Zeitenwende - vom Leben nach der blista

Kathrin Hölscher, Abitur 2014

Als ich mein Abitur machte, hatte mein rechtes Auge noch eine Sehkraft von ungefähr 10 % und mein linkes Auge schwankte zwischen 2 % und 5 %. Ich arbeitete hauptsächlich mit ZoomText und anderen Vergrößerungsprogrammen. Jaws oder ähnliche Sprachprogramme nutzte ich gar nicht. Mit meiner Lupenbrille waren mir auch ganz normale Bücher zugänglich. Warum ich das an dieser Stelle erwähne, dazu später mehr.

Natürlich habe ich in meinem letzten Schuljahr viel darüber nachgedacht, was ich einmal in der Zeit nach der blista machen wollte. Während der Oberstufe hatte ich bereits ein anregendes Praktikum im Fachbereich Psychologie der Phillips Universität Marburg absolviert, aber direkt von der Schule an die Uni? Der Gedanke, sofort nach der doch sehr beschaulichen blista-Zeit in den anonymen Hochschulbetrieb einzusteigen, erschien mir nicht sehr verlockend, und etwas mulmig war mir bei dem Gedanken auch.

Über einen Bekannten erfuhr ich vom Studium Generale am Leibniz Kolleg in Tübingen. Der Grundgedanke hierbei ist, dass man vor dem Studium oder der Ausbildung in die unterschiedlichsten Bereiche reinschnuppern darf. Alle Teilnehmer leben am Kolleg gemeinsam in einem Haus. Als ich von dieser Möglichkeit hörte war ich Feuer und Flamme. Ich hatte das Gefühl, jemand hätte dieses Angebot direkt auf meine Wünsche abgestimmt. Also bewarb ich mich und wurde eingeladen, für zwei Tage nach Tübingen zu kommen. Dort hospitierte ich in unterschiedlichen Kursen, redete mit Studierenden und führte ein ziemlich langes Bewerbungsgespräch. Als schließlich die Zusage kam, war ich unglaublich erleichtert. Der Abiball war sehr nostalgisch, aber obwohl mir klar war, dass ich meine Freunde vermissen würde freute ich mich auf die Zukunft.

Mein Jahr am Leibniz Kolleg in Tübingen

Das Studium Generale am Leibniz Kolleg umfasst 10 Monate. Diese gliedern sich in drei Trimester, in denen die Dozenten die unterschiedlichsten Studiengänge vorstellen. Es müssen Referate gehalten werden und man schreibt während des Jahres zwei kurze Hausarbeiten. Ich belegte in diesem Jahr unter anderem Astronomie, Pädagogik, Improvisationstheater, Filmanalyse, Creative Writing, Physik, Architekturgeschichte, Bio, Politik, Schwedisch – und wir machten eine Studienfahrt nach Rom.

Die 53 Studierenden leben wie gesagt alle in einem Haus, die meisten davon in Doppelzimmern. Das klingt zwar gewöhnungsbedürftig, aber ich habe das meistens sehr genossen. Das Kolleg war damals noch nicht an die Uni angegliedert, das ist aber inzwischen Vergangenheit. Daher kann sich einiges von dem, was ich oben beschrieben habe, inzwischen geändert haben.

Es war jedenfalls eine prima Zeit. Ich habe Bereiche kennengelernt, in die ich sonst wohl nie Einblick erhalten hätte. Die Dozenten waren sehr rücksichtsvoll und meine Behinderung hat mir überhaupt keine Probleme bereitet. Die Materialien waren natürlich überwiegend in Papierform und es wurde viel an die Tafel geschrieben, aber jeder gab sich die größte Mühe mich einzubeziehen. Eine Dozentin hat sogar alles, was sie in der Stunde an die Tafel schreiben wollte, für mich vorher abgetippt.

