Zeitenwende - vom Leben nach der blista

von Oliver Habersetzer, Abitur 2016

Grundschulzeit

Ich bin mit einem Gendefekt - okulärer Albinismus - geboren worden, der nur meine Augen betrifft. Deshalb bin ich auch weder hellblond noch weißhäutig, dafür aber kurzsichtig und sehe noch etwa 13% - damals in meiner Grundschulzeit waren es noch 30%.

Bevor es mit der Grundschule los ging, haben sich meine Eltern mit den verantwortlichen Lehrpersonen ausgetauscht, Hilfsmittel für mich organisiert und dafür gesorgt, dass regelmäßig eine Lehrerin von der Severin-Schule in Köln, das ist eine Förderschule mit Schwerpunkt Sehen, zu mir in die Grundschule kam, um mich bei meinen besonderen Bedürfnissen zu unterstützen.

Viele Schüler*innen der blista kennen aus eigenen schmerzlichen Erfahrungen, was es bedeuten kann, an einer Regelschule “anders” zu sein und von den Lehrer*innen “bevorzugt” zu werden. Neben den üblichen Hänseleien kam es bei mir aber auch noch zu körperlichen Übergriffen und Handgreiflichkeiten durch meine Mitschüler*innen, weswegen ich zumeist lieber für mich blieb und Bücher mit meiner Lupe las, obwohl das Lesen mit einer Lupe mir damals schon schwerfiel. Die einzigen zwei Freunde, die ich hatte, wohnten in meiner Straße und waren nicht auf meiner Schule - mit einem von ihnen bin ich auch heute noch gut befreundet. Am Ende meiner Grundschulzeit wurde mir trotz durchschnittlicher Noten empfohlen, ein Gymnasium zu besuchen.

blista

Von der blista habe ich über die Severin-Schule erfahren. Mir fiel es aufgrund meiner negativen Erfahrungen mit der Regelbeschulung nicht schwer, mich für einen Wechsel an die blista zu entscheiden. Während der dortigen Probewoche hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, nicht nur geduldet zu sein, sondern dazu zu gehören. Viele der anderen Teilnehmer*innen der Probewoche hatten Ähnliches erlebt und niemand versuchte sich aufzuspielen oder andere nieder zu machen. So wurde ich Blistaner und habe von 2007 bis zu meinem Abitur 2016 im Internat der blista gewohnt. Alle – Lehrer*innen, Schüler*innen und Be-treuer*innen - waren von Anfang an im Umgang respektvoll und sehr nett und ich hatte dort viel Spaß am Lernen - aber vor allem am Kindsein!

Der Weg zum Abitur

Mein Vater ist Flugzeugelektroniker und ich war schon immer sehr neugierig. Ich habe so gut wie alles, was mir unter die Finger kam, zerlegt und versucht zu verstehen, wie es funktioniert. Als ich herausfand, dass wir ab der siebten Klasse Notebooks bekommen würden, lernte ich vorher schon aus Spaß, und ohne irgendwas am Rechner ausprobieren zu können, Programmieren mit Stift und Papier.

Als wir unsere Notebooks erhielten, war ich nicht mehr zu bremsen. Ich programmierte oft heimlich während des Unterrichts oder in Pausen. Ich bastelte so viel, dass ich mehrfach Ärger bekam, weil ich unter anderem mein Notebook auseinandergenommen hatte, ich die Sicherheitssoftware umging und ein anderes Betriebssystem installierte - alles ohne das zu dürfen natürlich - und auch nicht immer erfolgreich. Wurde ich bei meinen Machenschaften ertappt oder brauchte ich Hilfe beim Rückgängigmachen, bat mich die IT-Abteilung der blista hin und wieder zu “Gesprächen“.

Dieses anfängliche bloße Interesse entwickelte sich über die Jahre zu einer Passion. Ich nutzte den Computer zur Programmierung, zum Musizieren, Zeichnen, Spiele Entwickeln und noch einiges mehr. Englisch und Mathematik wurden für mich zu einem Teil meines Hobbys, da das Internet alle notwendigen Ressourcen zum Selbstlernen oft nur in englischer Sprache darbot und weil Mathematik und Programmierung sich doch sehr ähneln.

Ich war durch meine Faulheit kein Überflieger in der Schule - ich lernte selten und beschäftigte mich lieber mit Programmieren oder Zocken. Aber meine Noten waren zumeist recht gut. Sehr gut, wenn ich mir Mühe gab.

Während der sogenannten BOSS-Tage, an denen auch eine Info-Veranstaltung mit ehemaligen Blistaner*innen aus verschiedenen Berufsbereichen stattfand, interessierte mich nur der Bereich IT. Damals fragte ich mich immer, wie ich der Einzige sein konnte, der schon genau wusste, was er mal machen möchte. Ich sah nicht, wie selten sowas war und wie viel Glück ich hatte, schon mit elf Jahren meine Passion entdeckt zu haben.

