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Ein Blick in den fast leeren Kühlschrank, man sieht einen Apfel, ein Glas Senf und eine Tube

Heute: Im Zeitalter der Postpädagogik

Winfried Thiessen. Wo man Kaffee trinkt, fühl Dich wohl! Böse Menschen lieben Alkohol. Herr W fischte sich einen Beutel Earl Grey Tea aus der Teepackung im Küchenschrank. Sein Blick hatte nur kurz die Karte mit dem literarischen Kleinod gestreift. Er kannte den Vers in- und auswendig.

„Na endlich! Ich dachte schon, die Mathestunde würde nie zu Ende gehen.“ – „Pass mal auf: In deinem Bett: Um 6.00 Uhr schließt du für nur 5 Minuten die Augen und es ist: 7.45 Uhr. In der Schule: Um 13:30 Uhr schließt du für nur 5 Minuten die Augen und es ist: 13.31 Uhr.“ – „Wo hast du das denn her?“ – „Ach, der Spruch hängt bei uns in der Küche. Herr W, der hat doch so ein Faible für Postkarten mit Sprüchen, die ganze Wohngruppe hat er damit zugekleistert.“ – „Jow, der passt aber auch! Danke, Frau Donker! Ihr Matheunterricht entpuppt sich als Jungbrunnen für uns. Die Zeit steht hier still, während sie draußen im Zeitraffer dahin rast. Alle werden alt, nur wir nicht! Das nennt man gelebte Relativitätstheorie von Einstein ...“ – „Mach mal langsam, das ist mir jetzt nach Mathe zu komplex. Außerdem hab‘ ich heute noch Einkaufsdienst, deshalb können wir nicht zu mir. Also, gehen wir zu dir in die Uferstraße?“ – „Kein Problem, Digga!“

Herr W schlurfte zum Kühlschrank. Ein pausbäckiges Kleinkind, in jeder Hand eine riesen Bockworscht, grinste ihn an. Über dem feisten Knirps prangte in großen Lettern: Vegetarier können mich mal. Herr W öffnete die Kühlschranktür. Gähnende Leere sprang ihm entgegen – auch Worscht fehlte. Und vor allem fehlte ihm noch sein Einkaufsdienst. Herr W warf einen Blick auf den Plan. Holger. Na, der hatte ihm gerade noch gefehlt. Er blickte auf die Wanduhr in der Küche: Der Nachmittag war noch lang.

„Warte mal kurz, ich muss mal mein …“ Holger schaltete sein Smartphone ab. „… so alles klar. Nur falls Herr W versuchen sollte mich zu erreichen! Jetzt können wir in aller Ruhe zocken!“ „Musst du eigentlich wieder alleine einkaufen?“ „Japp, er ist mir irgendwie auf die Schliche gekommen mit dem Trick, immer mal was „vergessen“ mitzubringen. Da ist er ‘ne Zeit lang lieber wieder mit mir mitgelatscht. Mit ihm geht einkaufen auch einfach viel schneller. Da brauchst du nicht immer ewig suchen, bis du was gefunden hast. Und wenn du dich dann noch ein bissel ungeschickt anstellst – nur nicht zu auffällig –, dann verliert er die Geduld und holt alles selber. Geduld ist eben keine ­Tugend von ihm. Du hängst dich einfach nur an den Einkaufswagen dran – viel mehr ist da nicht – und schleppen ist dann auch nur die Hälfte.“ „Aber du kannst doch im Supermarkt auch eine Verkäuferin fragen, wo was steht!“ „Du Honk, du würdest doch auch nicht fragen, wenn du ‘was nicht findest. Du hast doch nur Glück, dass dein Sehrest ­größer ist und du nicht fragen brauchst, aber jetzt hier ‘ne dicke Lippe riskieren!“

15.00 Uhr. Sein Einkaufsdienst hatte immer noch nichts von sich hören lassen. Geduld ist die Kunst, nur langsam wütend zu werden! Herr W fand, dass das Stille Örtchen postkartentechnisch deutlich unterversorgt war. Fünf mickrige Kärtchen sorgten während seiner Sitzung für eine eher magere Ablenkung und ließen ihm dadurch genügend Zeit, darüber nachzudenken, ob er wohl zuerst in der Wohngruppe in der Uferstraße anrufen sollte oder in der Wohngruppe Am Schlag. Einen Anruf aufs Handy könnte er sich mit Sicherheit sparen, im besten Fall würde er mit Holgi‘s Mailbox flirten können. Schließlich kannte man sich schon seit Jahren. Anderseits musste er sowie in den Media-Markt, und REWE lag direkt auf dem Weg. Da könnte er doch gleich den Einkauf mit erledigen … – wäre alles ein Aufwasch.

