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Heute: von Typen und Prototypen

von Winfrid Thiessen

…vorgestern, gestern, heute, morgen, übermorgen… 

Herr W stand geschniegelt und gestriegelt mit Sack und Pack in der Küchentür seiner Wohngruppe. Er blickte lächelnd zu seinen zwei Schützlingen am Frühstückstisch – na ja, wenn man den Tisch um kurz nach 12 am Sonntag überhaupt noch so nennen durfte. „Tschau, bis morgen! Kollege Manfred wird hier sicher bald aufschlagen. Ich muss heute mal früher los - die Bahn, wie immer. Baustelle, diesmal in Gießen. Dauert wieder mal länger und ich muss auch noch umsteigen.“ „Wir kommen klar.“ „Macht keinen Unsinn!“ „Verschwinde endlich! Du kennst uns doch.“ „Ja, gerade deshalb. Also, macht nichts, was ich nicht auch machen würde!“ Sie hörten, wie die Wohnungstür ins Schloss fiel. Herr W war entschwunden.

„Der arme Kerl! Immer die gleichen Sprüche.“ Die junge Dame wedelte mit dem Brötchen, als wolle sie ihm hinterher winken. „Jeden zweiten Tag von Frankfurt hier her. Und zuhause soll er ja auch von fester Hand regiert werden. Einkaufen, Putzen, Kochen, Abwaschen – erzählt er doch immer.“ „Das nennt man dann ja wohl ´vom Regen in die Traufe kommen`. Aber ich kann´s schon fast nicht mehr hören.“ „Den Job hier macht der schon seit über 30 Jahren. Ich frag mich oft: wird dem das nie langweilig? Da stumpft man doch ab – muss doch, oder? Aber dem scheint das wenig auszumachen – macht seinen Dienst hier wie eine Maschine – kommt, geht, kommt wieder … Wenn mich das Schicksal so strafen würde ... Gib mal bitte die Schokocreme* rüber (*hier könnte Ihre Werbung stehen). Einfach unmenschlich, das.“ „Du sagst es. Das ist doch kein Leben. Ich will jedenfalls nicht so ein Erziehungszombie werden – und mal was Kreatives und Abwechslungsreiches machen.“ „Vielleicht erzählt er deshalb immer so viel von früher … wiederholt sich dauernd – wie ein Band, das er runterspult - weil es passiert ja nichts in seinem Leben – und reden tut er nun mal gerne. Zuhören ist nicht so seine Stärke. Immer die gleichen Geschichten, gibt sich nicht mal die Mühe, sie etwas abzuwandeln. Er könnte uns doch sonst was erzählen.“ „Aber er ist schon o.k.“ „Klar doch, putzt und räumt hinter uns her, geht einkaufen, beim Abwasch ist er sehr effizient - der helle Wahnsinn, der ist schon in Ordnung.“

„Das könnten wir doch auch, aber er lässt sich nicht davon abbringen und ich will ja auch nicht aufdringlich werden. Aber er ist da völlig unflexibel – der Trott hat sich eingebrannt, kommt nicht mehr aus seiner Spur.“  „Und so mit seinen Turnschuhen, Jeans, T-Shirt, Kapuzenpulli – da hängen ja ältere Gruppenfotos im Flur – ich mein´, so richtig kann ich da ja auch nichts darauf erkennen, aber sieht so aus, als hätte er keine anderen Klamotten, fast schon wie seine Uniform – aber das Zeug kommt ja nie aus der Mode, kann man immer tragen – sagt er.“ „Seine Frau kümmert sich anscheinend auch nicht darum – da fragt man sich: warum hat der überhaupt geheiratet? Ich mein´, wenn dann doch niemand auf ihn achtet.“ „Hast du seine Frau schon mal gesehen?“ „Wie denn? Herr W lebt mit ihr in Frankfurt.“ „Im Grunde kennen wir ihn gar nicht. Er kommt, geht und funktioniert. Das freut bestimmt seinen Chef.“ „Na ja, wir profitieren doch auch irgendwie von ihm.“ „Irgendwie schon, du hast recht.“

Winfried Thiessen, ein Mann mittleren Alters mit graumeliertem Pferdeschwanz in Jeans, T-Shirt, Turnschuhen und dunkler Jacke, steigt eine schmale Dachbodentreppe hoch.

