Buchtipps

Winfried Thiessen* | Sommerferien. Kurzurlaub im Weserbergland. Das Wetter sonnig. Panoramablick hinunter ins Wesertal. Wiesen und Wälder laden zum Spazieren gehen ein – und dann ist da noch die Fußballweltmeisterschaft. Städterherz, was brauchst du mehr? Dann gleich am zweiten Tag: das verdiente Vorrundenaus der deutschen Nationalmannschaft. Die Sonne brennt jetzt jeden Tag etwas unbarmherziger von einem gnadenlos blauen Himmel. Auf den Spaziergängen attackieren Bremsen und Stechmücken. Rückzug auf die schattige Terrasse mit den gemütlichen Liegestühlen und einem respektvollen Abstand zur Wildnis. Schnell die mitgebrachten Bücher ausgepackt und die Welt um sich herum vergessen.

Teacher von Helen Keller

Das Cover des Buchs zeigt Anne Sullivan lesend, die junge Helen Keller sitzt zuhörend an ihrer Seite

Als wir einmal in einer dicht gedrängten Menschenmenge standen, bahnte ein Mann, den wir nie zuvor gesehen hatten, Helen Keller einen Weg zum Fahrstuhl und bat mich, ihr zu sagen, dass er und seine Frau sie als eine Heilige betrachten. Ich sagte, dass sie es wahrhaftig nicht schätze, als eine Heilige bezeichnet zu werden. „Dagegen kann sie nichts machen“, sagte er. „Wir empfinden es nun einmal so.“

Wer kennt die beiden Amerikanerinnen, die taubblinde Helen Keller (1880–1968) und ihre sehbehinderte Lehrerin Anne Sullivan (1866–1936), immer noch nicht? Anne Sullivan und Helen Keller waren Vorkämpferinnen für die Rechte von Menschen mit Behinderung. Sie setzten sich für eine durchgreifende Modernisierung und Systematisierung der (Seh)Behindertenpädagogik ein und forderten sowohl mehr Bildung- und Ausbildungsmöglichkeiten als auch die Integration Behinderter ins Erwerbsleben. Gleichberechtigung und gesellschaftliche Teilhabe und nicht Mitleid und Almosen lautete ihre Devise.

In Teacher aus dem Jahre 1955 blickt Helen Keller auf ihr Leben mit ihrer Lehrerin, Freundin und Weggefährtin Anne Sullivan zurück. Das Verhältnis der beiden willensstarken und ehrgeizigen Frauen rief damals nicht wenige Kritiker auf den Plan. So wurde Anne Sullivan vorgeworfen, Helen Keller als Instrument ihrer ehrgeizigen Ziele zu missbrauchen und mit ihren Ansprüchen das „arme“ blinde und gehörlose Mädchen zu überfordern und zu quälen. Helen Keller wurde wiederum unterstellt, dass sie eigenständiger Gedanken und Betrachtungen im Grunde gar nicht fähig sei, und nur eben das wiedergebe, was Anne Sullivan und ihr unmittelbares Umfeld dem jungen, arglosen Wesen einflüsterten. Dem Leser ihres Buches wird schon bald deutlich, dass sich die Kritiker wohl gründlich über das Verhältnis der beiden Frauen getäuscht haben. Etwas salopp gesagt: Helen Keller war ebenso „skrupellos“ in der Durchsetzung ihrer Ziele, wie es Anne Sullivan war. Beide wollten sich nicht mit einem Platz am Katzentisch der Gesellschaft zufriedengeben, sondern sie kämpften für das Recht auf ein erfülltes, eigenständiges Leben und um (finanzielle) Unabhängigkeit, trotz körperlicher Einschränkungen.  

Teacher ist nicht nur als eine Würdigung des Wirkens von Anne Sullivan zu lesen, sondern auch eine Erwiderung auf die Anfeindungen und Vorwürfe, denen sich die beiden prominenten Frauen und exponierten Persönlichkeiten zeitlebens ausgesetzt sahen. Dem Leser wird deutlich, dass die beiden zwar ein sehr enges Verhältnis pflegten, aber dass sich Helen Keller schon bald von ihrer Mentorin emanzipierte. Dabei zieht sich das Bestreben, die komplexe Persönlichkeit von Anne Sullivan und die Motive ihres Handelns zu skizzieren, wie ein roter Faden durch das Buch.  

Dem aufschlussreichen Buch ist eine kurze und sehr gute Einführung über das Leben und Wirken Helen Kellers und Anne Sullivans vorangestellt. Am Ende gibt es noch einmal eine Zeittafel mit den wichtigsten Eckdaten ihres Lebens. Wer sich vorher einen detaillierten Überblick über das Leben der beiden Damen verschaffen möchte, der sollte zu Helen Keller, Anne Sullivan – Öffne mir das Tor zur Welt! von Helen E. Waite greifen.  

Schnee hinter den Augen von Renate Langgemach

Das Cover zeigt einen blinden Mann und den Buchtitel in Brailleschrift

Und weiter geht‘s zwischen Kaffee und Kuchen am Nachmittag und Grillen am Abend mit dem Roman Schnee hinter den Augen von Renate Langgemach. Und davon handelt dieses Buch: Eine Frau um die 60 wühlt in „Erinnerungen“. Nach dem Tod der Mutter – der kriegsblinde Vater ist schon vor längerer Zeit verstorben – soll das entrümpelte Haus verkauft werden. Durch ein an die verstorbene Mutter adressiertes Paket erfährt die Frau von einer weit zurückliegenden Affäre ihres Vaters. Sie sucht die damalige Nebenbuhlerin ihrer Mutter auf. Gespräche mit der alten Dame und ihre Notizen über den Vater lassen seine und nicht zuletzt auch ihre eigene Vergangenheit mit dem kriegsblinden Vater in einem neuen Licht erscheinen.

