Zeitenwende - vom Leben nach der blista

Von der Schulbank in den Hörsaal

Alex Haar, Abitur 2012 | Schon bevor ich das Abitur endgültig in der Tasche hatte, stand für mich fest, dass ich direkt von der Schulbank in den Unihörsaal wechseln werde. In der Schule lagen meine Stärken eindeutig im naturwissenschaftlichen Bereich, folglich entschied ich mich für ein Lehramtsstudium in den Fächern Mathematik und Physik, den Beruf des Lehrers kannte ich ja – zumindest aus der Schülerperspektive. Da ich über einen verhältnismäßig guten Sehrest verfüge – auf einem Auge bin ich zwar blind, aber mit dem anderen kann ich noch recht gut sehen - konnte ich auch davon ausgehen, dass mir meine Seheinschränkung im Studium nicht allzu sehr im Wege stehen würde. Und für alle Fälle gab es noch den sehr engagierten Behindertenbeauftragten der Universität, an den ich mich wenden konnte, damit mir daraus kein Nachteil entstehen würde. Fortan sollte es nun für mich heißen: Nicht nur bei ARD und ZDF sitzen Sie in der ersten Reihe, sondern auch im Hörsaal. Ganz vorne waren in der Regel auch immer die meisten Plätze frei, denn zu nah beim Dozenten wollten nur die wenigsten sitzen. Von dieser Position aus konnte ich das auf die Tafel Geschriebene und Gezeichnete ganz gut erkennen.

Aber manchmal stieß ich dabei an meine Grenzen, wenn die Dozenten z. B. viel an die Tafel schrieben und zusätzlich auch noch schnell redeten. Dann stand ich vor der Wahl: mitschreiben oder zuhören. In diesem Fall benutzte ich mein Smartphone, um Fotos von der Tafel zu machen, sodass ich den Stoff anhand der digitalen
Aufzeichnungen zuhause in Ruhe nacharbeiten konnte. Das war mir jedoch nur dann möglich, wenn die Dozenten diesem Vorgehen zustimmten.

Exkurs: Studium und Sehbehinderung

Eine der ersten und wichtigsten Anlaufstellen vor Beginn eines Studiums sollte der Behindertenbeauftragte der jeweiligen Hochschule oder, wenn vorhanden, des jeweiligen Fachbereichs sein - ob es um den Einsatz von Hilfsmitteln in Vorlesungen und Prüfungen geht oder um Zeitverlängerungen bei Prüfungen oder die Bewilligung einer persönlichen Vorleseassistenz – auf die meisten Fragen hat er eine Antwort parat. Er kann auch Auskunft erteilen über Art und Umfang deines individuell angepassten Nachteilsausgleichs bei deinem speziellen Grad der Behinderung. Und noch ein Tipp: Spielst du mit dem Gedanken, dir zum Beispiel eine Tafelkamera zuzulegen, dann kümmere dich frühzeitig um die Beschaffung. Stehen dir die benötigten Hilfsmittel nicht gleich zur Verfügung, kannst du in vielen Studiengängen recht schnell ins Stolpern geraten und den Anschluss verlieren - das nennt man wohl einen guten Ratschlag – tja, vielleicht hätte ich doch weiter auf Lehramt studieren sollen ;-)

Das 1. Semester - der Schein trügt

Doch der Reihe nach. Ich begann mein Studium zum Wintersemester 2012 an der Philipps-Universität in Marburg. Vor dem Beginn der eigentlichen Vorlesungen gab es zunächst eine Orientierungswoche, die dazu dienen sollte, sich mit dem Studium und seinen Abläufen vertraut zu machen. Mein erster Eindruck von meinem Studiengang war, dass alles doch recht einfach zu sein schien und das Studium nicht übermäßig viel Lebenszeit kosten würde. Ich sollte im ersten Semester nur eine zweistündige Vorlesung im Fach Physik und in Mathe eine vierstündige Vorlesung über zwei Termine verteilt belegen, dazu gesellten sich noch in jedem Fach Begleittutorien. Alles in allem waren das so an die 12 Stunden in der Woche, in denen ich an der Universität präsent sein musste. 12 Stunden - das musste doch bequem zu schaffen sein, dachte ich jedenfalls. Und "musste" ist an dieser Stelle auch nicht ganz richtig, denn es gab im Grunde kaum eine Anwesenheitspflicht. Es hing also alles von mir selber ab. Nicht wenige der Erstsemester - dazu durfte ich mich anfangs bedauerlicherweise auch zählen - haben das mit dem eigenverantwortlichen und selbstständigen Studieren doch etwas auf die zu leichte Schulter genommen. Es gab ja so viel Neues und Interessantes zu entdecken, so viele neue Menschen kennenzulernen. Aber zumindest hatten wir schon einmal Lerngruppen zur Nachbereitung unserer Vorlesungen gebildet und meinten nun, die scheinbar reichlich vorhandene restliche Zeit unseres neuen Lebens als Studierende genießen zu können.