Seniorenresidenz Himmelsnah

„Auf deinen 90., lieber Karl!“ „Äh, wer sind Sie denn, wenn ich fragen darf?“
„Georg! ... Georg, dein alter Studienkumpan aus dem Physikstudium! Wir haben gemeinsam den Doktor gemacht … wir wollten doch zusammen eine Firma gründen …!“ „Georg? Georg? Aah, der Schorsch! Du siehst dir aber gar nicht ähnlich, muss ich sagen. Wo sind nur deine vielen Locken und warst du nicht mal schlank? Und seit wann trägst du einen Buckel?“ „Ganz ehrlich Karl, du sahst auch mal besser aus! Die letzten 40 Jahre haben ganz schön was angerichtet bei dir! Habe zufällig in der Zeitung gelesen, dass du hier im Seniorenstift Himmelsnah wohnst. Ich lebe seit Kurzem bei meiner Tochter aus erster Ehe, fast direkt um die Ecke, die geht auch schon in zwei Jahren in Rente. Ja, so ist das Leben, nach Jahrzehnten Australien hat es mich wieder in die alte Heimat verschlagen – nicht ganz freiwillig, aber allein leben geht nicht mehr so gut. Ist bei meiner Tochter wie im Altenheim - du wirst bekocht, bekommst die Wäsche gemacht, nur persönlicher … aber was erzähl´ ich von mir – ich dachte, wenn du schon mal in der Nähe wohnst, kannst du ruhig auch mal den alten genialen Tüftler Karl besuchen und mit ihm über die guten alten Zeiten schnacken – und dann dein runder Geburtstag – was für ein Anlass.“ „Schorschi, Schorschi, da gibt es nicht mehr viel zu erzählen, was nicht schon irgendwann in der Zeitung stand, und mein Gedächtnis lässt mich auch immer öfter im Stich, selbst meinen alten Kommilitonen habe ich ja fast nicht wiedererkannt.“

Winfried Thiessen steht auf einem Dachboden. Seine Jacke hängt auf einem Bügel, er fasst nach dem Reißverschluss und schaut mit ausdruckslosem Gesicht daran vorbei.

„Was ist eigentlich aus unserem Projekt geworden, nachdem ich mit meiner neuen Liebe nach Australien bin?“  „Schorsch, du und deine Weibergeschichten … ich hätte dich irgendwann sowieso aus der Firma schmeißen müssen, du warst nie richtig bei der Sache, immer nur die Frauen … Die Firma habe ich schon vor Jahren verkauft, wie du bestimmt gelesen hast, danach bin ich viel gereist, aber jetzt schau´ mich an … nur noch ein halbblindes, klappriges Gestell, das den ganzen Tag im Rollstuhl sitzt - der Preis des hohen Alters eben. Aber ich kann mir wenigstens einen 1A-Seniorenstift leisten – hab ja keine Kinder!“ „Aber wir beide leben noch! Weiß du noch damals, der junge Bill Gates? Als er an seinen ersten Computern rumgebastelt hat und wie stolz er war? Wenn der gewusst hätte, was wir damals schon alles auf dem Kasten hatten, aber du musst auch geschäftstüchtig sein, Karl, was? O.k., du hattest ja schon immer einen guten Riecher fürs Geschäft. Aber ich, immer nur hinter den Röcken her. Was ist denn aus unserer Spielerei geworden – hast du sie zum Laufen gebracht?“ „Schorschi, das darfst du mich nicht fragen. Selbst wenn ich es wüsste, würde ich es dir nicht sagen, dass war einfach – ach, egal … ja, hab´ ich!“ „Hast du? Mensch, Karl, erzähl mir nix.“ „Keine Sorge, werde ich nicht. Das Projekt ist sowieso gestorben!“ „Du hast still und heimlich an dem Prototyp weitergebastelt? Du Halunke!“ „Ja, ich habe deine Software eingebaut und noch einige Verbesserungen vorgenommen. Ich wollte es mir nur beweisen, dass ich es kann - also unser Prototyp lief so lala. Das mit dem selbstlernenden Programm, da war irgendwie der Wurm drin, hat einfach seinen Stiefel durchgezogen, egal welche Befehle ich eingegeben habe. In dieser Hinsicht habe ich versagt – so was von renitent, diese Software. Das wäre jedem nach einiger Zeit aufgefallen. Deshalb habe ich das Projekt eingemottet. Was grinst du so dämlich?!“ „Du hast mein Programm dafür benutzt? Ich hab´ damals einen Code eingebaut, falls du mich übers Ohr hauen würdest, deshalb hat es sich so verhalten. Ich dachte du würdest es irgendwann rauskriegen.“ „Schorsch, du alter Schuft!!“

Es klopft.