Sprachliche Poesie kann man dem Roman gewiss nicht in Abrede stellen. Etwas gekünstelt wirkte für mich nur die Art des Zusammentreffens der beiden Protagonistinnen. Renate Langgemach versteht es aber gut die Atmosphäre der Kriegs- und der Nachkriegsjahre auferstehen zu lassen: die Hoffnungen junger Menschen, die zerstörten Träume, die physischen und psychischen Zerstörungen des Krieges und deren Auswirkungen auf die nachfolgende Generation. Der Seitensprung des Vaters zwingt die Tochter, sich noch einmal genauer mit dem Verhältnis zu ihm und die Auswirkungen auf ihre eigene Persönlichkeit auseinanderzusetzen. Am Ende stehen Selbsterkenntnis, Friedenschließen mit dem „neuen“ Vater und die Aufgabe, sich erneut von ihm zu verabschieden.

Und schon ist der Kurzurlaub vorbei. Er hat genau zwei Bücher und einen Tag gedauert. Die Schlacht am Buffet ist geschlagen. Zurückgelassen wurden verheerte Kuchenplatten und geplünderte Grillteller. Abzug – das geraubte Hüftgold im Gepäck.

Mein Everest von Andy Holzer

Das Cover zeigt einen komplett vermummten Bergsteiger in einer Schneelandschaft

Einige Arbeitswochen sind ins Land gezogen, um genau zu sein acht. Herbstferien. Ja, ja, schon wieder Ferien – ja, der hat es gut. Diesmal nicht Weserbergland sondern Zeeland. Holland – ein perfektes Urlaubsland für Flachlandtiroler. Es locken lange Strandspaziergänge und es bleibt viel Zeit zum Lesen. Mit dabei im Reisegepäck das neue Buch des geburtsblinden Tiroler Bergsteigers Andy Holzer Mein Everest – Blind nach ganz oben. Der Titel lässt keine Fragen offen, man weiß sofort, um was sich die Geschichte dreht: die Liebe zu einem ganz großen Berg. Andy Holzer, Jahrgang 1966, zieht es schon seit frühester Jugend hinauf in die Bergwelt, gut, er ist dort ja auch zu hause. Wie er zum Klettern und Bergsteigen gekommen ist und wie er es anstellt, als Blinder hoch und dann auch immer wieder unbeschadet herunterzukommen, das erzählte er bereits in seinem Buch BalanceAkt – Blind auf die Gipfel der Welt, erschienen 2011 (Rezension in der blista news 2011/3). Was bisher in Holzers Sammlung aber noch fehlte war der Mount Everest, das Sahnetüpfelchen jeder Bergsteigerkarriere. Nun sind es zwei Paar Stiefel, dort hoch zu wollen und dort auch hochzukommen. Als Heilmasseur und Musiker fehlte Andy Holzer einfach schlichtweg das nötige Kleingeld. Neben Kost, Logis und einer professionellen Hochgebirgsausrüstung will ein Team zusammengestellt und finanziert werden. Die Transportkosten für Sack und Pack sind auch nicht ohne, und last but not least – nicht zu vergessen – sind da noch die die Expedition begleitenden Sherpa, ohne die dort oben nicht viel geht. Und das kostet eben alles Geld und vor allem auch viel Zeit, denn es ist nix mit hin und rauf. Es braucht Tage und Wochen bis der Körper sich auf die extreme Höhe eingestellt hat. Unterlässt man diese Anpassung, sollte man lieber gleich einen Leichensack mit hochschleppen. Und dann ist da noch das Wetter – unberechenbar: kalt und stürmisch kommt es oft daher – dann heißt es: geduldig warten, im engen Zelt in eisiger Höhe. 2009 löste sich Holzers finanzielles Problem auf elegante Weise. Er wurde erstmals als Keynotespeaker für Veranstaltungen gebucht. Ein Keynotespeaker ist jemand – wer es ganz genau wissen will sollte bei Wikipedia nachlesen – der zu Beginn eines Kongresses oder einer Tagung für das Warm-up sorgt, also die Einstimmung der Teilnehmer auf Kommendes. Damit kann man anscheinend, wenn man gut ist, so viel verdienen, dass der Mount Everest kein Traum mehr bleiben muss. Warum Andy Holzer aber gleich drei Anläufe und mehrere Jahre brauchte, bis er mit seinem Team den Gipfel erreichte, das erfährt der Leser in Mein Everest. Fast noch beeindruckender als die Leistung von Andy Holzer und seinem Team, ist das was die Sherpa am Berg leisten. Ohne ihre tatkräftige und logistische Unterstützung würde am Mount Everest nicht viel ­laufen, denn irgendjemand muss Ausrüstung, Unterkunft und Nahrungsmittel ja den Berg hoch schleppen. Was für die einen Abenteuer ist, ist für die Sherpas Alltag, ein Job, den sie nicht selten mit dem Tod bezahlen. Ich habe das Buch gerne gelesen, in einem Strandcafé in den Dünen von Domburg, die Sonne, eine leichte Brise und einen Latte Macchiato genießend, während Andy Holzer gerade in tausenden Meter Höhe in seinem kleinen Zelt auf besseres Wetter wartete. Tja, und schon sind die Koffer wieder gepackt. Ferien sind ja so was von vergänglich.