Doch schon nach zwei Wochen musste ich feststellen, dass das Tempo, mit dem die Inhalte der Vorlesungen durchgenommen wurden, nicht mit der Geschwindigkeit in der Schule zu vergleichen war. Nach nur sechs Vorlesungsstunden in Mathematik waren alle Themen, die man noch aus der Schule kannte, abgehandelt. Nun begann das mathematische Neuland für alle. Also fing ich an, mich häufiger mit meinen Lerngruppen zu treffen, um am Ball in Form der „Zettel“ zu bleiben.

Zettelwirtschaft

Die wöchentlichen "Zettel", so nannten wir die Aufgaben, die wir innerhalb einer Woche lösen und fristgerecht abgeben mussten. Sie sollten uns Rückmeldung darüber geben, ob wir genug Zeit in die Nachbereitung der Vorlesungen investiert hatten oder nicht. Das Abarbeiten der Zettel geschah in unseren Lerngruppen, sozusagen als Gruppenarbeit. Jedoch hatte jeder am Ende seinen eigenen Zettel abzugeben. Dabei musste man mindestens 50 % aller Aufgaben korrekt gelöst haben, um zur Semesterabschlussprüfung zugelassen zu werden. Natürlich wäre es möglich gewesen, sich eine Zeitlang hinter der Lerngruppe zu verstecken, aber spätestens bei der obligatorischen Semesterabschlussprüfung hätte man dafür die Quittung bekommen. In den Tutorien erfuhr man, was man bei den Aufgabenstellungen richtig und was man falsch gemacht hatte, denn dort wurden die meisten Aufgaben vorgerechnet und offene Fragen geklärt. In den Vorlesungen gab es selten die Möglichkeit, eine Verständnisfrage zu stellen. Wo käme man denn auch hin, wenn der Dozent jede Frage der bis zu 300 Anwesenden beantworten müsste? Man sitzt also still an seinem Platz, versucht, alles zu verstehen und schreibt fleißig mit. In den meisten Fällen braucht man das eigene Skript, um sich später sinnvoll auf die Prüfung vorbereiten zu können. Daher ist es absolut empfehlenswert zu den Vorlesungen zu gehen, obwohl keine Anwesenheitspflicht besteht. Versäumte Vorlesungen und vor allem die Abwesenheit in den Tutorien sorgen ziemlich schnell dafür, dass man den Inhalten nicht mehr folgen kann. Ja, und so wurden aus zwölf an die 40 Stunden in der Woche, mal etwas mehr, mal etwas weniger, je nachdem, ob der gerade durchgenommene Stoff mir lag oder nicht, und ich, um ihn zu verstehen, zusätzliche Zeit mit Internetrecherche und Bücherwälzen verbringen musste.

Höhepunkte

Der Höhepunkt eines jeden Semesters, was den Arbeitsaufwand angeht, waren die Wochen vor den Semesterabschlussprüfungen. Man beschränkt das eigene soziale Leben auf das Notwendigste, trägt seine Materialien zusammen, erstellt einen Lernplan und legt los. In meinem ersten Semester habe ich zwei Wochen vor der Prüfung mit dem Lernen angefangen – wie sich herausstellte ein schwerer Fehler. Ich geriet in Lernstress, denn das war eindeutig zu knapp bemessen. Viel zu wenig Zeit, um den Stoff nochmal durchzukauen. Daraus habe ich gelernt und fortan mehr Zeit eingeplant. Ab dem 2. Semester fiel mir das Studium dann immer leichter. Nicht weil die Inhalte einfacher wurden, im Gegenteil, aber ich kannte jetzt die Abläufe, hatte gelernt, meine Zeit besser einzuteilen. Von da an flutschte das Lehramtsstudium in Mathe und Physik sogar ein wenig. Und doch habe ich mich nach dem siebten Fachsemester dafür entschieden, das Studium nicht zu beenden.

