Zeitenwende – vom Leben nach der blista

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Tulga Leonardo Demirel, Abitur 2017

One-Way-Ticket von der Wiege zur Grundschule

Wegen meines Albinismus bin ich bereits mit einem Visus von 20/100 zur Welt gekommen. Nachdem ein Arzt meine Eltern über Albinismus aufgeklärt hatte, konkretisierten sich ihre vagen Pläne nach Deutschland auszuwandern. Fünfeinhalb Jahre später, im Jahr 2002, sollten sie diesen Gedanken in die Tat umsetzen.

Da war ich nun, kaum dass ich meine eigene Muttersprache gelernt hatte, in einem für mich unbekannten Land, dessen Sprache ich nicht verstand. Auch die deutsche Kultur war mir fremd. Nach einem halben Jahr in einem Kindergarten wurde ich an der Severin-Schule in Köln, einer Förderschule mit Schwerpunkt Sehen, fast komplett ohne Deutschkenntnisse, eingeschult. Ein Jahr später schrieb ich aber schon die besten Diktate in meiner Klasse und heutzutage wendet man sich auf der Arbeit in meinem Kollegenkreis bei wichtigen E-Mails zwecks Korrekturlesens an mich.

Meine Zeit an der blista und der Weg dorthin

Von der blista erfuhr ich in der vierten Klasse der Grundschule. Ich besuchte die dortige Orientierungswoche im Frühjahr 2008 und wenige Wochen später war es so weit, mein erster Abend im blista-Internat als Schüler der Carl-Strehl-Schule. „Ab heute nur noch neun Jahre bis zum Abitur“, dachte ich mir damals.

Was mich in der ersten Zeit an der blista erstaunt hat, war das große außerschulische Angebot, z.B. Musik AG, Umwelt AG, Rudern mit Partnerschulen, Theater, freie Werkstatt AG, „Faxen-AG“, bei der ich u.a. Jonglieren mit Devil-Sticks gelernt habe und die Judo-AG, bei der nicht nur Schüler*innen mitmachten, die sich fit halten wollten, sondern auch viele Schüler*innen, so auch ich, die bei nationalen und internationalen Meisterschaften um Medaillen kämpften. Außerdem fuhren wir auf so einige Klassenfahrten. Auch gab es an der blista ein Schwimmbad und eine Reitanlage. Wer aktiv sein wollte, dem stand also ein abwechslungsreiches Angebot zur Verfügung.

Die letzten Jahre an der blista bis zum Abschluss

Eines Tages wacht man auf und merkt, dass die neun Jahre fast schon vorüber sind. Damit man nicht komplett orientierungslos aus der (Blindenstudien-) „Anstalt entlassen“ wird, finden für die älteren Schüler*innen, die kurz vor ihrem Abschluss stehen, die sogenannten BOSS-Tage statt, bei denen unter anderem auch ehemalige blista-Schüler*innen über ihre Erfahrungen in Studium, Ausbildung und Beruf berichten, um den „Noch-Blistaner*innen“ dabei zu helfen, eigene Ideen für die Zeit danach zu entwickeln.  

Ein Schlüssel-Moment für mich war, als mich während der BOSS-Tage ein ehemaliger blista-Schüler fragte, was ich studieren möchte. Ich war mir damals noch unsicher und antwortete: „Ich kann mich nicht zwischen BWL und Informatik entscheiden, denn ich mag diese beiden Themen, jedoch befürchte ich, für sich allein sind mir beide zu einseitig.“ „Dann studiere doch Wirtschaftsinformatik“, schlug er mir vor. Ich wusste bis dahin nicht, dass es diesen Studiengang überhaupt gibt, und sein Vorschlag hat mir nicht nur gefallen, sondern auch geholfen. Auch über duale Studiengänge machte ich mir in dieser Zeit Gedanken. Während meiner Schulzeit absolvierte ich Praktika in IT-Unternehmen, hauptsächlich in meiner Geburtsstadt Istanbul, und ein weiteres an einer Hochschule in der Nähe des Wohnortes meiner Eltern und sammelte so erste Arbeitserfahrungen. Schnell stellte ich fest, dass mich meine Sehbehinderung weniger beeinträchtigt als erwartet, da ich alles mit der vorinstallierten Vergrößerungssoftware bedienen konnte. Diese Erkenntnis bestärkte mich in meiner Entscheidung, ein duales Studium anzutreten.

Nachdem ich einige Anschreiben versandt hatte, wurde ich zu Bewerbungsgesprächen eingeladen, jedoch haben letzten Endes alle Firmen abgesagt. Ich gehe davon aus, dass meine Sehbehinderung dabei nicht die entscheidende Rolle gespielt haben kann, denn ich wurde ja eingeladen, obwohl ich sie in meinen Anschreiben erwähnt hatte und es diesbezüglich kaum Nachfragen gab.

