leben, um zu überleben. Draußen in der Natur. Manchmal wünschte er sich, ein wildes Tier zu sein.“

28. Mai 2006. Steven Mack, gerade einmal 20 Jahre alt, ist mit Kollegen unterwegs zur Ganterbrücke, der höchsten Brücke der Schweiz. Der Plan: Brückenspringen. Steven ist ein Pendelspringer und Adrenalinjunkie, stets auf der Suche nach neuen Grenzerfahrungen. An diesem Tag im Mai reißt jedoch das Halteseil. 150 Meter freier Fall. Eine Lärche bremst den Sturz. Steven schlägt auf dem Blechdach einer Hütte auf. Sein Schädel ist zertrümmert, aber ansonsten trägt sein Körper vom Sturz nur leichtere Blessuren davon. Als er Tage später in einer Klinik aufwacht, ist er blind. Natürlich gibt er die Hoffnung nicht auf, wieder sehend zu werden, macht dutzende Therapien aller Art, um seine Sehfähigkeit wiederzuerlangen. Bis es soweit ist, nimmt er seine Blindheit als Herausforderung, testet die Grenzen aus, die sein geschundener Körper und das fehlende Augenlicht ihm setzen wollen. Nur ganz langsam reift bei ihm die Einsicht, dass er sein altes Leben nicht mehr zurückbekommen wird. Bald schon tingelt er durch Talkshows, schwärmt von seinem riskanten Lebensstil, verteidigt ihn gegen Kritik und erzählt dem staunenden Publikum vom Abenteuer Leben ohne Augenlicht.

Die Originalausgabe aus dem Jahr 2011 endet vier Jahre nach dem Unfall mit einem scheinbar optimistisch in die Zukunft schauenden jungen Mann, ein Mut machendes Vorbild für verzweifelte, vom Schicksal gezeichnete Menschen. Obwohl der Autor in einem sachlichen, nicht wertenden Stil über das Leben von Steven Mack schreibt, umweht unseren jungen Protagonisten trotz allem eine gewisse heroische Aura. Man fiebert mit ihm mit, bewundert ihn wegen oder trotz der Dinge, die er so anstellt, und zollt Anerkennung und Respekt ob seines aktiven und annehmenden Umgangs mit seiner Behinderung. Die leisen Zwischentöne in dem Buch überfliegt man dabei allzu gerne – so fasziniert ist man von dem blinden Kerl, der aus seinem Leben einen steten Event zu machen weiß.

Die im Februar erschienene Neuauflage des Buches von 2011 wurde nun um ein Interview erweitert, das der Autor Nils Walter sieben Jahre später mit Steven Mack geführt hat. Es sind nur wenige Seiten, aber sie reichen, um den Blick auf das Gesamtkunstwerk Steven Mack zu schärfen. Aus einer Biografie wird das Psychogramm eines jungen Mannes, dem es aufgrund seiner Persönlichkeitsstruktur mehr als schwer fällt, seinen Platz in der Gesellschaft zu finden. Er ist ein Getriebener, der schon als Sehender immer mit vollem Körpereinsatz auf der Suche nach dem Sinn des Lebens war und jetzt als Blinder immer noch nach Antworten sucht. Nils Walter ist ein wirklich gutes Buch gelungen, das zum Nachdenken anregt. Was bleibt, ist aber auf jeden Fall die Erkenntnis, dass der Verlust des Augenlichts selbst den Stärksten aus der Bahn wirft und man sich mit den Mitteln, die man hat, neu erfinden muss. Das zu wissen, kann für Betroffene, die mit ihrem Schicksal hadern, auch entlastend sein. Und der Sinn des Lebens? Steven Mack ist wohl immer noch auf der Suche. „Sie hatten auch schon in eisiger Kälte auf dem Gipfel eines Viertausenders geschlafen, waren in zugefrorenen Seen unter der Eisdecke hindurchgetaucht. In solchen Momenten fühlte er sich unsterblich … Angst kannte er nicht.“ Ein Buch, das man gelesen haben sollte!

Als Taschenbuch wieder aufgelegt: Ein Actionthriller und ein Psychothriller

Im Dezember erschien Blinder Instinkt von Andreas Winkelmann – ein Psychopath entführt ein blindes Mädchen, um es zu quälen: ein Thriller mit einem Wohlfühlende.

Im Februar ist der zweite Band von Andreas Pflügers Actionthrillertriologie Niemals um die blinde Polizistin Jenny Aaron als Taschenbuch erschienen – Thrillerfans sollten nicht zögern, die ersten beiden Bände zu erwerben und sie auch zu lesen – Teil 3 wird hoffentlich bald erscheinen.
[* Pädagogischer Mitarbeiter im Internat]