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Eine Weihnachtskarte mit bunt geschmücktem Tannenbaum und Schnee. Darauf die Aufschrift: Jede Tanne hat einen Traum: Einmal werd ich Weihnachtsbaum. Frohes Fest!

Heute: von Stars, Sternchen – und dem guten Hirten 

Winfried Thiessen | Es war einmal an einem kühlen Frühlingsmorgen auf einer großen Waldlichtung. Flinke Hände steckten seit den frühen Morgenstunden Setzling an Setzling in den feuchten Boden der Schonung. Erst wenn es wieder dämmerte, würde das mühevolle Tagewerk beendet sein und die fleißigen Waldarbeiterinnen würden für die Nacht wieder in ihre Unterkunft für Saisonarbeiterinnen in einem Industriegebiet gebracht werden. 

Die Lage der Schonung, direkt an einem beliebten Wanderweg, sorgte schon bald für reichlich Abwechslung und Aufregung unter den neu gepflanzten Waldbewohnern. Tagein, tagaus marschierten Wandersleut` an den in Reih und Glied stehenden Tännchen vorbei und wurden dabei von ihnen interessiert beäugt. Ganz besonders hatten es den Frischlingen die vorbei schlendernden Familien angetan. Die grünen Winzlinge spitzten jedes Mal ihre Öhrchen, damit ihnen keine der zauberhaften Geschichten entging, die die Väter und Mütter ihren Sprösslingen von den prachtvollen Weihnachtsbäumen in ihrer Kindheit zu erzählen wussten, sobald sie der kleinen stacheligen Kerlchen in der Schonung gewahr wurden. Wie Nährstoffe sogen die kleinen grünen Männchen diese Schwärmereien auf und bald stand bei ihnen allen fest: ein Christbaum und nichts anderes wollte ein jeder von ihnen werden. Auch unser kleiner Weihnachtsbaumanwärter, ganz hinten in der vorletzten Reihe, wünschte sich nichts sehnlicher. Aber so sehr er sich fortan auch bemühte – und das tat er wirklich – so wuchsen doch alle anderen Anwärter viel schneller als er und schon bald nahmen sie ihm das Licht der Sonne. Um auch etwas von ihren energiereichen Strahlen zu erheischen, musste das Bäumchen sein Köpfchen bald nach links biegen, dann es wieder nach rechts wenden, immer dahin, wo die anderen ihm noch etwas Platz gelassen hatten – das kleine Kerlchen wuchs heran, aber es wurde krumm und verdreht. Und es fragte sich jeden Tag, was es denn falsch mache, aber eine Antwort darauf fand es nie. Das Bäumchen konnte ja nicht ahnen, dass die tüchtigen Pflanzerinnen gerade bei ihm den Torf vergessen hatten. 

Frühling, Sommer, Herbst und Winter kamen und gingen, bis eines Tages zwei kräftige Burschen mit Motorsägen im Wald erschienen. Das Bäumchen spürte, dass nun der lang herbeigesehnte Augenblick gekommen sein musste. Die beiden Waldarbeiter begannen auch sofort mit ihrer Arbeit. Die Säge kappte ein Tännchen nach dem anderen. Die Reihen der Bäumchen lichteten sich, und die Aufregung bei den noch verbliebenen wurde immer größer. „Den lass stehen! Der ist schief und krumm!“ Unser kleines Tännchen schaute sich um und musste zu seinem Entsetzen feststellen, dass der Waldarbeiter wohl es gemeint haben musste. Panisch rief es nach seinem Freund dem Wind und bat ihn kräftig zu pusten. Und siehe da, mit seiner Hilfe plusterte sich der kleine Mann auf und wirkte nun größer und buschiger als je zuvor. Bereits im Gehen drehte sich der Waldarbeiter noch einmal um, zögerte, schaute ungläubig, zuckte verwundert mit seinen breiten Schultern, dann nahm er einen Spaten und buddelte das Bäumchen für die Bioabteilung des Weihnachtsmarktes samt Wurzeln aus. War unser Weihnachtsbaumanwärter vielleicht erleichtert, als auch er zu den anderen auf den Transporter geworfen wurde, der sie zum Christkindlmarkt in die Stadt bringen sollte. 

