Buchtipps

Der Buchumschlag zeigt den Titel in großen roten Lettern

Thriller

Winfried Thiessen* - Der Kunsthistoriker Cornelius Teerjong erblindet im besten ­Mannesalter – für ihn eine Kastration als Mann. Vor Verletzungen schützt er sich deshalb durch einen Hang zum Zynismus. Als Teerjong noch sehen konnte, war er ein gefragter Kunstexperte – auch in Polizeikreisen. Im Laufe der Zeit hat er sich so lala mit seiner Blindheit arrangiert, seine verbliebenen Sinne haben sich geschärft – und er hat Jenny Urban, eine fesche Journalistin, erobert. Na also, geht doch, trotz Blindheit!

Auf dem Documenta-Gelände in Kassel wird ein Bekannter aus sehenden Zeiten, der Kameramann Henk de Byl, leblos und auf ­bizarre Weise verstümmelt, aufgefunden. Da sich die Polizei aus unerfindlichen Gründen ziemlich bedeckt hält, beginnt Teerjong mit seiner neuen Flamme Jenny auf eigene Faust zu ermitteln, seine früheren Erfahrungen mit Polizeiarbeit helfen ihm dabei. Bald jedoch stellt sich Teerjong nicht nur die Frage, wie gut er den Ermordeten überhaupt gekannt hat, sondern auch die berühmte Grönemeyerfrage: Wann ist ein (blinder) Mann ein Mann? Die Antwort darauf finden wir am Ende des Thrillers – bis dahin hat er es dann aber auch wirklich allen gezeigt, was für ein Kerl in ihm steckt: er hat seine Freundin, die Journalistin Jenny Urban, beschützen können, den Mörder gefunden und die Polizei geschickt hinters Licht geführt. „Der 1. Fall für Teerjong“ steht auf dem Cover des Buches zu lesen, folglich können wir davon ausgehen, dass der Autor Lukas Erler mit Cornelius noch mehr vorhat – wir dürfen gespannt sein.

Notizen, die ich mir beim Lesen gemacht habe: Ein guter Thriller, um die Zeit tot zu schlagen. Der Anfang ist über weite Strecken gemütlich und unaufgeregt geschrieben; keine übertriebenen Splatter-Effekte; das Personal im Buch bleibt übersichtlich; der Leser kann auch nach Tagen problemlos wieder in den Thriller einsteigen. Warum nennt ein etablierter Kunsthistoriker Polizisten immer Bullen? Zum Ende hin gewinnt der Thriller an Fahrt, hält die Spannung und flutscht. Teerjongs Blindheit wird relativ glaubhaft dargestellt. Krimi- und Thrillerliebhaber greifen bei Auge um Auge von Lukas Erler sicher nicht daneben.

Der Umschlag trägt den Titel und zwigt 2 junge Leute, die auf einer Wiese liegen.

Jugendroman

Olivias Mutter hat sich – nicht zum ersten Mal – an den falschen Kerl gehängt, einen Fremdgeher. Also heißt es für Liv (17), mal wieder umziehen. Kurz vor der neuen Bleibe gibt ihr Umzugswagen den Geist auf. In der Werkstatt trifft Liv auf Felix (22), den Sohn des Werkstattbesitzers. Felix sieht fantastisch aus und verliebt sich sofort in das junge kurvenreiche Mädel. Auch sie ist nicht abgeneigt, denn Felix entpuppt sich als echter Kumpeltyp und Helfer in der Not – außerdem fährt er eine heiße Harley. Könnte aus diesen beiden ein Paar werden? Ja, wenn es da nicht dieses Stadtfest gegeben hätte, auf das Liv von Nessie (17), ihrer neuen Nachbarin und Freundin, geschleppt wurde. Dort hat eine angesagte Coverband mit fünf coolen Jungs ihren Auftritt – alle in schwarz, alle mit Sonnenbrille. Liv verhört und verguckt sich sofort in Leander (20), den ultra coolen und gut aussehenden Keyboarder der Gruppe, während Nessie sich gleichzeitig an Lasse, den Frontmann der Band, ranmacht und ihn abschleppt, denn Nessie würde attraktive Männer niemals links liegen lassen, und das obwohl sie einen treuen Freund und Verehrer hat, der sie anbetet und alles für sie tun würde – was für ein Luder!