Die BWI GmbH, die mir am Tag nach meinem persönlichen Gespräch abgesagt hatte, lud mich jedoch drei Monate später erneut zu einem Bewerbungsgespräch für dasselbe duale Studium, allerdings in einer anderen Abteilung, ein. Beim zweiten Mal war ich bereits mit der BWI GmbH vertraut und mittlerweile auch ganz allgemein sicherer in meinem Auftreten in Bewerbungsgesprächen. Tatsächlich erhielt ich kurz darauf eine Zusage für das duale Studium B.Sc. Wirtschaftsinformatik mit Ausbildung zum Fachinformatiker für Systemintegration. Einige Zeit später hielt ich dann endlich mein Abiturzeugnis mit einem Schnitt von 2,4 in den Händen.

Firmengebäude BWI

Zur Einordnung: Die BWI GmbH ist das IT-Systemhaus der Bundeswehr. Von 2006 bis 2016 hat sie in Rahmen des HERKULES-Projektes die IT der Bundeswehr von Grund auf modernisiert und betreibt sie seitdem. Seit 2017 ist der Bund alleiniger Gesellschafter. Während es 2017 noch 2500 Mitarbeiter*innen waren, beschäftigt die BWI GmbH heute mehr als 7000 Menschen.

Meine ersten Tage bei der BWI

Da ich zum 01.08.2017 eingestellt wurde und die erste Theoriephase des dualen Studiums erst wenige Wochen später anfing, hatte ich zunächst Zeit, das Unternehmen und die Abteilung kennenzulernen. Leider stellte sich kurz vor meinem Start bei der BWI GmbH heraus, dass ich in der ersten August-Woche einen wichtigen Judo-Wettkampf hatte, die Europameisterschaften der Sehbehinderten. Ich musste also noch bevor ich eine Minute gearbeitet hatte, bereits Urlaub beantragen. Die Ausbildungsleiterin genehmigte mir den Urlaub unter der Auflage einen Intranet-Artikel über den Wettkampf zu verfassen, was dazu führte, dass mich viele Kolleg*innen gleich in den ersten Wochen „kennengelernt“ haben und somit auch frühzeitig über meine Sehbehinderung Bescheid wussten.

Ein Dreieck unter dem Titel das Studentenleben unterscheidet zwischen guten Noten, Sozialleben und ausreichend Schlaf in der Mitte sehte "wähle eins", das ursprüngliche "wähle zwei" ist durchgestrichen

Duales Studium – Alles neu

Die ersten Semester sind immer die schwierigsten. Es ist alles – wirklich alles – anders und neu, so als wäre man in einem Zeugenschutzprogramm, nur den Namen und das Geburtsdatum darf man behalten.

  • Plötzlich ist man in einer komplett anderen Stadt, von der man nur wenige Ecken kennt.
  • Plötzlich ist man mit komplett fremden Personen, die man vorher noch nie gesehen oder gekannt hat, in Studienveranstaltungen.
  • Plötzlich ist man in einer komplett anderen Wohnung und muss einkaufen, kochen, reinigen, Müll rausbringen, sich um den restlichen Haushalt kümmern und Rechnungen, Gebühren und Miete zahlen.
  • Plötzlich muss man arbeiten und Geld verdienen.
  • Plötzlich muss man alles selbst organisieren.
  • Plötzlich muss man sich entscheiden zwischen Sozialleben oder ausreichend Schlaf.

Das oben Genannte muss man alles nebenbei machen, denn hauptsächlich hat man zu studieren, man muss lernen, wie zuvor in der Schule, aber jetzt ungefähr zehnmal so viel. Durch die Sehbehinderung benötigt man für alles stets mehr Zeit. Es gibt zwar einen gewissen „Nachteilsausgleich“, z.B. bei Klausuren eine 50-prozentige Schreibzeitverlängerung und man darf am Notebook schreiben, aber das ist definitiv kein Vorteil, sondern – wie der Name bereits sagt – ein minimaler Ausgleich für den großen Nachteil einer Sehbehinderung. Insgesamt kam ich aber gut zurecht, da ich alle Unterlagen sowie Bücher digital erhielt und in vielen Veranstaltungen und Kursen sowieso an Computern gearbeitet wurde, auf die der Bildschirminhalt des Dozenten übertragen werden konnte.

Aber auch das gab es:  Es häuften sich „Bemerkungen“ eines Kommilitonen, der sich wiederholt über meinen „Vorteil“ bei Klausuren beklagte, obwohl ich ihm die Bedeutung des „Nachteilsausgleichs“ mehrmals erläuterte. Irgendwann war ich so geladen und erzürnt, dass ich ihm mit drastischen Worten anbot, ihm die gleichen „Vorteile“ zu verschaffen. Er wollte sein Auge aber lieber behalten und hat sich anschließend bei mir entschuldigt. Solche Kommiliton*innen bildeten glücklicherweise die Ausnahme. Mit allen anderen habe ich mich gut verstanden und sie waren sehr interessiert, die Dinge aus meiner Sicht zu erleben. Bspw. haben viele meine Tafelkamera ausprobiert und nutzten sie sogar selber, wenn sie etwas an der Tafel nicht lesen konnten.