Am besten waren die Freundschaften, die ich dort geschlossen habe. Die meisten meiner Kommilitonen waren deutlich selbständiger als ich oder meine Freunde von der blista, was mich anfangs doch verunsicherte. Aber schon bald hatte ich viele großartige Freunde, mit denen ich gekocht, Unsinn gemacht, diskutiert und Sachen unternommen habe. Auch für die anderen Studierenden des Leibniz Kollegs war meine Behinderung kein Thema. So habe ich, weil ich auch gehbehindert bin, bei unserer Fahrt nach Rom einen Rollstuhl mitgenommen und es gab immer Leute, die mich schieben wollten.

Das erste halbe Jahr verlief für mich recht unbeschwert. Dann habe ich irgendwann gemerkt, dass etwas mit meinen Augen nicht stimmt, und damit meine ich, noch mehr nicht stimmt als sowieso schon. Der Augenarzt bestätigte mir, dass das Sehen auf meinem rechten, besseren Auge sich verschlechtert hatte und verschrieb mir eine neue Brille. Aber mein Sehrest nahm weiterhin immer schneller ab. Nach einem Besuch in der Augenklinik in Mainz wusste ich auch warum: Der Augendruck in meinem rechten Auge, der immer zu hoch gewesen war, war nun konstant zu niedrig. Dadurch war das Auge instabil geworden und meine Netzhaut begann sich abzulösen. Die verschriebenen Medikamente zeigten keine Wirkung und irgendwann konnte ich täglich eine Verschlechterung spüren. Ich weiß noch, dass ich ein Referat gehalten habe und als ich anfangen wollte, konnte ich die Notizen nicht mehr lesen, die ich mir am Tag vorher aufgeschrieben hatte.

Eine derartig schnelle und gravierende Sehrestverschlechterung ist kein Spaziergang. Angst, Trauer, Wut wechselten sich ab – gewohnte Dinge, wie ein Buch lesen zu können, wurde für mich unmöglich. Bisher war doch alles so gut gelaufen für mich. Ich hatte einen Platz gefunden und durch meine nicht sehbehinderten Freunde wurden mir ganz neue Möglichkeiten eröffnet. Ich fühlte mich kaum noch behindert und ausgerechnet jetzt mussten meine Augen wieder dazwischenfunken. Auch wenn das traurig klingt, ging es mir in dieser Zeit nicht nur schlecht. Ich hatte weiterhin Spaß mit den anderen. Dass man auf dem Kolleg nie allein war, hat mir sehr geholfen.

Meine Zukunftspläne beeinflusste die Sehverschlechterung jedoch drastisch. Mein Wunschtraum war ein Medizinstudium gewesen. Doch die Sehrestverschlechterung machte mir dabei einen dicken Strich durch die Rechnung. Am geeignetsten erschien mir nun ein Psychologiestudium. Die Wahl der Uni gestaltete sich für mich nicht ganz einfach. Ich hatte ursprünglich geplant, mich in Leipzig, Heidelberg oder Freiburg zu bewerben, wo auch viele meiner Freunde hinziehen wollten. Jetzt, da ich wieder viele Arzttermine vor mir hatte und mehr Hilfe benötigte, bewarb ich mich an Unis in der Nähe des Wohnorts meiner Eltern.
Im Juli 2015 endete unsere Zeit am Leibniz Kolleg und alle gingen ihrer Wege. Meiner sollte mich zunächst ins Krankenhaus führen, da sich mein Sehen immer weiter verschlechterte. Mein Augenarzt meinte, ich solle so bald wie möglich in die Fachklinik nach Mainz gehen und mich dort behandeln lassen. Ich hatte allerdings schon einen Urlaub mit Freunden geplant, auf den ich mich riesig freute und den ich auf keinen Fall absagen wollte – ich war es einfach leid, dass meine Behinderung ständig mein Leben bestimmte.

Nach dem Urlaub wurde ich zweimal operiert. Die Ärzte gaben sich zwar große Mühe aber trotzdem war mein rechtes Auge nach der zweiten OP blind. Eine dritte OP mit geringen Erfolgsaussichten lehnte ich ab. Die Eingriffe waren sehr schmerzhaft gewesen, und ich bin der Meinung zu viel Krankenhaus kann manchmal mehr Schaden anrichten, als die vage Hoffnung auf die eventuelle Wiederherstellung eines kleinen Teils des Sehvermögens rechtfertigt.