Zu weihnachtlichen Melodien drehten lachende Kinder auf bunten Holzpferdchen eifrig winkend ihre Runden und bettelten, kaum dem Rösslein entstiegen, um eine weitere Fahrt auf dem Karussell. Währenddessen flanierten Väter mit kennerhaftem Blick durch die langen Reihen der zum Verkauf angebotenen Weihnachtsbäumchen, nahmen immer wieder Maß und diskutierten anschließend ausgiebig mit dem Händler, um kurz darauf ihre grüne Trophäe am Glühweinstand von anderen Vätern bewundern zu lassen. Jedes Mal, wenn einer von ihnen auf unser Bäumchen zuging, hüpfte sein Herzchen erwartungsvoll, und es rief so laut es konnte: “Nimm mich, nimm mich mit!“ Wehmütig musste es mit ansehen, wie seine Brüder einer nach dem anderen entschwanden und ein neues Zuhause bekamen.

Und so wurde es von Tag zu Tag immer verzagter und das „Nimm mich mit!“ wurde immer leiser. Die Adventstage verstrichen und der Christkindlmarkt schloss seine Tore. Der Budenzauber wurde abgebaut, man verabschiedete sich voneinander, versprach sich ein Wiedersehen und wünschte sich gegenseitig schöne Feiertage. Ganz hinten in einer dunklen Ecke, am Rande des Marktes, achtlos an einen Maschendrahtzaun gelehnt, stand mutterseelenallein ein kleines Weihnachtsbäumchen in seinem Plastikkübel und schluchzte herzzerreißend in die Dunkelheit hinein - als plötzlich zwei Hände nach ihm griffen. Es schöpfte kurz neue Hoffnung. Doch es war nur der alte Verkäufer. Er schleifte das Bäumchen unsanft durch den Matsch zur Feuertonne, dort setzte er entschlossen die Säge an und - „Halt, für fünf Euro nehme ich ihn mit!“ Ganz gegen seine Gewohnheit hatte Herr W in diesem Jahr den Weihnachtsmarkt besucht. Ganz gegen seine Gewohnheit hatte er zwei Pötte von dem Kopfschmerz-Glühwein getrunken. Ganz gegen seine Gewohnheit hatte er einen Umweg, vorbei an dem Gatter mit den Weihnachtsbäumchen, gemacht, nur für den Fall, dass sich der Glühwein dafür entschieden hätte, die Anwesenheit in seinem Körper nicht akzeptieren zu wollen. Der alte Verkäufer schaute ihn skeptisch an. „Fünf Euro? Und verkauft! Das Bäumchen geht für fünf Euro an den Herrn mit der Glühweinfahne!“ Er schüttelte den Kopf. „Teuer bezahltes Feuerholz!“ Warum Herr W das Weihnachtsbäumchen erstanden hatte, um es mitsamt dem Kübel in den Garten seiner Wohngruppe zu schleppen? Nun, es war Weihnachtszeit und eine innere Stimme musste es ihm wohl zugeflüstert haben. Vielleicht war es auch einfach nur eine Schnapsidee von ihm gewesen, denn der Erzähler hat aus Jugendschutzgründen verschwiegen, dass Herr W seinen Glühwein mit Schuss konsumiert hatte. Was auch immer, dieses Bäumchen hatte Potenzial, dafür hatte Herr W einen Blick. 

Herr Ws kräftige Arme trugen das grüne Gewerk durch die Gassen der Stadt. Das Bäumchen schwebte, mit seinen Zweigen wippend, wie schwerelos über dem Boden. Noch nie hatte es sich dem Himmel so nah gefühlt wie in diesem Augenblick – als hätten es Engelein in einen silbernen Mantel aus Lametta gehüllt und mit überirdisch schön funkelten güldenen Christbaumkugeln behängt, so fühlte es sich in diesem Moment - für alle Ewigkeit würde es mit seinem schmucken Kleid die Menschen erfreuen können. 

„Ich hol dann mal den Spaten, Kleiner! Lauf nicht weg! Dahinten im Garten ist ein schöner Platz für dich!“ Die Träume des Tännchens zerplatzen jäh wie zu Boden fallende Christbaumkugel. Nie, nie, niemals würde es der Mittelpunkt eines wunderbaren Familienfestes sein dürfen, dass spürte es jetzt ganz deutlich. Und wir ahnen schon, wem das Tännchen in seiner Verzweiflung die Schuld dafür gab. Hätte der kleine Wicht es vermocht, er hätte seinem Leben sofort ein Ende gesetzt, aber Herr W hatte ihn bereits tief eingegraben. 