Bei den Praktika, die wir während der Oberstufe absolvieren mussten, arbeitete ich in einem kleinen PC-Reparatur-Laden, habe mir die Informatikausbildung der blista angesehen und die Technische Hochschule Mittelhessen THM in Gießen mitsamt dem Zentrum für blinde und sehbehinderte Studierende (BLiZ) besucht. Außerdem war ich während der Ferien freiwillig als Praktikant in der Firma meines Vaters und half Flugzeuge zu warten – sich schon während der Schulzeit in der Arbeitswelt umzuschauen, seine Interessen auszuloten und die Hilfs- und Informationsangebote der blista auch zu nutzen, das kann ich jedem nur empfehlen.

Ein modernes Gebäude. Oben steht "THM".
Technische Hochschule Mittelhessen

Mein Informatikstudium

Nach meinem Abitur entschied ich mich für ein Studium an der THM, die ich bereits während meiner blista-Zeit kennengelernt hatte. Am Anfang war ich sehr einsam, da ich aus meinem Abi-Jahrgang als einziger nach Gießen gezogen war. Immerhin blieben einige meiner Bekannten in Marburg, so dass man sich an Wochenenden weiterhin treffen konnte. Im Laufe der Zeit lernte ich auch in Gießen einige nette Leute kennen und wurde Teil einer Gruppe, deren Mitglieder wohl als klassische „Nerds“ galten. An Vorlesungen nahmen wir fast immer aktiv teil (wenn wir nicht zu müde von durchzockten Nächten waren) und saßen immer in der ersten Reihe. Aufgrund meiner Seheinschränkung erhielt ich für Klausuren auf Antrag beim Prüfungsamt einen Nachteilsausgleich, also eine Zeitverlängerung für die Bearbeitung der Klausuren, von 50 – 75 Prozent. Außerdem durfte ich die Klausuren in den Räumen des BLiZ am Computer schreiben.

Alles in allem hat mich meine Sehbehinderung während des Studiums wenig eingeschränkt. Eher war das Gegenteil der Fall. Dass ich gezwungen war, Kommiliton*innen um Hilfe beim Entziffern des an die Tafel Geschriebenen oder dem Erkennen eines Bildes, das vom Beamer an die Wand geworfen wurde, bitten musste, hat mir sehr dabei geholfen, mich zu öffnen und das Gespräch mit anderen zu suchen. Unnötig schwer wurde es mir aber von einigen Dozierenden gemacht, die ihre Vorlesungsskripte nicht aushändigen wollten. Dadurch hätte ich der Vorlesung oder dem Seminar besser folgen können und nicht jedes Mal erraten müssen, was gerade an die Tafel geschrieben wurde. Es hieß dann, dass das Skript erst spontan im Verlauf des Seminars entstand, oder dass die Dozierenden befürchteten, ich würde es an Kommiliton*innen weitergeben. Das ist eben der Unterschied zwischen Anspruch und Wirklichkeit bei der Barrierefreiheit im Studium.

Die Arbeitswelt

Von einem sehr guten Freund, mit dem ich in fast jeder Vorlesung zusammensaß und der immer wieder „meine Augen spielen“ musste, wurde ich auf eine Werkstudentenstelle aufmerksam gemacht. Ich war zwar nicht auf das Geld angewiesen, aber dennoch interessiert, doch leider hatte sich ein Kumpel von mir bereits dort beworben. Also dachte ich mir, dass sich eine echte Stelle als Programmierer zum Beispiel bei einer Bank noch während des Studiums sicher auch gut in meinem Lebenslauf machen würde.

Also schrieb ich meine Bewerbung und saß schon bald darauf vor einigen Senior-Entwicklern einer Bank, die mich beurteilen sollten. Trotz meiner Nervosität konnte ich meine Begeisterung für Programmierung und Technik wohl sehr gut rüberbringen, denn kurz darauf waren zwei meiner Freunde und ich Mitarbeiter bei einer schwedischen Firma (Klarna) für Zahlungslösungen im Bereich E-Commerce. Weder bei der Arbeit noch bei der Bewerbung war meine Sehbehinderung ein großes Problem. Hilfsmittel, in meinem Fall ein großer Monitor, wurden mir umstandslos zur Verfügung gestellt und meine Kolleg*innen unterstützten mich anstandslos, falls ich doch einmal Hilfe brauchte. Übrigens hat zu dieser Zeit sogar ein komplett blinder Ex-Blistaner in einer ähnlichen Position dort gearbeitet.

