Zeitenwende - vom Leben nach der blista

Wege entstehen, wenn man sie geht

Abitur – und dann?

Bianca Kronhardt, Abi 2007

Schon während der Berufsorientierungs­wochen in der Oberstufe war mir klar, dass meine beruflichen Wahlmöglichkeiten durch meine Einschränkungen (visuell und körperlich) eng begrenzt sind – was natürlich auch ein Vorteil sein kann, denn wer die Wahl hat, hat die Qual. Gequält hat mich eher, trotz zahlreicher Informationsveranstaltungen die ich an der Uni besucht hatte, eine gewisse Verunsicherung, denn ich würde in den ­ersten Durchlauf des neu eingerichteten ­Bachelorstudiengangs hineingeraten. Zumindest, wenn ich mich für ein Studium der Erziehungs- und Bildungswissenschaften in Marburg entscheiden würde. Alles Vertraute wollte ich nach der Zeit an der blista dann doch nicht auf einen Schlag hinter mir lassen, und ein wenig hoffte ich auch, dass ich an der Uni Marburg mit meiner Sehbehinderung keine totale Exotin wäre – so, wie ich es an der Regelschule vor der blista-Zeit erlebt hatte.

FSJ – nicht umsetzbar und doch eine wertvolle Erfahrung für mich

Gebäude der Uni Marburg

Mit dem Gedanken, Versuchskaninchen im neuen Studienmodell zu werden, ging es mir nicht gut. Außerdem fühlte ich mich trotz Berufsorientierungs-Wochen an der blista noch nicht sicher in meiner Entscheidung über meinen zukünftigen Werdegang. Eine Frage wollte vorher noch beantwortet werden: Würde in der pädagogischen Praxis alles so klappen, wie ich es mir vorstellte und wünschte?

Also machte ich mich ernsthaft auf die Suche nach einer Möglichkeit für ein Freiwilliges Soziales Jahr. Ich informierte und bewarb mich bundesweit – so schwierig konnte das doch alles nicht sein, dachte ich jedenfalls. Von Seiten der Träger wie Kirche, Rotes Kreuz etc. herrschte von Anfang an große Skepsis, ob ein Einsatzfeld für mich gefunden werden kann, das meinen Möglichkeiten entspricht und gleichzeitig Entlastung für die mich beschäftigende Einrichtung bringt. Der finanzielle Aspekt stand für mich dabei nicht im Vordergrund – ich wollte in erster Linie Erfahrungen sammeln. Also erklärte ich mich bereit, auch einen Platz für 16jährige FSJler statt einen ab 18 Jahre anzunehmen, wobei der Unterschied in der Staffelung des Aufgabenprofils und der Eigenverantwortung lag. Ich führte einige Gespräche mit einer Kita-Leiterin, die mich bereits aus einem Praktikum kannte und sich grundsätzlich vorstellen konnte, mich einzustellen. Allerdings ereignete sich in dieser Zeit in einer Nachbar-Kita ein tragischer Unfall, der uns alle erschütterte: Ein Kind strangulierte sich beim Spielen auf einer Rutsche mit einem Hüpfseil. Obwohl sich später herausstellte, dass in diesem konkreten Fall kein Verschulden einer Aufsichtsperson maßgeblich war, bekam die Frage der Aufsichtspflicht einen ganz neuen Stellenwert in meinen Überlegungen. Wie kann ich dieser mit meiner Sehbehinderung überhaupt nachkommen? Sollte ich vielleicht immer auf eine Arbeitsassistenz angewiesen bleiben, wo ich doch so eigenständig wie möglich arbeiten möchte? Fällt die Arbeit mit Kindern für mich grundsätzlich als Option weg, sobald die Gruppen zu groß sind? Statt mich mit rechtlichen Bestimmungen auseinanderzusetzen und so Antworten auf meine Fragen zu finden, entschloss ich mich letztlich, das Kapitel FSJ ad acta zu legen – zumal ich auch aus den oben genannten Gründen als FSJlerin abgelehnt wurde. Ich begann also mein Studium: in Marburg, als Versuchskaninchen im neuen Studienmodell Erziehungs- und Bildungswissenschaften mit dem Abschluss Bachelor of Arts. Zur Sicherheit stellte ich einen Härtefallantrag für die Zulassung an der Uni, um auf jeden Fall einen Studienplatz zu bekommen.

Mein Studium – zwischen Theorie und Praxis

Das Studium in Marburg erlebte ich wie Busfahren: voll. Viele, viele Leute, und wenn ich Glück hatte, traf ich jemanden, den ich kannte. Gezielt auf jemanden zuzugehen ist für mich eher schwierig, da ich kaum Gesichter wiedererkennen kann und den Überblick in einer Menge schnell verliere. Und dabei war es verglichen mit anderen Studiengängen noch eine eher kleine Kohorte von ca. 100 Studierenden, allerdings vor der Aufteilung in die beiden inhaltlichen Schwerpunkte Erwachsenenbildung und Außerschulische Jugendbildung sowie Sozial- und Rehabilitationspädagogik. Wie etwa 80 meiner Kommilitonen wählte ich den letztgenannten Schwerpunkt.