Leander ist blind und hat gerade sein Abi an der blista in Marburg gemacht. Er hat eine absolut erotische Stimme, sieht gut aus und die Autorin hat ihm – dankenswerterweise – keine übernatürlichen Fähigkeiten angedichtet. Was er kann, hat er alles in Marburg gelernt – an dieser Stelle deshalb: ein Hoch auf die RES-Lehrer und Internats­pädagogen der blista!! Wir haben also ­folgende Grundkonstellation: Sommerferien, alle Beteiligten befinden sich in einer Umbruchsituation und sind läufig wie junge Hunde. Sowohl Nessie als auch Liv müssen sich für einen Boy entscheiden. Konflikte sind da natürlich vorprogrammiert. Alles in allem erwartet den jungen Leser ein ziemlich erotischer und spannungsgeladener Jugendroman, in dem, obwohl es ordentlich zur Sache geht, wenn ich mich nicht irre – kein einziges Mal das F-Wort benutzt wird, und ebenso wird auch auf eine direkte Nennung der primären Geschlechtsteile verzichtet. Das heißt folglich: es wird im Buch mit einer reichen Bildersprache gearbeitet, die das Kopfkino des Lesers aktivieren soll: Beim Küssen oder während der Vereinigung der Körper rauschen schon mal Flutwellen heran oder ein Tsunami türmt sich donnernd auf – eine Gratwanderung nahe am Kitsch –, aber die Autorin schafft es immer rechtzeitig, die Kurve zu kriegen. Aus heißen Flirts entwickeln sich Beziehungen – und Beziehung ­bedeutet: Arbeit! Ja, Kinnas: Und sie lebten glücklich und zufrieden bis an ihr Lebensende – das war gestern; in den modernen ­Jugendbüchern geht es um Problemzonen und Körperbild, um Fragen wie: wer der ­bessere Ratgeber ist, Kopf oder Bauch? oder ob man seinen Gefühlen überhaupt trauen sollte. Denn wie kann es sein, dass man den einen Kerl aufrichtig liebt, aber sich die Küsse eines anderen einfach so gefallen lässt? Und was sagt Liv’s Opa zum Thema ­Beziehung? „Leben oder sterben, Deern – dat is nicht so wichtig. Wenn das Schiff mal kentert, is’ viel wichtiger, dass du mit dem richtigen Maat an Bord warst.“ Also, wer mal so richtig abschmachten möchte, Leidenschaft und Romantik nicht völlig ablehnend gegenübersteht und trotzdem nicht völlig im Lesekitsch versacken möchte, dem sei Die einzige Art, Spaghetti zu essen von Nicole Brausenkopf ans Herz gelegt.

Das Buchcover zeigt ein Gesicht, bei dem die eine Hand die Stirn verdeckt, die andere Mund und Nase

