Zwischen Augenbinde und dem Gesang des Muezzin
Ein Erfahrungsbericht über die Basisfortbildung zur Orientierung und Mobilität blinder Menschen in Jordanien
Gert Willumeit | Als mich Dr. Werner Hecker kurz vor dem Beginn der Sommerferien 2023 fragte, ob ich mir vorstellen könne, für zwei Wochen nach Jordanien zu reisen, um dort einen „Crash-Kurs“ zur Orientierung und Mobilität (O&M) blinder Menschen durchzuführen, musste ich erstmal schlucken. Doch nach wenigen Sekunden sagte ich spontan zu.
Neben sprachlichen wie auch kulturellen Unwägbarkeiten stellte sich mir die Grundsatzfrage: Wie soll ich einen auf nur 10 Tage komprimierten Grundkurs zur O&M sehbeeinträchtigter Menschen mit vier bis sechs Teilnehmer*innen sinnvoll realisieren, wenn an der blista diese Ausbildung neun Monate dauert? Wie soll das gehen, ohne die Kursteilnehmer*innen, ohne mich zu enttäuschen?
Doch nach den ersten beiden Online-Meetings wurde mir klar, was Dr. Hecker meinte, als er von der sehr kompetenten und freundlichen Mitarbeiterin Maisaa Masoud vom VRC sprach - dem „Vision-Rehabilitation-Center“ der „German-Jordanian-University“(GJU). In nur fünf Online-Meetings einigten wir uns auf die Themen:
a) Einführung in die Techniken der Sehenden Begleitung (die Führung Hand und Arm)
b) Einführung in die Raum- und Gebäudeorientierung,
c) Demonstration verschiedener Langstocktechniken und mehrfache intensive Übungseinheiten zur Pendelrolltechnik im Hof der GJU,
d) Einführung in die Orientierung und Mobilität mit dem Langstock in Gebäuden mit mehreren Stockwerken und im Gelände der GJU sowie
e) Einführung in die Orientierung & Mobilität im weniger sowie im stark vom Verkehr frequentierten Straßenbereich mit dem Ziel der Lokalisierung einer Bushaltestelle.
Kurz vor Abreise stand fest, dass Frau Masoud und vier weitere Teilnehmerinnen den Basiskurs absolvieren werden. Ein männlicher Kollege konnte aus zeitlichen Gründen leider nicht teilnehmen. Aber wie sollte das gehen? Ich, Sehende Begleitung mit Frauen, die in ihrem Glauben an Allah fest verwurzelt sind? Die keinem fremden Mann auch nur zur Begrüßung kurz die Hand reichen würden.
Die Teilnehmerinnen einigten sich mit mir auf drei Grundsätze für den Kurs:
- Sie können dann beten, wenn sie es für erforderlich halten: Ihre Religion ist wichtiger als der Kurs.
- Die Teilnehmerinnen können ihren Lehrer nicht nur fragen, sondern auch kritisch hinterfragen, um Missverständnisse und insbesondere subjektive Erfahrungen in blindenspezifischen Unterrichten zu erörtern; Hauptziel ist, dass sie sich nach dem Lehrgang im Verbund mit ihren zukünftigen Erfahrungen als O&M-Lehrerinnen weiter entwickeln können.
- Zur Vermittlung der Techniken der Sehenden Begleitung trage ich Baumwollhandschuhe.
So kam es, dass ich zum ersten Mal am Arm einer Frau ging, die ihr Kopftuch derart akkurat trug, dass auch nicht nur ein einziges Härchen zu sehen war. Getoppt wurde diese besondere Situation schließlich dadurch, dass ich unter der Augenbinde leicht erschrocken den „Gesang des Muezzin“ vernahm. Als Musikliebhaber konnte ich daher mit Augenbinde und Handschuh dieses für mich außergewöhnliche, musikalische Ereignis genießen. Wie wichtig Augenbindenerfahrungen den Teilnehmerinnen waren, zeigen auch die Bilder mit Studierenden und Angehörigen der GJU.
Mit Dank an Dr. Werner Hecker und insbesondere bei den Kursteilnehmerinnen Ayat, Dania, Maisaa, Sanaa und Yosur für die vielen, außergewöhnlichen Erfahrungen; für ihr Vertrauen, ihre vielen wichtigen und bisweilen kritischen Fragen, ihre unermüdliche Motivation und Konzentration, ohne die der intensive „Crash- Kurs“ nicht gelungen wäre.