Nachbar*innen aus der Ukraine:

Wer wohnt an der blista?

Julia Mostowa | Seit März ist die blista nicht nur eine "Studienanstalt", sondern auch ein Asyl für geflüchtete Menschen aus der Ukraine. In einer der WGs wohnen bis heute sieben geflüchtete Ukrainer*innen. Wie fühlen sie sich an der blista und in Marburg? Welche Perspektiven haben sie in Deutschland und was planen sie für die Zukunft? Das alles und viel mehr erzählen uns unsere neuen Nachbar*innen.

Wer wohnt hier?

Sie kommen alle aus verschiedenen Regionen der Ukraine. Fast alle haben eine Sehbehinderung oder Blindheit.
Julia und Roman sind ein junges Ehepaar aus Kyjiw, Ksyscha und Dima stammen aus Poltawa, Oleg kommt aus Harkiw. Tanja und ihre 15-jährige Tochter Maria wurden aus Dnipro erst nach Rumänien evakuiert, aber die Lebensbedingungen im Flüchtlingslager waren für das sehbehinderte Mädchen ziemlich schwer. „Wir konnten nicht dasitzen und warten bis der Krieg endet, denn wir hätten keine Möglichkeit gehabt, uns zu integrieren und zu entwickeln", erzählt Tanja. Freiwillige halfen Tanja und Maria einen Wohnplatz an der blista zu bekommen „In der Wohngruppe ist es sehr gemütlich, genau wie zu Hause. Es gibt hier alles Nötige, was man zum Leben braucht“, kommentiert Tanja. Ihre Tochter kann außerdem die Schule der blista besuchen, um sich besser in die deutsche Kultur zu integrieren und mit anderen Teenagern in Kontakt zu kommen.

Ksyscha, Dima, Julia, Tanja, Maria und Oleg sitzen auf Sofas im Wohnzimmer.
Ksyscha, Dima, Julia, Tanja, Maria und Oleg

Erstaunlich!

Dokumente per Post?! „Ich bekam noch nie so viele Briefe wie in Deutschland!", berichtet Kascha von ihren Eindrücken. „Das letzte Mal bekam und verschickte ich vor 20 Jahren Briefe“, sagt Julia. „Wir hatten schon vergessen, wie man mit einem Kugelschreiber schreibt!" Sie erzählen ihren deutschen Nachbar*innen, dass man in ihrer Heimat meistens digitale Dokumente nutzt. Staatliche Organisationen und kommerzielle Dienstleister haben Konzepte entwickelt, um den papierlosen Informationsaustausch einzuführen. Die geflüchteten Ukrainer*innen waren sehr verwundert, dass Deutschland, ein technisch hoch entwickeltes Land, immer noch die traditionelle Post nutzt. Dabei ist der Postweg langsam und unpraktisch. Außerdem brauchen Papierunterlagen viel Platz und belasten die Umwelt. „Aber Retro ist auf jeden Fall romantisch“, kommentiert Roman. Auch das deutsche Wetter sorgte für Überraschungen. Ein so starker Temperaturunterschied zwischen morgens und nachmittags ist für die Ukraine untypisch. "Im Frühling war es lustig zu beobachten, wie Kinder dick und warm eingepackt in die Schule gingen und fast in Sommerkleidung mit ihren Jacken an den Rucksäcken zurückkehrten", erinnert sich Roman.

Roman arbeitet als Bautechniker. Auf dem Foto steht er auf der großen blista-Wiese.
Roman arbeitet als Bau-Techniker

Die besonderen Eindrücke

Marburg ist sehr schön und harmonisch, doch auch schwierig für blinde und sehbehinderte Menschen. Das Problem sind nicht nur die gewundenen Straßen. Auf den Bürgersteigen stehen ganz chaotisch Stühle und Tische der Cafés und Restaurants. Zusätzliche Hindernisse sind Werbeaufsteller. In der Ukraine sind Terrassen von Cafés und Restaurants gewöhnlich begrenzt. Werbeschilder auf den Bürgersteigen sind dort nicht gern gesehen. Das alles sind jedoch nur Kleinigkeiten, die die positiven Eindrücke von Marburg und der blista nicht verderben.
„Wir sind total erstaunt, wie viele Menschen uns unterstützen wollen und sie alle machen es von ganzem Herzen“, sagt Julia. Die blista hat ein sehr großes Team von Freiwilligen für uns zusammengestellt. „Wir fühlen uns hier nicht fremd, weil wir schon sehr viele Freunde in der blista haben“, berichtet Tanja. „Eigentlich sind die Leute in Marburg sehr freundlich", sagt Dima. "Die wissen ganz gut, wie man mit blinden und sehbehinderten Menschen umgeht. Niemand zeigt auf dich mit dem Finger und stellt überflüssige Fragen. Aus diesem Grund vergesse ich die Probleme, die meine Sehbehinderung mit sich bringt. Ich fühle mich hier wie eine gesunde Person“.

Uns Geflüchteten ist auch die bequeme Infrastruktur der blista aufgefallen. Wir lassen die blista-Mensa nicht außer Acht. „Wir sind von der Fantasie des Kochteams, das eine leckere und vielfältige Speisekarte kreiert, beeindruckt“,  erzählt Oleg.
Als wir flohen, hatten wir alle kein Ziel. In der Ukraine sagt man: „Wir sind in die Nacht gegangen“. Wir dachten nicht, dass wir eine so starke und herzliche Unterstützung in Deutschland bekommen würden. „Wir bekamen alles, was wir brauchten und noch viel mehr", kommentiert Roman.

Wie geht es weiter?

Der Krieg zeigt, wie stark man von den Absichten anderer abhängt. „Wir, Maria und ich, schmieden nur für die nächsten zwei Wochen Pläne", erzählt Tanja. Doch alle Nachbar*innen aus der Ukraine wollen Deutsch lernen und sich in die neue Kultur integrieren.
„Niemand kann sagen, wann dieser Krieg enden wird. Auf jeden Fall müssen wir unser Leben weiter hier aufbauen“, sagt Julia. Sie möchte in Deutschland als Journalistin arbeiten und ihr Buch in Deutsch übersetzen. Roman arbeitet schon als Bau-Techniker an der blista. In nächster Zukunft plant er, wieder Schmuckstücke herzustellen. Das hat er in der Ukraine gemacht. Dafür hat ihm die blista einen Raum zur Verfügung gestellt. Ksyscha möchte im September das Kochteam der blista aufstocken. Dima, Oleg und Maria denken über eine Ausbildung nach. Alle vermissen die Heimat, doch sie müssen für sich neue Perspektiven in Deutschland schaffen. Zum Glück haben sie eine solche Möglichkeit.