Gesellschaftsroman

Der Roman Sehende Hände von Bi Feiyu spielt im China der Jahrtausendwende. Die Gesellschaft entwickelt sich rasant Richtung staatlich gelenktem Kapitalismus. Die Spielregeln des neuen Systems sind aber den meisten Akteuren unbekannt. So auch dem im Mittelpunkt der Erzählung stehenden blinden Masseur Wang Daifu, der sein hart verdientes Geld an der Börse verspekuliert hat und sich nun vom Traum, einen eigenen Tuina-Massagesalon zu eröffnen und sein ­eigener Chef zu werden, verabschieden muss. Wang kommt als einer von vielen ­Angestellten im Massagesalon seines alten, ebenfalls blinden Schulfreunds, dem ehr­geizigen Sha Fuming, unter. Feiyu erzählt in seinem Roman die Geschichten der dort unter beengten Verhältnissen arbeitenden und lebenden blinden weiblichen und männlichen Masseure, die als gesellschaft­liche Randexistenzen dort in ihrem ganz ­eigenen Mikrokosmos leben. Feiyu zeichnet eine nicht nur äußerlich beengte Welt, in der die Angestellten, ob verheiratet oder nicht, in Mehrbettzimmern nach Geschlechtern getrennt ohne Privatsphäre hausen; eine Welt, die auch durch überlange Arbeitstage geprägt ist; aber vor allem handelt der Roman von den komplexen inneren Konflikten und Widersprüchen der Protagonisten, ihren Träumen und Sehnsüchten, die ihren Ursprung nicht selten in westlichen TV-Serien haben, hier konkurrieren moderne westliche Lebensentwürfe mit tradierten Denkstruk­turen, Moralvorstellungen, gesellschaft­lichen Konventionen und materiellen ­Zwängen, die sich bei Feiyu umso einschränkender auf die individuellen Entfaltungsmöglichkeiten auswirken, je weiter das Individuum am Rand der Gesellschaft steht – in diesem Fall die Blinden des Massagesalons. Feiyu entwirft eine bedrückende Atmosphäre voller gegenseitigem Argwohn und taktischen Finessen in der Kommunikation und im Handeln. Sein Gesicht und seine Würde zu wahren und den eigenen Vorteil im Auge zu behalten, steht bei allen Interaktionen im Vordergrund. Die Motive ihres ­eigenen Denkens und Handelns zu verstehen, geschweige denn die ihrer Mitmenschen, davon sind die meisten Protagonisten weit entfernt. Feiyu beschreibt die zuweilen fast verzweifelte Suche nach Liebe, Geborgenheit, Anerkennung, Nähe und Sicherheit in einer Welt der materiellen Unsicherheit, Anonymität und der plappernden Sprach­losigkeit. Ein offener und ehrlicher Umgang mit den eigenen Gefühlen und Sehnsüchten oder mit seinen Mitblinden scheint in Feiyus Romanwelt unmöglich. Man lebt Bett an Bett, arbeitet Pritsche an Pritsche und doch bleibt der Nebenmann oder die Nebenfrau ein Fremder, „ein sprechendes, atmendes Loch“. Seine Blinden verheddern sich mit ihrem Fühlen und Denken in einem Gewebe aus traditionellen Ansichten, alten philosophischen Weisheiten und Sprichwörtern, Aberglaube, rationalen Erwägungen und modernen Versprechungen sowie gesellschaftlichen Zwängen. Eine schöne, aber bisweilen bedrückende Erzählung, an deren Ende der Leser etwas nachdenklich und ratlos zurückgelassen wird.

Das Cover ist dunkel, fast schwarz, die Schrift weiß, ein Foto zeigt den Blick auf eine Theaterbühne

Wissenschaft und Forschung

Blind Spots – Eine Filmgeschichte der Blindheit vom frühen Stummfilm bis in die Gegenwart von Alexandra Tacke ist ein anspruchsvoller Sammelband über ausgewählte Filme der letzten 100 Jahre. Im Zentrum der einzelnen Beiträge, die sich jeweils mit einem speziellen Film bzw. einem speziellen Genre befassen, steht die Funktion und Bedeutung von Blindheit. Dabei werden sowohl die blinden Protagonisten in ihrem jeweiligen zeithistorischen und kulturellen Kontext ein­gebettet betrachtet, als auch die filmästhe­tische Darstellung von Blindheit diskutiert. Die Handlung eines jeden Films wird anfangs sehr ausführlich beschrieben, so dass der Leser den Film nicht unbedingt gesehen haben muss, um dem Beitrag inhaltlich folgen zu können. In einer sehr gelungenen Einleitung fasst Tacke die wesentlichen ­Erkenntnisse der einzelnen Beiträge zu­sammen. Sie arbeitet immer wiederkehrende Erzählmuster und Motive in den Filmen wie Liebe macht blind, Erkennen und Verkennen heraus. Ebenso geht sie auf die unterschiedlichen Rollen von blinden Frauen und Männern in den Filmen ein, und nicht zuletzt ­beschreibt sie die Veränderungen in der Darstellung blinder Personen im Zuge der internationalen Behindertenbewegung, die sich natürlich auch in den Filmproduktionen ­widerspiegeln. Tackes Einleitung hätte mir persönlich fast schon völlig ausgereicht, um mir einen guten Überblick über die Thematik zu verschaffen. Vor allem die intensive Beschäftigung einiger Autoren mit filmästhetischen Fragestellungen, die zahlreichen englischen Originaltextstellen und Verweise auf den aktuellen wissenschaftlichen Diskurs in Sachen Filmästhetik, machen Blind Spots zu einem sehr anspruchsvollen Sammelband, der wohl eher für Filmenthusiasten gedacht ist. Deshalb ist Blind Spots auch keine Lektüre für jedermann. Abgerundet wird der Sammelband durch eine Auflistung aller bedeutenden „Blindenfilme“ der 100jährigen Filmgeschichte.

[* Pädagogischer Mitarbeiter im Internat]