Zeitenwende - vom Leben nach der blista

Das Gebäude des Psychologischen Instituts Marburg

Studium der Psychologie in Marburg: Michaela Meinert, Abi 2011

Den Wunsch, Psychologie zu studieren, habe ich bereits in der elften Klasse der Oberstufe entwickelt. Mich fasziniert schon lange die Unterschiedlichkeit zwischen den Menschen sowie die Gründe für diese Unterschiede. Als ich eine Zusage für einen Studienplatz an der Philipps-Universität in Marburg erhielt, ging für mich ein Traum in Erfüllung, der vielen aufgrund der großen Nachfrage für diesen Studiengang verwehrt bleibt. In diesem Fall kann ich behaupten, dass mir meine Sehbehinderung von Vorteil war, da ich mit Hilfe eines Härtefallantrages ohne Wartesemester gleich anfangen konnte zu studieren.

Ich bin bis zur zehnten Klasse auf eine Regelschule gegangen und habe im Anschluss mein Abitur an der blista gemacht. Für mich stand schnell fest, dass ich in Marburg studieren möchte. Zum einen habe ich mich während meiner Oberstufenzeit sehr wohl in Marburg gefühlt, und zum anderen bin ich dem Rat meiner Schwestern gefolgt, die meinten, dass durch meine starke Sehbehinderung ein Studium sowieso schon zahlreiche neue Herausforderungen bereit halten würde und ich mich deshalb nicht unbedingt auch noch mit der Erarbeitung einer komplett neuen Umgebung belasten müsste. Dieser Ratschlag hat sich auch im Nachhinein als richtig erwiesen.

Studieren und Wohnen

Zum Wintersemester 2011/12 nahm ich mein Psychologiestudium auf. Im ersten Semester bewohnte ich ein Zimmer von zwölf Quadratmetern im frisch renovierten Studentenwohnheim am Schloss. Das Zimmer war mit ca. 200 Euro sehr preiswert, jedoch musste ich mir dort mit 16 Mitbewohnern eine Küche und vier Bäder teilen, was ich als sehr einschränkend empfand. Außerdem war der persönliche Kontakt mit den anderen Bewohnern meines Flurs eher dürftig. Ich wusste wegen meiner Seheinschränkung häufig nicht einmal, ob ich mir mit der Person, die mich gerade auf der Straße gegrüßt hatte, vielleicht im Studentenwohnheim ein WC teilte. Zum Anfang des zweitens Semesters habe ich mich mit einer guten Freundin aus blista-Zeiten auf Wohnungssuche begeben. Wir sind trotz des problematischen Wohnungsmarktes in Marburg recht schnell fündig geworden und in eine 50 Quadratmeter Wohnung in zentraler Lage gezogen, die wir auch heute noch bewohnen. Das Appartement ist allerdings mit 330 Euro pro Person plus Strom, Wasser und Internet deutlich teurer.

Studieren mit einer Sehbehinderung

Ich verfüge noch über einen geringen, aber stabilen Sehrest, den ich auch sehr intensiv nutze. Ich arbeite mit Vergrößerungssoftware und Sprachausgabe. Die Brailleschrift habe ich erlernt, setze sie jedoch kaum ein.

Die Materialien, die ich fürs Studium benötige, liegen mir größtenteils digital vor. Die Präsentationen, die während der Vorlesungen und Seminare vorgestellt werden, stehen alle im Vorhinein im Internet zum Download bereit. Die meisten Bücher, die ich fürs Studium brauche, stehen ebenfalls zum Download in einer Online-Bibliothek der TU-?Dortmund zur Verfügung. Während des Studiums finanziert das Sozialamt eine sogenannte Vorlesehilfe, die mir Texte aufliest oder, falls Texte digital nicht zur Verfügung stehen, mir die Bücher auch schon mal einscannt. Da im Psychologiestudium viel mit Grafiken und Tabellen gearbeitet wird, gehört es ebenfalls zu den Aufgaben meiner Vorlesehilfe, mir diese zu erläutern.

Viele Studienanfänger der Psychologie fürchten sich vor den bevorstehenden Statistikanteilen des Studiums, was bei mir selbst nicht anders war. Heute kann ich sagen, dass man mit etwas Fleiß und eventuell einer Nachhilfe, mit der man die Vorlesungsinhalte, besonders die Grafiken und Tabellen, nacharbeitet, gut mit dem Lernstoff zurechtkommen kann.

Den größten Anteil der Prüfungen darf ich an meinem eigenen Laptop schreiben oder an einem mit entsprechender Vergrößerungssoftware und Sprachausgabe ausgestatteten Computer des Fachbereichs. Die Prüfungen stehen als Word-Datei zur Verfügung, und es werden alle Grafiken durch Ersatzfragen ausgetauscht. In der Regel schreibe ich die Klausuren nicht gemeinsam mit den anderen Studierenden in einem Hörsaal, sondern es wird ein separater Raum zur Verfügung gestellt, damit ich während der 50% Zeitverlängerung, die mir zustehen, keine Störung durch meine Kommilitonen erfahre.