Die Wohnungen für uns Studierende, die bei diesem Studiengang gestellt wurden, worüber ich grundsätzlich sehr dankbar bin, waren im Vergleich zu den blista-Wohngruppen eher Notunterkünfte. Jede Theoriephase in Paderborn (je 4 bis 5 Monate), das auf Praxisphasen in Bonn (je 1 bis 2 Monate), bei denen ich im Elternhaus wohnte, folgte, bekam ich eine andere Wohnung zugewiesen und die Bewohnerschaft wurde neu gemischt. Daher konnten wir uns nie wirklich einleben. Außerdem gab es im Vergleich zur blista keine Reinigungskraft, kein Klavier wie in einigen blista-WGs, keine Waschmaschine, keinen Trockner, keine Mikrowelle, keine halbwegs schöne Küche, nur die allernötigsten Möbel. Somit entstand auch nur schwer eine wohnliche Umgebung. Durch Kochabende mit anderen WGs in der Nähe, mit den richtigen Mitbewohner*innen und einem Kicker-Tisch, den wir gemeinsam angeschafft hatten, verflog aber das Unwohlsein mit der Zeit.

2020 bis heute

Die IHK-Abschlussprüfung für die Ausbildung habe ich 2020 absolviert, d.h. das Studium war ab dann kein ausbildungsbegleitendes Studium mehr, sondern seitdem ein berufsbegleitendes – mit entsprechendem Gehalt einer Vollzeitstelle als IT Systems Engineer, so steht es auch im Ausbildungsvertrag: Das Arbeitsverhältnis beginnt „mit dem Bestehen der Abschlussprüfung“. Mit dem neuen Gehalt habe ich mir mein erstes Haus – mit guter Verkehrsanbindung zu meinem Arbeitsplatz – finanziert, in das ich auch direkt eingezogen bin. Meine Sehbehinderung war bei der Baufinanzierung überraschenderweise ein Vorteil: Die Bank wertet das Sehbehindertengeld oder Blindengeld als absolut sicheres Einkommen, zieht von den persönlichen Ausgaben die ausbleibenden Ausgaben für einen Pkw oder ein ÖPNV-Ticket ab und berücksichtigt den Kündigungsschutz, den man als schwerbehinderter Arbeitnehmer beim Arbeitgeber hat. Da mein Arbeitgeber zu 100 % dem Bund gehört, hat man bei der Bonitätsprüfung, obwohl ich klargestellt habe, dass das eigentlich nicht stimmt, mich als Beamten gewertet. „Ach das passt so, ist ja fast das Gleiche“, antwortete der Bankberater mir zu meinem Erstaunen.

Die Regelstudienzeit war nach 3,5 Jahren, also Ende 2020, eigentlich vorbei, aber bei mir zieht es sich noch etwas bis zum Bachelor – wie gesagt, es dauert eben alles etwas länger mit einer Sehbehinderung. Die Umstellung auf Online-Unterricht seit 2020 war für mich sehr vorteilhaft, da ich jetzt keine Tafelkamera mehr schleppen und auch nicht mehr den Weg zu den Veranstaltungen auf mich nehmen musste. In der jetzigen Phase des Studiums muss ich hauptsächlich nur noch zu Prüfungen vor Ort erscheinen, da ich alle Pflichtveranstaltungen während der Regelstudienzeit abgehakt habe, d.h. „studieren“ besteht für mich nur noch aus Klausurvorbereitungen, Klausuren und Hausarbeiten schreiben, und wenn es nötig ist, nehme ich mir kurz vor den Klausuren auch schon einmal Urlaub. Auch wenn ich etwas langsamer vorankomme, so ist dieses Studium neben dem Beruf deutlich entspannter.

Zu meiner Tätigkeit: Unser Team kümmert sich um den Aufbau und störungsfreien Betrieb der Webapplikationen innerhalb der Bundeswehr. So bauen wir aktuell Lernplattformen für die einzelnen Streitkräfte auf, führen regelmäßig Sicherheitsupdates durch, automatisieren solche wiederkehrenden Prozesse, um Wartungsfenster zu optimieren und dokumentieren schließlich unsere Tätigkeiten, damit sie auch später für alle nachvollziehbar bleiben.

Bei meiner Arbeit stört es fast nie, dass ich eine Sehbehinderung habe, denn ich arbeite die meiste Zeit von zuhause aus an einem großen Bildschirm mit Schwenkarm. Nur ab und an stellen Dienstreisen eine Herausforderung dar, da man ungewohnte Wege zurücklegen muss, die manchmal nicht barrierefrei sind, aber die Kolleg*innen sind stets hilfsbereit.

Ausblick

Nach dem Bachelor, den ich voraussichtlich bis spätestens Februar 2025 absolvieren werde, möchte ich ein Master-Studium aufnehmen und auch wenn sie dann schon einige Jährchen her sein wird, werde ich mich immer wieder gerne an meine blista-Zeit zurückerinnern.