Hochhaus der Uni Marburg

Einerseits fand ich es sehr einfach, mich im Studium hinter Büchern und Hausarbeiten zu verstecken und in die Theorie des Fachs einzutauchen. Darin lagen meine Stärken. Andererseits wusste ich aber sehr wohl, dass ich nur durch verschiedene Praktika eigene Erfahrungen sammeln, mich ausprobieren und mir ein Profil bilden konnte. Das Studium ist eine sehr allgemeine Qualifikationsphase, sodass einem nach dem Abschluss zahlreiche Wege offenstehen – ich war mir nur nicht sicher welche. Deshalb ergänzte ich die acht Wochen Pflichtpraktikum im sechssemestrigen Bachelorstudium durch zahlreiche freiwillige Praktika. Auch hier war es für mich nicht immer einfach, etwas Passendes zu bekommen. Ohne dass ich es in dieser Phase bereits für mich klar hatte, zog es mich immer deutlicher zu Fragen der Inklusion, in den Bereich Beratung und zu Möglichkeiten und Strategien des Lernens.

Weil ich nach dem Bachelor kaum Geduld für die Jobsuche aufbrachte – u.?a. hätte ich mir zunächst einmal einen Überblick darüber verschaffen müssen, welche beruflichen Wege mir mit einem Bachelorabschluss überhaupt offen stehen – entschloss ich mich kurzerhand, den Master in Erziehungs- und Bildungswissenschaften anzuschließen. Weil ich eigentlich einen praktischen Beruf anstrebte, schreckte mich die Forschungsorientierung des Studiums in Marburg zunächst ein bisschen ab. Gegen Ende des viersemestrigen Masters und nach intensivem privatem Austausch mit forschungsbegeisterten Menschen fand ich aber für mich einen immer besseren Zugang zu diesem Gebiet, und meine Begeisterung wuchs. Auch wenn mir – wie auch schon im Bachelor – niemand wirklich sagen konnte, welche Chancen und ­konkreten Berufsaussichten ich damit anschließend haben würde. Durch den Studienschwerpunkt „Beratung“ im Master entschied ich mich, eine empirische (forschende) Masterarbeit zu schreiben, in der ich selbst Daten erhob und vor dem Hintergrund entsprechender Theorien auswertete. Der Wunsch, aus Marburg wegzugehen und einen Neuanfang zu starten, war mittlerweile groß. Also entschloss ich mich, meine Abschlussarbeit in einer Rehaklinik mit Schwerpunkt Orthopädie/Geriatrie in Nordrhein-Westfalen zu schreiben. Dort hospitierte ich, parallel zu der Befragung von ­Patienten, im Sozialdienst. Die doch sehr intensiven Erfahrungen, die ich in diesem ­Bereich machen durfte, und die begrenzten Unterstützungsmöglichkeiten, die es für ­Patienten im Umgang mit ihrer schwierigen Lebenssituation nach Krankheit und Krisen gab, waren für mich sehr ernüchternd und ließen mich schnell Abstand von einer Arbeit in diesem Berufsfeld nehmen. Meinem Interesse an pädagogischer Identitäts- und Angehörigenarbeit hätte ich dort nicht nachgehen können.

Einschub: Studium mit Sehbehinderung

Zu Beginn meines Studiums arbeitete ich am PC komplett ohne Hilfsmittel: Wenn ich nah genug am Monitor war, konnte ich alles noch gut lesen, ohne dass es für mich anstrengend war. Digitale Materialien bekam ich von den Dozenten allerdings nur auf Anfrage und selten vor der Veranstaltung – jetzt als Lehrende an der Uni weiß ich auch, dass u.?a. ein anderes Zeitmanagement erforderlich ist, wenn Material vorher fertig sein muss. Wie schon an der Regelschule verließ ich mich daher hauptsächlich auf mein Gehör und schrieb viel mit. Private Gespräche der Kommilitonen erschwerten mir dies, sodass ich recht schnell zum strebsamen unkommunikativen Außenseiter wurde – oder mich selbst dazu machte. Mit einiger Eigeninitiative konnte ich mir die benötigte Unterstützung für Prüfungen und Klausuren gut organisieren, auch wenn der Bibliotheks­bestand in meinem Fach insgesamt sehr veraltet war. Digitale Medien gab es kaum. E-?learning und Lernplattformen lagen noch in ihren Anfängen. Die älteren Lehrenden ­arbeiteten in der Regel noch mit Handapparaten, das heißt sie hinterlegten in der Bibliothek Bücher und Folien zum Kopieren. Daher verbrachte ich viel Zeit damit, Literatur zu scannen. Mit zunehmender Textmenge nahm ich schließlich auch die Unterstützungsmöglichkeiten durch Vergrößerungssoftware und Sprachunterstützung dankend an. Was das Erreichen der einzelnen Veranstaltungen im Studium betraf, hatte ich einen sehr dezentral organisierten Fachbereich erwischt. Mitunter brauchte man zwischen den Veranstaltungen die komplette halbstündige Pause, um die vorhandene ­Distanz zwischen den Veranstaltungsorten zurückzulegen.