Gründe für den Abbruch

Ab dem zweiten Semester kamen die schulpraktischen Studien dazu, u. a. wurde hier Entwicklungspsychologie durchgenommen, Wissen, das ein Lehramtsstudent wie ich neben den Fachinhalten haben sollte, um unterrichten zu können, aber auch eine willkommene Abwechslung zum Fachunterricht in Mathematik und Physik. Im vierten Semester stand dann das sechswöchige Schulpraktikum an, das ich an einem Gymnasium in Bad Wildungen absolvierte. Ab der 2. Woche unterrichtete und hospitierte ich dort an die 26 Wochenstunden in meinen Fächern Mathe und Physik in verschiedenen Jahrgängen von der 6. bis zur 12. Klasse. In einer 9. Klasse fiel die Klassenlehrerin wegen Krankheit drei Wochen aus und ich durfte diese Wochen alleine meinen Mann stehen und die Klasse sogar auf eine Klassenarbeit vorbereiten, dabei blieb ich natürlich mit der Lehrerin im E-Mail-Kontakt. Alles lief prima. Das Feedback war hervorragend und ich bekam für meinen Unterrichtsbesuch und meinen Praktikumsbericht eine sehr gute Beurteilung. Es hat mir Spaß gemacht und ich war überzeugt, dass ich dem Lehrerberuf absolut gewachsen wäre. An fachlicher Kompetenz mangelte es mir jedenfalls nicht.

Ich war bereit, aber …

Im Fach Mathematik ist man nach drei bis vier Semestern mit den schulischen Inhalten plus X durch, danach beginnt an der Uni die graue mathematische Theorie, die mit dem eigentlichen Lehrerberuf und den dort zu vermittelnden Inhalten kaum mehr etwas zu tun hat. Das Lehramtsstudium der Mathematik entfernt sich mit jedem Semester weiter von den Anforderungen, die der Beruf des Lehrers mit sich bringt. Vor allem didaktische und pädagogische Inhalte kommen im weiteren Verlauf des Studiums viel zu kurz. Vor mir lagen noch mindestens fünf weitere, zermürbende Semester Mathe, danach würde das erste Staatsexamen anstehen und erst dann mein Referendariat. Ich habe nach dem 6. Semester das Mathematiklehramtsstudium abgebrochen, habe aber noch ein weiteres Semester Physik studiert, weil mir der Schein in diesem Fach in meinem neuen Studiengang anerkannt wurde. Alles in allem denke ich, dass das Lehramtsstudium in Mathematik reformiert gehört – es ist zu sehr auf die fachliche Qualifikation, weit über das schulisch Notwendige hinaus, ausgerichtet und vernachlässigt alles, was mit Pädagogik, Psychologie und Didaktik zu tun hat. Man muss schon ein Faible für die Mathematik mitbringen, aber mein Ziel war ja, junge Menschen zu unterrichten und kein Matheüberflieger zu werden.

Neue Ziele

Zum Sommersemester 2017 bin ich an die Technische Hochschule Mittelhessen gewechselt und studiere dort Energiesysteme. Ich hatte zunächst Bedenken, mein Lehramtsstudium ohne Abschluss zu beenden, da ich schon so viele Semester studiert hatte. Rückblickend bin ich jedoch froh über meine Entscheidung. Mein neues Studium war von Beginn an viel praktischer angelegt. Ich arbeite viel im Labor, habe an vielen Stellen die Möglichkeit das Gelernte praktisch anzuwenden und zu überprüfen, und ich habe nach meinem Abschluss eine Vielzahl an Berufen zur Auswahl. Derzeit beschäftige ich mich viel mit Elektrotechnik und erneuerbaren Energien, da mir für die Zukunft eine Tätigkeit als Energietechniker oder Projektingenieur in elektrischer Energietechnik vorschwebt.