Ein großes Glück habe ich allerdings: Mein linkes Auge ist davon unberührt geblieben. Auf ihm sehe ich bis heute etwas zwischen 2 bis 5 %. Auch wenn ich viele Dinge nicht mehr kann, weiß ich doch, wie unglaublich wertvoll dieser Sehrest ist.

Das Foto zeigt den Kölner Dom

Mein Studium an der Universität zu Köln

Dank des Härtefallantrags bekam ich Zusagen für mehrere Unis, unter anderem für die Uni Marburg. Dort hinzugehen wäre wohl unter dem Aspekt der Sehbehinderung am sinnvollsten gewesen, aber nach Marburg zurückzugehen wäre mir wie ein Rückschritt und ein Eingeständnis vorgekommen, dass ich meine Behinderung über mein Leben bestimmen lasse. Die beste Option schien mir nun Köln zu sein. So konnte jederzeit bei meinen in der Nähe wohnenden Eltern sein, war aber trotzdem in einer anderen Stadt.

Mein erstes Semester lief dann alles andere als zufriedenstellend. Es gelang mir nicht, meine Kommilitonen näher kennenzulernen. Ich war einfach nicht in der Stimmung für Partys und Small Talk, und durch die große Zahl der Studierenden erkannte ich die, mit denen ich einmal geredet hatte, nicht wieder. Aus praktischen Gründen war ich in ein Zimmer des Studentenwerks gezogen. Dort war es trostlos und man redete nur das Nötigste miteinander. Inzwischen weiß ich aber, dass es auch im Studentenwerk sehr nette WGs gibt. Ich war oft einsam und vermisste meine Freunde. Auch der Sehverlust machte mir natürlich weiter zu schaffen. Ich vermisste das Lesen und hatte Probleme mich zu orientieren. Im Gegensatz zu Marburg und Tübingen ist Köln ziemlich unübersichtlich und wenn man mal ehrlich ist, auch nicht besonders hübsch.

Die Universität zu Köln barrierefrei zu nennen, ist meiner Meinung nach eine leichte Übertreibung. Es gibt kompetente Behindertenbeauftragte, Nachteilsausgleich bei Klausuren, und ich kann mir Literatur umwandeln lassen, aber ich muss mich um sehr viel selbst kümmern. Wenn man dabei nicht aufpasst, wird man von einer Stelle zur nächsten geschickt.

Die Literatur, die von den Dozenten hochgeladen wird, ist oft nur eingescannt und so für mich nicht lesbar. Weil ich Folien nicht erkennen kann, kann ich aus den Vorlesungen kaum etwas mitnehmen und muss mir viel im Nachhinein selbst beibringen. Hinzu kommt, dass die offizielle Seite der Uni, auf der man sich beispielsweise für Veranstaltungen und Klausuren anmeldet, nicht barrierefrei ist. Außerdem muss ich ständig für alles Mögliche Anträge stellen. Das alles hat mich in der ersten Zeit doch etwas überfordert. Deshalb habe ich im ersten Semester weniger über Psychologie gelernt als vielmehr (Lebens)Erfahrungen gesammelt.

Das hat mir am meisten geholfen:

Das i-Phone

Zu Beginn meines Studiums habe ich mir auf Empfehlung ein i-Phone angeschafft. Ich nutze es natürlich um zu kommunizieren aber auch für vieles mehr: Kann ich ein Schild nicht lesen, so fotographiere ich es ab und ziehe mir das Bild groß, Lehrbücher und Folien lasse ich mir davon vorlesen und wenn dies rechtlich kein Problem wäre könnte ich sogar meine Vorlesungen damit aufzeichnen.

Studienassistenzen

Mein gesamtes Studium über bin ich in unterschiedlichem Umfang auf Studienassistenzen angewiesen. Inzwischen benötige ich nicht mehr viele Stunden, aber trotzdem ist es hilfreich, ein paar Leute zu haben, die bei Bedarf eine Klausuranmeldung erledigen oder etwas vorlesen können.

