Zeitenwende - vom Leben nach der blista

Ruth Arbenz, Abi 2012 – Studium der Deutschen ­Philologie und der ­Französischen Sprach- und ­Literaturwissenschaft

Offenheit und Kommunikation zahlen sich aus

Der 17. Juni 2012: das Abitur war bestanden, der Abiball-Walzer getanzt, Kisten und Koffer waren gepackt, die Augen noch feucht von den Abschiedstränen, und dann saß ich auch schon im Auto auf dem Weg zurück nach Hause in der Nähe von Bern. Marburg war nach über vier Jahren blista zu meiner zweiten Heimat geworden. Aber das war jetzt alles Vergangenheit, denn ich fuhr meiner Zukunft als Bachelorstudentin der Deutschen Philologie und der Französischen Sprach- und Literaturwissenschaft entgegen. Allerdings begleitete mich auf dieser Fahrt ein komisches Bauchgefühl, denn es sollte das erste Mal in meinem Leben sein, dass ich mit meinem Handicap auf eine Umgebung treffen würde, die nicht darauf eingestellt war.

Ich hatte natürlich „sämtliche“ worst case-Szenarien im Kopf, die ich im Laufe meiner Schulzeit von Studierenden bzw. SchülerInnen der Regelschule geschildert bekommen hatte: Was, wenn die Dozierenden vergaßen, die Kopien größer zu machen? Was, wenn sie noch mit Hellraumprojektor und Folie unterrichteten? Was, wenn ich als diejenige auffallen würde, die dauernd zu spät kommt, weil sie den Raumwechsel nicht mitbekommen hat? Fragen über Fragen. Es war für mich und meine Berufsberaterin also klar, dass der beste Weg, diese Fragen zu klären, in einem Gespräch mit den Verantwortlichen des Studienfachs bestand. Dort könnte ich meine Situation erläutern und klären, welche Schritte unternommen werden sollten, um möglichst problemlos losstudieren zu können.

Diese ersten Gespräche führten dazu, dass alle DozentInnen, mit denen ich im Laufe meines Studiums zu tun haben könnte, von der Studienberatung per E-Mail über meine Seheinschränkung und die Unterstützung, die ich deshalb benötige, informiert wurden. Kurz darauf wandte ich mich auch noch an die Behindertenbeauftragte der Universität, um mit ihr einen Antrag auf Nachteilsausgleich bei Prüfungen und Arbeiten zu formulieren, damit, falls es diesbezüglich irgendwelche Probleme geben sollte, auch das Rektorat informiert sein würde.

Nachdem die ersten administrativen Dinge erledigt waren, ging es dann mit dem Mobilitätstraining los. Kurz und knapp formuliert, hat meine Sehbehinderung eine neurologische Ursache, u.a. ist die Vernetzung von Motorik und visueller Verarbeitung unterbrochen, außerdem habe ich keine räumliche Wahrnehmung und auf beiden Augen einen Tunnelblick, was die Verarbeitung des Gesehenen noch schwieriger und ermüdender macht.

Da die Gebäude der Universität Basel querbeet über die ganze Stadt verteilt sind, hatte ich ganz unterschiedliche Wege zu lernen, und am Anfang kamen mir meine Umgebung und die Anordnung der Gebäude ganz schön kompliziert vor. Irgendwann ist dann der Knoten bei mir geplatzt und ich habe bemerkt, dass ich die meisten Uni-Wege, wenn ich in der Nähe des Hauptgebäudes war, wunderbar zu Fuß bewältigen konnte und ich nicht immer auf den Bus angewiesen sein würde. Und so lege ich, wie schon in Marburg, viele Strecken auf Schusters Rappen zurück.

 Kurz vor Semesterbeginn habe ich die Dozierenden, mit denen ich im Semester konkret zu tun haben würde, noch einmal persönlich angeschrieben, ihnen den mit der Studienberatung besprochenen Unterstützungsbedarf weitergeleitet und mich erkundigt, ob die Umsetzung für sie auch machbar sei. Es folgten rasche, positive und verständnisvolle Antworten, so dass ich dem ersten Studientag sehr aufgeregt, aber schon viel zuversichtlicher und voller Vorfreude entgegensah.

Mitte September 2012 betrat ich dann gemeinsam mit gefühlten tausend anderen Erstsemestlern das Hauptgebäude der Universität, um an einer der Einführungsveranstaltungen der Studiengänge  Deutsch und Französisch teilzunehmen und mich von den vielen Informationsständen inspirieren zu lassen, die im ganzen Gebäude aufgebaut waren: neben den Informationen zu den Studiengängen gab es auch viel Wissenswertes über die Unibibliothek, das universitäre Sportprogramm, den Unichor bzw. das Orchester oder die verschiedenen Studentenverbindungen, die in Basel aktiv sind, zu erfahren. An allen Eingängen standen außerdem Studierende, die Flyer, Schreibzeug oder handliche Gummibälle verteilten, die helfen sollten, unauffällig Stress abzubauen. Kurz gesagt, ich war völlig platt von all den Eindrücken und Informationen, den vielen Möglichkeiten und den freundlichen Gesichtern, die mir im Laufe dieses ersten Tages begegneten. Was auch immer da auf mich zukam, es würde spannend werden.