Eingang zum Hörsaalgebäude

Vom Studium in den Beruf

Nach meiner ernüchternden Erfahrung mit Kliniksozialdiensten stellte sich mir die Frage nach meinem Berufswunsch erneut. Insgesamt hatte ich nach dem Studium das Gefühl, generell viele Möglichkeiten zu haben, aber keine vertieften Kompetenzen, an die ich unmittelbar hätte anknüpfen können. Also bewarb ich mich erstmal auf alles, was passend schien. Ich wollte aus privaten Gründen gerne in NRW bleiben. Nach meinem Masterabschluss im Sommer 2014 konnte ich erfreulicherweise schon im darauffolgenden November als wissenschaftliche Mitarbei­terin an einer Uni anfangen zu arbeiten. Mit der vierjährigen Tätigkeit in Forschung und Lehre war auch die Option zu promovieren verbunden. Inhaltlich schloss das an meine Interessen aus dem Bachelorstudium an: ­Umgang mit Heterogenität und Inklusion in der Lehrerbildung für Grund- und Förderschulen.

Chancen und Grenzen im Arbeitsalltag

Etwa sechs Wochen nach Einstellung eröffneten mir meine Chefs, dass sie mich für ein Projekt im Bereich Unterrichtsforschung in der Grundschule vorgesehen hatten. Die Auswertung von selbsterstellten Videoaufzeichnungen sollte Aufschluss über inklusive und exklusive Kommunikationsstrukturen im Unterricht geben. Aus meinen Bewerbungsunterlagen gingen u.?a. meine Einschränkungen hervor. Ich ahnte Schreckliches. Schon während des Studiums hatte ich große Schwierigkeiten, für mich passende Lösungen für den Besuch von Seminaren zu finden, in denen es um Bildinterpretationen beziehungsweise um teilnehmende Beobachtungen von Theaterstücken ging.

Deshalb entschloss ich mich, mit meinen Befürchtungen gleich zu Beginn offen umzugehen. Aber ich hatte während der ganzen Zeit das Gefühl, dass es mir nicht wirklich gelang, meine Sehbehinderung, die damit einhergehenden Einschränkungen und die für mich damit verbundenen Befürchtungen hinsichtlich der Möglichkeit, eigenständig wissenschaftliche Forschungsarbeit zu betreiben, verständlich zu vermitteln. Bis zum Ende der Probezeit klärte sich nicht, wie ich erhofft hatte, wie ich in diesem Projekt mitarbeiten könnte. Für meine Chefin stand allerdings fest, dass meine Dissertation sehr eng an das Projekt gekoppelt sein sollte. ­Einerseits war ich froh, weiter beschäftigt zu bleiben, anderseits fühlte ich mich den Anforderungen definitiv nicht gewachsen. Ausschließlich mit Videodaten zu arbeiten, die jemand anders transkribiert hatte, wäre wissenschaftlich zulässig gewesen. Für mein Gefühl entsprach dies aber nicht einer eigenständigen wissenschaftlichen Leistung, da Transkriptionen insbesondere von Videos ­bedeuten, aus der Fülle von Material auszuwählen und zu deuten. Ich fühlte mich von anderen Personen und deren Interpretationen zu sehr abhängig und zu wenig in den Forschungsprozess involviert.

Wieder ergriff ich die Initiative: Auf die Gefahr hin, auf unbestimmte Zeit ohne Job zu sein, kündigte ich. Vorher hatte ich alle Möglichkeiten, innerhalb der Arbeitsgruppe andere Aufgaben übernehmen zu können, mit einer Assistenzkraft zu arbeiten etc., ohne positives Ergebnis für mich geprüft. Meine Chefin zeigte sich in diesem Gespräch sehr überrascht darüber, dass ich gehen wollte. Ich hätte doch eine hohe Fachkompetenz und sei eine gute Mitarbeiterin. Sie bot mir an, mich auf meiner Jobsuche zu unterstützen, und leitete mir Stellenanzeigen weiter.

Neue Arbeitsgemeinschaft, neuer Chef, neues Aufgabenfeld

Nach meinem herausfordernden ersten Arbeitsjahr konnte ich zum Oktober 2015 an der gleichen Uni in einer anderen Arbeits­gemeinschaft eine Stelle als Lehrkraft für ­besondere Aufgaben übernehmen. Das bedeutete zunächst mehr Lehrveranstaltungen für mich. Dank des Engagements meines neuen Chefs konnte ich es allerdings so organisieren, dass mir trotzdem noch genug Zeit für Forschung und Dissertation bleibt – nun zum Themenfeld: Inklusion in der Oberstufe. Mein Chef leitete das Gespräch dazu mit folgenden Worten ein: „Ich weiß von Dir, dass Du gerne mit Texten und nicht mit Bildern oder Videos arbeiten möchtest ...“. Auch meine neuen Kollegen boten mir von sich aus ihre Hilfe an und erkundigten sich, wo ich welche Unterstützung benötige – und so hatte ich von Anfang an ein gutes Gefühl.

Fotos: Daniela Junge