Winnis wunderbare Welt

Heute: Die Männerwohngruppe – Erinnerungen, wehmütige

Ja so warn's, ja so warn's – wie die alten Rittersleut'! 

Winfried Thiessen | Was für eine Stimmung. Bombe. Jeden Abend, wenn Herr W beim Essen am Tisch in die Runde schaute, sah er nur die Träger von Y-Chromosomen tafeln. Männerwohngruppe pur. Die Luft Testosteron geschwängert. Der Eistee floss in Strömen. Herr W nippte hingegen an seinem Wasserglas. Ganz Vorbild. Der Lärm war, wie immer, ohrenbetäubend. Verbal fuhren die Y-Träger auf Sicht, und die war bei ihnen bekanntlich stark eingeschränkt. Hart aber herzlich gehe es beim Essen zu, so etwas in der Art würde jedenfalls ein unbeteiligter und hartgesottener Beobachter über den Umgang der Y-Trägern untereinander sagen. Bei dem Krach verstand zwar keiner den anderen, aber irgendwie fühlte sich jeder anscheinend doch ganz gut verstanden. Das Niveau der Unterhaltungen kreuchte und fleuchte fröhlich irgendwo unten in den tiefsten Kellergewölben herum. Die Mühe es wieder hochzuholen, wollte sich von den Y-Trägern keiner machen. Was schauen Sie Herrn W so an?! Ist was?! Herr W fühlte sich wohl unter ihnen.

Mit geübtem Auge konnte man den pädagogischen Auftrag auf Krücken durch das Esszimmer humpeln sehen. Später würde Herr W den Invaliden einmal darauf ansprechen, ob er Probleme damit habe, aber nicht gerade jetzt, wo es doch so schön war, und schließlich hatten sich die Y-Träger ihren Feierabend redlich verdient. Er gab alles dafür, sich für eine halbe Stunde noch mal jung fühlen zu dürfen, danach war Herr W allerdings immer fix und fertig – mit der Jugend, fühlte sich alt und ausgelutscht. Immer diese Lautstärke, gegen die sich ein Heavy-Metall-Konzert wie die Stille vor dem Sturm anhörte. Früher hätte er sicher länger durchgehalten, wenn fehlende Argumente, die sowieso keiner hören wollte, durch noch mehr Stimmkraft ersetzt wurden. Der alternde Herr W allein unter jungen Männern – Spa für seine Seele. 

Beim Thema Essen kannten die Y-Träger allerdings nur minimale Kompromissbereitschaft. Hier herrschte die pure Fleischeslust vor. Gegessen wurde gerne alles, was zwischen zwei Brötchenhälften passte: Steak, Würstchen, Buletten - verfeinert mit einer ganzen Batterie von Saucen, garniert mit Röstzwiebeln. Die Benutzung von Besteck war bei Tische rein optional. Herr W fühlte sich wohl, Pudel. „Dem Salat fehlte doch was - Fleisch!“ Herr W grinste, zwar ein alter Hut, aber im Chor hatte das was. Die Y-Träger dachten und handelten durchaus effizient, schließlich wollte über eine halbe Tonne Lebendgewicht erhalten werden. Sollte man da wirklich zusätzliche Ballaststoffe ohne Nährwert vom Einkauf mitschleppen? Eistee hat schließlich auch so sein Gewicht. 

Zwei junge Männer, einer in Badelatschen, einer barfuß, ringen auf dem Fußboden einer Wohngruppe. Einer trägt eine hellgraue Jogginghose, der andere eine schwarze Hose.
Abbildung 1: Die hier zu sehende Debattentechnik nennt sich: Durch-den-Fleischwolf-drehen.

Beim Fleisch waren sich die Y-Träger einig, absolut. Gut, es gab da einen Abweichler - beäugt, belächelt, aber von allen toleriert. Wohingegen dessen Toleranz bereits bei einer deftigen Hackfleischlasagne endete. War man in Fleischfragen beste Kumpels, hörte beim Detail allerdings ganz schnell die Freundschaft unter den Y-Trägern auf. Kraftausdrücke, wie vollgepumpt mit Steroiden - Mister Universum Hänfling dagegen - wurden sich an den Kopf geworfen, wenn es ans Eingemachte ging: Fleisch. Irgendwie, das begriff auch der Dümmste unter ihnen, musste für die Regelung der Details ein Verfahren erdacht werden - und natürlich zum Schutz der vegetarischen Minderheit. Herr W brauchte sie gar nicht erst in Stellung zu bringen – es war tatsächlich ihre eigene Idee: die pädagogische Allzweckwaffe Gruppensitzung. Genauso sollte es auch sein, selbständige Y-Träger. 

Herr W fühlte sich wohl, Sau. Keiner der Y-Träger war allerdings ein großer Diplomat oder gar ein Politiker im Werden, alle hatten sich bis jetzt völlig normal entwickelt. Und wie immer verstand Mann sein eigenes Wort nicht. Herr W drückte seine Ohrstöpsel tiefer in die Gehörgänge. Wie die Y-Träger dann zu diesem Ergebnis gekommen waren, konnte später keiner mehr so richtig nachvollziehen. Man munkelte, dass der Protokollant sich einfach etwas ausgedacht hatte. Die Spur wurde nicht weiterverfolgt, da alle Y-Träger mit dem Ergebnis zufrieden waren. Herr W fühlte sich - na was wohl?

Auf Abbildung 1 geht es um die Klärung der Frage: Hackfleischlasagne oder Hackfleischpizza? Kleine Details aber harte Debatten, die sich oft in die Länge zogen. Damit auch hochgradig sehbehinderte Beobachter den Verlauf der Debatte besser verfolgen können, wurden extra helle und dunkle Trikots ausgewählt. 

Zwei Arme sind zum Armdrücken gekreuzt auf einen Holztisch abgestützt, im Hintergrund ist eine Küche.
Abbildung 2: Auf diesem Bild gut zu erkennen: links der Arm des Stuntdoubles.

Abbildung 2 zeigt die Klärung der Frage, ob es einmal in der Woche einen vegetarischen Tag geben sollte. Rechts der Vertreter der fleischlosen Idee. Die Entscheidung fällt in der Regel kurz und schmerzhaft. 
*Wichtiger Hinweis: Bei den Aufnahmen kamen keine Schüler zu schaden, jedenfalls nicht ernsthaft. Bei den gefährlichsten Szenen kamen Stuntdoubles zum Einsatz. 

Nachwort 

Kein ewiges Geschrei, wenn wieder einmal der Zalando-Paketbote klingelte und ein Klamotten- oder Schuhpaket brachte. Stattdessen das leise, sanfte, rhythmische Heben und Senken von Hanteln – Vorbereitung auf die Klärung zukünftiger Detailfragen. Männerwohngruppe – immer wieder gerne!