„Dinge in Bewegung bringen”

OMP sitzt auf einer Holzbank, er hat die Beine überschlagen und schaut zu dem Fotografen

Die internationale Liga der Menschenrechte hat Ende vergangenen Jahres Ottmar Miles-Paul mit der Karl von-Ossietzky-Medaille ausgezeichnet. Im Interview mit der blista-news erzählt der ehemalige blista-Schüler über sein jahrzehntelanges Engagement für Menschen mit Behinderung und zieht ein Zwischenfazit nach „Zehn Jahren UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland”.

 

blista-news: Was verbindet Sie mit der blista, Herr Miles-Paul?
Miles-Paul: Mich verbinden drei wunderbare und engagierte Jahre, von 1982 bis 1985. Ich habe mich damals in der Schülervertretung und auch in der Marburger Friedensbewegung engagiert. Zuerst war ich ein Jahr im „beruflichen Gymnasium“, habe mich dann aber für die „Fachoberschule für Sozialwesen“ entschieden. Diese Entscheidung hat mich und meinen weiteren Lebensweg geprägt.

blista-news: Gab es einen konkreten Auslöser, dass Sie sich in der Behindertenrechtsbewegung engagiert haben?
Miles-Paul: Zunächst hatte ich mit diesem Bereich nichts am Hut, habe mich allgemein gegen Ungerechtigkeiten engagiert. Erst durch den direkten Kontakt zu anderen Menschen mit Behinderungen hat sich bei mir was geändert. Konkret war das, als ich mit einer Bekannten, die im Rollstuhl saß, vor einer Bordsteinkante stand und wir nicht wußten wie es weitergeht. Da habe ich mir gesagt: Das ist nicht naturgegeben. Diese Barriere ist menschengemacht. Dagegen musst du was tun. So habe ich mich auch mit der Situation von Menschen mit Blindheit und Sehbehinderung intensiver beschäftigt. Ich bin quasi in die Behindertenrechtsbewegung hineingestolpert.

blista-news: Nach der Wiedervereinigung haben Sie sich dafür eingesetzt, dass der Satz „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“ ins Grundgesetzt aufgenommen wird. Wie kam es dazu?
Miles-Paul: Ich habe knapp zwei Jahre in den USA gelebt und dort direkt erfahren, was Antidiskriminierungsgesetze im Alltag bedeuten können. Und dann ergab sich nach der Wiedervereinigung die Chance, dass das Grundgesetz ohnehin überarbeitet werden musste. Das waren vier Jahre Kampf voller Demonstrationen, Unterschriftensammlungen, Anhörungen und Aktionen. Es war ein sehr wichtiger Schritt für behinderte Menschen diesen Satz ins Grundgesetz zu bekommen.

blista-news: Nach weiteren erfolgreichen Kampagnen wurden Sie dann – für fünf Jahre – Landesbehindertenbeauftragter in Rheinland-Pfalz. Welche Erfahrungen haben Sie dort gemacht?
Miles-Paul: Das war eine unheimlich spannende Zeit, von der ich heute noch profitiere. Zu Anfang war es schon seltsam, weil ich jetzt auf der Seite stand, gegen die ich vorher oftmals „kämpfen“ musste. Die Verwaltung. Welche Aufgaben und Wirkungsmöglichkeiten man als Landesbehindertenbeauftragter hat. Das war sehr interessant und wir konnten in dieser Zeit einiges bewegen.

blista-news: Was würden Sie als ihre größten Erfolge bezeichnen?
Miles-Paul: Da fallen mir zum einen konkrete Personen ein. Die, dank gesetzlicher Neuregelungen, nun selbstbestimmt in eine eigene Wohnung umziehen und die Heimunterbringung hinter sich lassen konnten. Oder wir haben als erstes Bundesland einen Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Angriff genommen. Ein Plan mit 200 Maßnahmen, der dann in vielen anderen Bundesländern als Modell gedient hat. Außerdem konnten wir, zusammen mit der damaligen Sozialministerin und heutigen Ministerpräsidentin Malu Dreyer, den Grundsatz: „Nichts über uns, ohne uns“ mehr im Bewußtsein verankern und mit Leben füllen.