Einen Wermutstropfen, was die sozialen Kontakte außerhalb der Uni-Veranstaltungen betraf, gab es allerdings im ersten Studienjahr noch: ich musste von meinem Zuhause bei Bern nach Basel pendeln. Von Tür zu Tür war ich pro Weg zwei Stunden unterwegs. Deswegen bin ich während dieser ersten Zeit häufig direkt von der Uni nach Hause gefahren und hatte wenig Zeit für Freizeitaktivitäten und Unternehmungen mit Freunden aus dem Studium. Mittlerweile wohne ich in einer Wohngemeinschaft in Basel. Die Anbindung an die öffentlichen Verkehrsmittel ist sehr gut, so dass sich meine Wegezeit auf 30 Minuten verkürzt hat und ich nun auch Zeit habe, die Stadt zu entdecken und Dinge zu unternehmen.

Bereits während der ersten Woche konnte ich einige Kontakte knüpfen. Dozierende wie Studierende kamen offen und freundlich auf mich zu. Da ich mich vor Vorlesungsbeginn per Mail bei den Dozierenden ‘angekündigt’ hatte, war die erste Kontaktaufnahme immer einfach und reibungslos und alles Organisatorische ließ sich unkompliziert regeln. Das Verfahren der frühzeitigen Kontaktaufnahme zu den Dozierenden über Mails und die persönliche Kontaktaufnahme nach der ersten Sitzung einer Vorlesung oder eines Seminars habe ich bis heute beibehalten, auch dann, wenn die Dozierenden mich schon kannten, denn so kann ich direkt überprüfen, ob ich an alle Infos für die Lehrenden gedacht habe, und sie haben die Möglichkeit, Rückfragen zu stellen oder individuelle Absprachen mit mir zu treffen.

Ich denke, dass ist ein wesentlicher Punkt, den man sich – nicht nur im Studium – zu Herzen nehmen sollte: wenn ich offen auf diejenigen zugehe, von denen ich Unterstützung benötige, begegnen sie mir ebenfalls mit Offenheit und Verständnis, zumindest war das bei mir bisher immer der Fall. Das bedeutet nicht, dass ich mir indiskrete, unsensibel gestellte Fragen gefallen lassen muss. Aber wenn ich deutlich mache, dass ich möchte, dass mein Gegenüber mir ohne Vorbehalt auch mal eine Frage stellen darf, die «banal» ist oder für Insider «doof» klingt, ist die Möglichkeit für einen gelingenden Dialog viel größer. Ich kann mich in den ganzen Jahren an der Uni auch an keine einzige Frage von Dozierenden oder Studierenden erinnern, die verletzend, gemein oder respektlos war. Das ist rückblickend eine der wichtigsten Erfahrungen, die ich bisher gemacht habe: wenn ich mich offen und ehrlich für meine Belange einsetze und auch bereit und in der Lage bin zu erläutern, warum  – dann erreiche ich am meisten. Die Kommunikation ist also das A und O während des ganzen Studiums. Mit der Zeit lernte ich dadurch auch Dinge einfacher oder kürzer zu erklären, ohne dass ich gleich befürchten musste, nicht verstanden zu werden.  

Ich muss allerdings auch zugeben, dass ich mich während der ersten Semester immer sehr unter Druck gesetzt habe, auch wirklich alles Wichtige im Vorfeld abzuklären und gezielt Hilfe einzufordern, aber nur so viel, wie mir unbedingt nötig schien. Das ist heute bei mir immer noch so und auch der Ehrgeiz, sehr großen Einsatz zu zeigen, ist nach sechs Jahren immer noch da. Doch die Angst, nicht gehört zu werden, ist verflogen.

All diese Erfahrungen sind für mich von enormer Bedeutung, denn sie zeigen mir, dass ich in einem Umfeld angekommen bin, das zwar nicht spezifisch auf meine Behinderung eingestellt ist, dem aber daran liegt, mir keine Steine in den Weg zu legen, sondern sie mir aus dem Weg zu räumen. Dafür bin ich extrem dankbar und auch das ist etwas, an dem mir sehr viel liegt: nicht nur Rückmeldungen zu geben, wenn etwas vergessen oder übersehen wurde, sondern genauso die Wertschätzung zu äußern, wenn ich unterstützt werde.

Obwohl mein Handicap natürlich für jeden sichtbar ist, weil ich mit dem weißen Stock durch die Gebäude laufe oder in der ersten Reihe einer Vorlesung sitze, werde ich an der Universität Basel nicht als ‘die Behinderte’ wahrgenommen, sondern als Mensch, als Studierende mit einem Handicap. Aber das Handicap macht mich nicht aus, sondern gehört einfach dazu. Und hier kommt wieder die blista ins Spiel, denn sie war der Ort, wo ich lernen konnte, Selbstbewusstsein aufzubauen und mit meinem Handicap umzugehen, so dass ich jetzt ein Studium bewältigen kann.

Mittlerweile habe ich meinen Bachelor erfolgreich abschließen können und nehme nun den Masterstudiengang „Sprache und Kommunikation“, den die Universität Basel anbietet, in Angriff. Danach hoffe ich, einen Weg Richtung sprachwissenschaftliche Forschung einschlagen und so vielleicht einen wissenschaftlichen Beitrag leisten zu können, die Kommunikation zwischen Menschen mit und ohne Handicap zu erleichtern.