Mein Traumjob

Wie schon erwähnt, mache ich auch Musik mit dem PC. Die Software, die ich dazu nutze, heißt FL Studio. Als ich mit meiner Bachelorarbeit fast fertig war, wurde ich im Online Forum für FL Studio aktiv und redete über meine Begeisterung für Audioprogrammierung und darüber, dass ich dieses Thema sogar in meiner Bachelor-Abschlussarbeit bearbeitet hatte.

Wenige Stunden später erhielt ich eine E-Mail vom COO (Chief Operating Officer) der Firma, der mich um meinen Lebenslauf bat. Kurz darauf hatte ich insgesamt drei sehr positiv verlaufende Bewerbungsgespräche mit Mitarbeitenden der Firma. Alle schienen von meinem Enthusiasmus über Musik und Programmierung begeistert zu sein und alle gaben mir ihre unverbindliche Zusage. Mir wurde sogar angeboten, den Informatik Masterstudiengang parallel absolvieren zu können. Das könnte bei späteren Berufswechseln oder auch bei Beförderungen und Gehaltsverhandlungen natürlich von Vorteil sein. Zudem wurde mir versichert, dass das nicht notwendig sei, um dort zu arbeiten. Also sagte ich einfach zu.

Meine Seheinschränkung kam beim Einstellungsverfahren nur am Rande zur Sprache. Ich wurde lediglich gefragt, inwiefern ich eingeschränkt sei und was ich zum Arbeiten im Home-Office benötigen würde – ein Büro besitzt diese Firma nicht. Mir wurde ein großer Monitor zum Programmieren und ein iPad zum Testen unserer Anwendung zur Verfügung gestellt. Nun arbeite ich schon seit zwei Jahren in der Firma und bin extrem dankbar dafür, an zwei meiner größten Hobbies gleichzeitig arbeiten zu dürfen. 

Was habe ich gelernt?

Ich sage heute oft, dass die blista das Beste war, was mir im Leben passieren konnte. Viele meiner Mitschüler*innen haben sich damals über die blista beschwert, aber für mich war die blista die Rettung aus dem Regelschulsystem, vor Mobbing und Misshandlung. Darüber hinaus ist die Qualität der Betreuung zu meiner Zeit überragend gewesen. Leider schicken immer weniger Bundesländer Schüler*innen auf die blista und so werden viele Kinder mit Seheinschränkung diese positiven Erfahrungen mit Bildung nicht mehr machen können. Inklusion ist für die meisten Sehbehinderten, die ich kenne, die das auch selbst erlebt haben, ein Schimpfwort oder bestenfalls ein Witz. “Anders”-Sein kann gefährlich sein, manchmal physisch, aber auf jeden Fall für die Psyche.

Meine Behinderung hat mir Türen geöffnet, die vielen anderen verschlossen bleiben, und ich bin dankbar dafür. Es ist keine Schande um Hilfe bitten zu müssen. Die meisten Leute, die ich kennengelernt habe, waren stets hilfsbereit. Klar ist man mit einer Sehbehinderung in vielen Dingen benachteiligt, also ist es auch nicht verkehrt, hin und wieder diesen Joker für sich zu nutzen.

Mein Rat: Du solltest nicht versuchen, deine Sehbehinderung zu verstecken, um irgendwie normal zu wirken, niemand ist perfekt. Ein offener und positiver Umgang mit der eigenen Behinderung, das Wissen um Grenzen und Bedürfnisse und die eigene Bereitschaft, dies nach außen zu kommunizieren, hilft in vielen Situationen weiter. Definiere dich nicht über deine Behinderung. Sie hat nur genau so viel Gewicht, wie du ihr beimisst. Ist jetzt schön gesprochen bzw. geschrieben, ist aber ein langwieriger und zuweilen harter Lernprozess, während dessen man auch so manche falsche Entscheidung trifft, aus Angst vorm Scheitern der Augen wegen. Ich habe mich zum Beispiel für ein Studium an der THM Gießen entschieden, da ich davon ausgegangen bin, dass dort die Unterstützung für sehbehinderte Studierende besser gewährleistet sei – und dazu wurde mir auch geraten. Dass bedeutete aber in meinem Fall die Trennung von meiner langjährigen Freundin, die weniger ängstlich war und sich damals für ein Studium an einer „normalen“ Uni entschied, nur um später festzustellen, dass es in Sachen Barrierefreiheit oder besser gesagt in Sachen Barrieren keine so großen Unterschiede gegeben hat zwischen den Universitäten und sie es andernorts, obwohl sie blind ist, ebenso geschafft hat.

Ich wünsche allen Schüler*innen, die noch nach mir kommen, alles Gute und viel Erfolg und Unterstützung bei der Suche nach ihrem Traumberuf. Ich hoffe meine Gedanken und Erfahrungen können jemandem helfen!

Servus, Olli