„Ah, meine Lieblingspflegerin – ich will noch nicht ins Bett! Heute ist mein Geburtstag!“ „Herr Schmidt, Sie alter Schwerenöter, ich will Sie ja nicht stören. Aber da draußen wartet ein ganzer Pulk von Presseleuten.“ „Immerhin bin ich 90 geworden! Aber gleich so viele? Ich habe mich doch schon lange zur Ruhe gesetzt.“ „Herr Schmidt, ich denke die kommen nicht wegen Ihres Geburtstages.“

Entdeckungen

„Warst du denn schon mal im Rehabilitationszentrum?“ „Nee, komm, hak´ dich ein, wir finden schon die Hilfsmittelberatung!“ „Ich dachte du kennst den Weg?“ „Nicht wirklich!“ „Kannst du die Hausnummern lesen?“ „Ähh nein. Bin mir Straße sind. Darum wollte ich ja auch hin. Ich brauch´ unbedingt ein Monokular.“ „Ach, deshalb hast du mich mitgenommen, damit ich dir eine Stütze bin. Wir können doch mal jemanden fragen?“ „Mach doch!“ „Nee, ich frag´ nicht!“ „Ich schon gar nicht! Hier, das sieht hier so aus, als könnte es das sein, die Einfahrt kommt mir bekannt vor … 3. Stock glaube ich, hab´s vergessen.“ „Oh, man, du hast überhaupt keinen Plan! - Was ist?“  „Mmmh. Keine Ahnung. Lass mal schauen, ob die Tür offen ist … ist sie… was für ein langer Gang. Ich war noch nie hier. Pass auf, Treppen verdammt steil nach oben.“ „Komm lass uns zurückgehen!“

„Nur noch bis zur nächsten Tür, da oben! Komisch: Zutritt verboten?“  „Dann sind wir verkehrt. Lass uns gehen!“ „Jetzt scheiß dir nicht in die Hose. Was soll schon passieren? Wir sind hier in Marburg, das ist irgendein Dachboden. Bist du überhaupt nicht neugierig?“ „Doch schon, aber ich sehe eh nichts.“ „Ich doch auch nicht wirklich viel, das ist ja gerade der Spaß. Es ist so verdammt duster hier. - Die Tür ist zu.“ „Zeig mal! Ja, die ist wohl abgeschlossen. Hör auf, mich zu schubsen – o.k. offen! Siehst du was?“ „Wie denn, ich bin nachtblind.“ „Licht, oft links, Brusthöhe!“  „Vielleicht bei dir, bei mir ist es dann fast Kopfhöhe. Hab ihn … was für eine Funzel. Sehe immer noch nicht viel. Warte. Hier lang. Verflucht. Das gibt es doch nicht, das ist doch … Hallo Herr W - hast du mich erschreckt! Hallo?!“
„Herr W ist doch zuhause in Frankfurt.“ „Nee, der Kapuzenpulli, der Zopf, den kenn ich doch, und diese Turnschuhe. Der pennt da auf dem Stuhl. Wohl den Zug verpasst?!! Lass uns mal näher ran.“

„Oh verdammt, ich bin über was gestolpert, ein Seil oder so!“ „Da ist was aus seiner Nase gefallen – ein Stecker und das da ist ein Stromkabel - mich trifft der Schlag. Jetzt wird mir so einiges klar. Diese Abgeschlafftheit von ihm, der Akku muss seit über 30 Jahren laufen.

Genauso wie die Festplatte. Egal wie weit die Technik war, sie ist in die Jahre gekommen. Dieses Gefasel, immer die selbe Leier. Das gibt vielleicht eine Schlagzeile!“ „Hey, lass uns abhauen, dass das … ist doch…“ 

„Hallo ihr beiden! Na, wie war es in der Schule?! Wo wollt ihr denn so schnell hin? Habt ihr keine Hausaufgaben auf? Esst ihr heute Abend mit?“ 

„Nix wie weg hier! Aber wohin?“  
„Nur nicht in die Wohngruppe!“ „Warum denn nicht – er ist doch hier!“ „Aber weißt du, wie viele von denen noch an der blista rumlaufen?“ „Meinst du seine beiden Kolleg*innen Danny und Manfred sind …“ „Schau sie dir doch an – passen würde es!“

Epilog

„Die Geschichte ist doch frei erfunden, oder?“ – „Frag mich nicht, keine Ahnung, aber vermutlich schon. Meistens gibt es ja einen wahren Kern, wenn er auch noch so klein sein mag.“ - „Vielleicht das mit dem Abwasch? Glaubst du, Herr W spült besser als seine beiden Kolleg*innen?“ - „Aber hallo!! Das sind doch Spülluschen. Die haben ja schon Probleme mit der richtigen Spülschwammhaltung.“ – „Macht irgendwie Spaß, über die Betreuer*innen herzuziehen!“ „Finde ich auch. Nur diese Gendersternchen, die nerven …“