„Wie spät? – Was, schon gleich vier? Vielleicht ist Herr W ja doch schon alleine einkaufen gegangen. Oft hält er es nicht so lange aus. Wenn ich nicht pünktlich bin, dann geht er schon mal allein.“ „Du bist ja ein ganz schöner Arsch.“ „Mann, der brauch‘ das, der ist einfach zu gutmütig. Da wird man eben ausgenutzt. Der ist alt genug, der muss auch mal lernen, wie es im richtigen Leben läuft. Gut, die blista bietet einen gewissen Schonraum, aber ich will ihn ja auch nicht überbehüten. Soll er sich eben kurz aufregen, da kommt sein Kreislauf mal in Schwung, und morgen hat er es schon wieder vergessen – das Alter.“

„Na, Holgi? Wo hast du denn gesteckt? Du weißt doch, dass du montags immer Einkaufsdienst hast?“ „Sorry, wir haben in der Uferstraße Hausaufgaben gemacht. Wir ­hatten in jedem Fach was auf, und darüber habe ich die Zeit vergessen.“ „Und der Akku von deinem Handy war wahrscheinlich leer!?“ – „Du sagst es! – Hey, der Kühlschrank ist ja total voll! Was soll ich da noch einkaufen?!“ Das war ich nicht, das war schon so. Herr W drückte den losen Klebestreifen einer leicht gewellten Karte fest. „Du musst zum Bäcker auf der anderen Straßenseite. Wir brauchen dringend Brot für heute Abend.“ – „Wie?! Dafür habe ich mich mit den Hausaufgaben so beeilt?! Da hätte wir ja noch was für die Schule machen können!“ –„Los, verschwinde jetzt und hol‘ endlich das Brot.“ „Man, das Brot hättest auch du holen können.“ – „Ich sagte v-e-r-s-c-h-w-i-n-d-e!!“ Ein Kind zu erziehen, ist leicht. Schwer ist nur, das Ergebnis zu lieben.

„Er denkt, dass ich glaube, dass der Kühlschrank noch vom Wochenende voll war. Und dass ich nicht weiß, dass er schon heimlich einkaufen war. Ich musste nur noch von gegenüber ein Brot holen, das war‘s. Nächste Woche bin ich wieder mal pünktlich, und dann unpünktlich und wieder … weißt schon, mal sehen, wann er das checkt.“ „Mein Gott Holgi, du bist wirklich ein Genie.“ „Ich weiß, ich bin der Größte!“

Pädagogik ist die Kunst, aus Zwergen Durchschnittsmenschen zu machen, die sich für Riesen halten. Herr W drückte den nächsten Klebestreifen fest. Billiges Material, kaum dass es draußen etwas wärmer und die Luft feuchter wurde, fingen die Karten an, sich zu verbiegen. Und die Klebestreifen hielten nicht mehr. Jeden Sommer das gleiche Spiel. Herr W schlenderte ins Betreuerzimmer und setzte sich an den PC. So viele Postkarten, daraus müsste sich doch eine Geschichte formen lassen. Fahrig fuhren seine Hände immer wieder über seine Haare, ­wanderten durch sein Gesicht, kratzen mal da, rieben mal hier und bohrten mal dort. Popeln … auch eine Art in sich zu gehen. Die Karte hatte er immer noch zu Hause auf dem Schreibtisch liegen. Er stand wieder auf … seine Gedanken führten ihn im Moment nur auf Abwege. Er würde Holgi fragen, wie er am Besten mit der Geschichte anfangen könnte.

Wie Herr W gerade auf diesen Einfall kam? If you have a question, ask a teenager. He knows everything! Noch Fragen?

Fotos: Daniela Junge

Eine Großaufnahme eines Postkarten-Ständers
Ein Ständer mit Postkarten in der Marburger Oberstadt