Am wichtigsten sind Assistenzkräfte aber, um die Tatsache auszugleichen, dass ich von Vorlesungen so wenig mitnehmen kann. Manche Inhalte wie Statistik oder Biologische Psychologie kann ich mir nicht selbst erschließen. Als ich das erkannt hatte, habe ich Psychologiestudentinnen aus höheren Semestern als Studienassistentinnen angestellt, die mir die Inhalte erklären konnten.

Mit den Dozenten reden

Ja, die Uni ist anonym aber die meisten Dozenten sind kooperativ. Bei Bedarf ein persönliches Gespräch zu suchen ist in jedem Fall sinnvoll.

Ab dem zweiten Semester ging es wieder bergauf. Das hat vor allem damit zu tun, dass ich in das Wohnheim der ESG (evangelische Studierendengemeinde) eingezogen bin. Dort wohnte ich mit 15 weiteren Leuten auf einem chaotischen Flur. Wir hatten eine Gemeinschaftsküche und ein Wohnzimmer. In dem Haus war immer viel los. Es war leicht, neue Leute kennenzulernen. Ich habe schnell Freunde gefunden und begonnen, mich ehrenamtlich zu engagieren. Meine Behinderung war dort überhaupt kein Problem. In dem Haus wurden viele Freizeitangebote gemacht, sogar Fahrten fanden statt. Ich bin in den Chor eingetreten. Man muss übrigens nicht christlich sein um dort zu wohnen und die meisten Angebote sind auch nicht christlich orientiert. Als das Wohnheim vor einem knappen Jahr wegen Sanierung geschlossen wurde, hatte ich großes Glück und habe mit vier Freunden zusammen eine großartige Wohnung in Köln Kalk ergattert. Dort wohnen wir noch und inzwischen sind die Wohnung und meine Mitbewohner mein Zuhause geworden. Wir haben oft Besuch und veranstalten Spieleabende. Die Wohnung ist eine von vielen in einem großen Neubaugebäude. Dort findet integratives Wohnen statt. Das bedeutet, dass die Hälfte der Wohnungen an Geflüchtete vermietet wird. Das Haus ist also multikulturell, was mir sehr gefällt.

Auch mein Studium gefällt mir immer besser. Klar, ich kann nicht dieselben Leistungen erbringen wie meine Kommilitonen und manchmal ist es ganz schön frustrierend zu sehen, wie viele Steine mir zusätzlich in den Weg gelegt werden, aber ich habe eine hohe Frustrationstoleranz entwickelt und kann über mich selbst lachen und das hilft – jedenfalls meistens. Das Psychologiestudium ist wirklich interessant und es kann mich begeistern. Trotzdem gibt es immer wieder Rückschläge. Ich versuche z. B. seit fast einem Jahr, einen Praktikumsplatz zu bekommen. Das Problem dabei ist, dass ich nur Absagen bekomme, sobald ich meine Behinderung in der Bewerbung erwähne. Als ich das gemerkt habe, habe ich dieses kleine Detail weggelassen und prompt auch Zusagen erhalten. Allerdings wurden diese wieder zurückgezogen, sobald die Zuständigen von meiner Sehbehinderung erfuhren. Diese Tatsache nervt mich gerade sehr, da ich noch zwei Praktika benötige um meinen Bachelor abzuschließen, und natürlich auch unbedingt praktische Erfahrungen sammeln möchte. Am ärgerlichsten finde ich, dass ich einfach vorverurteilt werde und sich die Leute nicht mal die Mühe machen, ihre Bedenken mit mir zu besprechen. Für das Problem habe ich bisher noch keine Lösung gefunden aber ich bin dran.

Inzwischen bin ich im siebten Semester und werde den Bachelor, wenn alles gut geht, dieses Jahr beenden. Danach möchte ich mit dem Master beginnen. Anschließend würde ich gerne die Therapeutenausbildung machen und Psychotherapeutin werden, aber vielleicht kommt ja am Ende auch alles ganz anders. Wir werden sehen.
[Fotos: Kathrin Hölscher/privat]

Panoramablick über Köln am Rhein