In einigen Fällen bietet mir der Dozent eine mündliche statt schriftliche Prüfung an. Da ich persönlich schriftliche Prüfungen bevorzuge, habe ich dieses Angebot bisher, außer in Statistik, nicht in Anspruch genommen.

Hilf dir selbst dann hilft dir - der Fachbereich

Ich musste mich während der Zeit an der blista nicht selbst darum kümmern, mir die Lehrmaterialien zugänglich zu machen. Dies ermöglichte mir, mich ganz auf die Lerninhalte zu konzentrieren. Trotzdem bin ich froh, dass ich während meiner Regelschulzeit zwangsläufig lernen musste, die mir zur Verfügung stehenden Lehrmaterialien für mich optimal aufzubereiten, sprich besser lesbar zu machen, und die Lehrer auf meine Einschränkungen und Bedürfnisse immer wieder aufmerksam zu machen. Denn neben dem Akt des Lernens ist die oft zeitaufwendige Lehrmaterialbeschaffung ein wesentlicher Bestandteil meines Studiums und führt manchmal auch zu Verzögerungen, was recht nervig sein kann. Insgesamt ist der Fachbereich Psychologie in Marburg beim Engagement für seine blinden und sehbehinderten Studierenden sehr gut aufgestellt. Dies ist nicht zuletzt unseren vielen sehbehinderten Vorgängern zu verdanken.

Eine Tafel am Gebäude des Psychologischen Instituts mit der Aufschrift „Fachbereich Psychologie”

Der Fachbereich verfügt sogar über eine studentische Hilfskraftstelle für die Beratung sehbehinderter Studierender und Studien,interessierter. Diese kann besonders zu Beginn des Studiums einige wertvolle und weiterführende Tipps und Hilfestellungen geben, was auch mir anfangs sehr geholfen hat.

Weiterhin werden für einige Vorlesungen begleitend freiwillige Übungen speziell für sehgeschädigte und ausländische Studierende angeboten, in denen die Inhalte wiederholt werden und auch Fragen gestellt werden können. Beispielsweise zu Inhalten, die mit einer Grafik verknüpft sind und die man deshalb während der Vorlesung nicht so schnell nachvollziehen konnte.

So, jetzt noch einige Details zum Psychologiestudium

Die Regelstudienzeit für den Bachelor beträgt in Marburg acht Semester, dafür ist der Masterstudiengang nur zwei Semester lang. Der Master in Psychologie ist ein Muss, nur mit einem Bachelor kann man nichts anfangen. Ich selbst befinde mich im achten Semester, aber ich denke, ich werde wahrscheinlich zwei Zusatzsemester benötigen, um den Bachelor abzuschließen. Zurzeit übefinde ich mich in meinem Praxissemester.

Das Studium ist so aufgebaut, dass man im vierten Semester Einführungsveranstaltungen in den vier in Marburg angebotenen Schwerpunkten Arbeits- und Organisationspsychologie, klinische Psychologie, neurologische Psychologie und pädagogische Psychologie besuchen muss. Im 5. Semester müssen dann zwei dieser Bereiche zur Vertiefung gewählt werden. Im 7. Semester erhält man die Möglichkeit, seinen Schwerpunkt noch einmal zu verändern. Ich selbst habe mich für die Bereiche klinische Psychologie sowie Arbeits- und Organisationspsychologie entschieden.

Praktika, ein fester Bestandteil des Studiums

In einem Praktikumssemester müssen mindestens drei Monate bzw. 450 Stunden Praktika absolviert werden. Ein Praktikum muss mindestens einen Monat Vollzeit, das heißt 150 Stunden, umfassen, man kann also ein oder mehrere Praktika absolvieren. Wir können selbst entscheiden, in welchen Bereichen wir ein Praktikum machen wollen: in der Klinik, in einer Organisation oder in der Forschung. Bei der Suche nach einem Praktikumsplatz wurde mir meine Sehbehinderung und die damit verbundenen Einschränkungen wieder einmal vor Augen geführt, als in einem Bewerbungsgespräch jemand anmerkte, dass ich den Gesichtsausdruck von Patienten ja gar nicht sehen könne. Ich wies zwar darauf hin, dass ich dafür andere empathische Fähigkeiten habe, die gut ausgeprägt sind und meine Seheinschränkung gut kompensieren können. Mein Praktikum werde ich dennoch an einer anderen Klinik durchführen, wo mich ein Psychologe betreut, der selbst blind ist.

Ob ich nach dem Masterstudiengang, in dem ich meinen Schwerpunkt auf klinische Psychologie legen möchte, eine Ausbildung zur Psychotherapeutin machen werde, ist noch nicht ausgemacht, denn bis dahin wird noch viel Wasser die Lahn hinuntergeflossen sein. Solltest Du weitere Fragen zum Psychologiestudium in Marburg haben, dann melde Dich einfach bei mir persönlich! Meinert@students.uni-marburg.de

Fotos: Daniela Junge