„Hey, was machst du denn da unten?!“ Herr W blickte zum Küchenfenster seiner Wohngruppe im 2. Stock. „Na, nach was sieht das denn aus, werte Kollegin? Habe den Kümmerling aus einer Laune heraus auf dem Weihnachtsmarkt erstanden – hier neben dem Zaun wird er die meiste Sonne abbekommen!“ „Das ist doch ein Weihnachtsbäumchen, oder täusche ich mich da?“ „Jap. Aber schau ihn dir doch mal an – es kann eben nicht jeder ein Christbaum werden – aus dem mach´ ich was Solides. Der hat andere Qualitäten! Was der braucht ist Zeit und Pflege!“ Das Bäumchen mochte den groben Kerl mit dem Spaten gar nicht leiden, es wollte einfach nur so sein wie seine Brüder, geschmückt im Weihnachtsrampenlicht stehen und nicht in diesem Garten enden.

Ein entsorgter Weihnachtsbaum liegt auf der Straße vor Müllcontainern.

Einige Wochen später, im Januar, das Tännchen war gerade so groß, dass es über die Hecke des Nachbarsgarten lugen konnte, erspähte es einen Mann, der nur mit einer Jogginghose und einem Unterhemd bekleidet einen seiner Brüder ruppig aus einem der Häuser über die Straße zerrte und ihn achtlos in den Graben warf. In den nächsten Tagen sollten Brüderchen auf Brüderchen folgen. Stumm lagen sie nun da und rührten sich nicht. Dann fuhr ein großer Lastwagen mit der Aufschrift „Entsorgung“ durch die Straße. Junge Männer wuchteten die schlaffen Bäumchen auf die Ladefläche des LKWs. 
„Hey, komm mal her, wenn man unser neues Wohngruppenmitglied aus der Nähe betrachtet, sieht es fast so aus, als würde es wie Espenlaub zittern!“ „Das ist der Wind, der Wind, das himmlische Kind! Hast du eigentlich den Vermieter über deine Pflanzaktion informiert?“ seine Kollegin schaute Herrn W mahnend an. „Wieso? Kriegt er doch gar nicht mit, der Baum ist doch noch so winzig. - Hey, da hinten holen gerade die Streetworker von der Stadt die Weihnachtsbäume ab! Scheint nach dem rauschenden Fest eine ziemliche Katerstimmung unter ihnen zu herrschen! Ich denke, dass bei denen eine Reintegration in die Gesellschaft wohl nicht mehr möglich ist. Tja, das ist eben der Preis, den man für ein rauschendes Leben zu zahlen hat. Verbrennen oder kompostieren - was für ein tragisches Schicksal! Ich sach nur: Augen auf beim Berufswunsch! Und jetzt schau dir unseren kleinen Mann mal an! Das wird einmal ein kerniger Baum werden, du wirst sehen! Wir werden irgendwann einmal unter ihm im Garten sitzen und er wird uns Schatten spenden, an einem Ast wird eine Schaukel hängen und die Eichhörnchen werden ihre Freude an ihm haben – und wenn wir schon lange nicht mehr sind, dann wird er immer noch dort stehen.“ Und ihr werdet es nicht glauben, in diesem Moment durchströmte das Bäumchen eine tiefe, tiefe Dankbarkeit, denn niemand hatte ihm bisher erzählt, wie die Weihnachtsgeschichte wirklich endet. „Guck ihn dir nur an, irgendwie glaube ich, dass der kleine Kerl mir dankbar zu sein scheint! Er wippt so fröhlich hin und her!“ „Jetzt hör mal auf, dir hat man doch ins Gehirn geschissen!“ 

Und die Jahre zogen ins Land. Herr W ergraute langsam. Jedes Mal, wenn er auf seinem Stammplatz am Küchen-fenster saß, seinen Cappuccino genoss und hinunter in den Garten seiner Wohngruppe schaute, war das Bäumchen schon wieder ein Stückchen gewachsen, reichte bald zum Fenster und darüber hinaus. Seine markante Form war schon von weitem sichtbar. Keine Tanne in den Nachbarsgärten konnte ihm das Wasser reichen. Herr W war wirklich stolz auf seinen Prachtkerl. 

Jooh, liebe Kinder, das war's! Mehr könnt ihr doch von einer Weihnachtsgeschichte nicht erwarten, oder?!

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