blista-news: 2019 ist es zehn Jahre her, dass die UN-Behindertenrechtskonvention (BRK) von Deutschland ratifiziert wurde. Wo stehen wir heute und wie fällt ihr Zwischenfazit aus?
Miles-Paul: Damals hat niemand so recht gewußt, was die BRK bringen wird. Das sie ratifiziert wurde und somit Gesetzeskraft erlangt hat, war erstmal ein großer Erfolg. Ich habe aber den Eindruck dass wir uns seitdem immer ein wenig nach dem Motto: Zwei Schritte vor und einen wieder zurück, bewegen. Zum Teil mit erheblichen Verbesserungen, aber viele Menschen mit Behinderungen müssen immer noch ziemlich kämpfen um ihre Nachteilsausgleiche zu erhalten oder ganz praktische Teilhabe zu bekommen. Das BTHG ist dafür ein gutes Beispiel. Viele Fortschritte sind darin enthalten, aber es ist nicht gelungen den Kostenvorbehalt endlich zu streichen. Beim Behindertengleichstellungsgesetz gibt es tolle Regelungen, aber bei privaten Anbietern, wie dem Bäcker um die Ecke oder der Webseite eines Dienstleisters aus der Region greifen diese Regelungen eben leider noch nicht. Das meine ich mit „Zwei Schritte vor und einen wieder zurück“.

blista-news: Wie engagieren Sie sich heute?
Miles-Paul: Ich begleite die Umsetzung des BTHG. Morgens, wenn viele noch schlafen sitze ich am Rechner und schreibe Artikel für die „Kobinet Nachrichten“, einen online-Nachrichtendienst zur Behindertenpolitik. Ich rege mich aber auch noch unheimlich gerne auf, wenn ich Ungerechtigkeiten wahrnehme und erleben muss wie viel Steine Menschen mit Behinderungen von Verwaltungen in den Weg gelegt werden. Nach dem Ausscheiden als Landesbehindertenbeauftragter habe ich mir gesagt. Eigentlich wärst du gern ein Strippenzieher der an verschiedenen Stellen versucht Dinge in Bewegung zu bringen, damit es in Sachen Rechte für Menschen mit Behinderung weiter vorangeht. Ich freue mich, wenn das gelegentlich gelingt und ärgere mich, wenn es an der Dickköpfigkeit anderer scheitert.

blista-news: Welche Bedeutung hatte die blista für ihr gesellschaftlich-politisches Engagement?
Miles-Paul: An der blista wurde mein Widerstandsgeist und das kritische Hinterfragen von Gegebenheiten geweckt. Hier herrschte das pulsierende Leben. Wir hatten immer politische Diskussionen mit unseren Lehrkräften und konnten uns entfalten. Das war die eine Seite. Auf der anderen Seite habe ich mich damals immer gefragt. Warum kann ich diese idealen Bedingungen wie es sie an der blista gibt nicht auch zuhause bei mir haben ? Weshalb muss ich nach Marburg umziehen um das zu bekommen?

blista-news: Welche Rolle sollte die blista in den aktuellen politischen Diskussionen einnehmen?
Miles-Paul: Aus der blista sind viele, engagierte, kritische Menschen hervorgegangen die viel für die Teilhabe von Menschen mit Behinderung erreicht haben. Ich hoffe, dass das auch in Zukunft so sein wird. Die blista hat aber auch die Aufgabe das Thema Inklusion voranzutreiben. Blinden und sehbehinderten Menschen eine Wahlmöglichkeit anzubieten. Ich hoffe, dass die blista weiterhin ein guter Wegbereiter dafür sein wird, dass es in der Zukunft für Menschen mit Blindheit und Sehbehinderung „passt“. Damit es „passt“, dazu ist Inklusion ein Ziel. Dafür benötigt man Werkzeuge. Ich hoffe, dass die blista einen gut gefüllten Werkzeugkasten hat um an diesem Ziel weiter engagiert mitarbeiten zu können.

blista-news: herzlichen Dank für dieses Gespräch!
[Foto: privat]

Das Interview führte Thorsten Büchner. Das ausführliche Interview mit Ottmar Miles-Paul hören Sie in der aktuellen Ausgabe des „Kopfhörer“, dem Infomagazin der DBB (Ausgabe 101). Den „Kopfhörer“ können Sie auf https://katalog.blista.de unter dem Link „Zeitschriften“ kostenlos herunterladen.