Zeitenwende - vom Leben nach der blista

Duales Studium zur Verwaltungs­inspektorin

Ann-Kathrin Hesse, Abitur 2012

Schau mal genauer hin

Meine Schulzeit ist zu Ende, aber ich kann den Gong der Schulklingel immer noch hören. Damals wünschte ich mir, ich könnte ihn noch ein Jahr länger vernehmen. Aber das Leben ging weiter – und vor allem erst richtig los.

Auf dem Photo ist die imposante Kathedrale von Santiago de Compostela zu sehen

Die Frage nach dem „Wo geht es mit mir hin? Was will ich eigentlich?“ wird am Ende der Schullaufbahn mit Sicherheit oft gestellt. Auch ich hatte 2012 viele Fragen und wenig Antworten. Ich entschied mich zunächst, meinen Kopf ein wenig freizubekommen, die Welt und vor allem mich etwas besser kennenzulernen. Im Juli 2012, kurz nach meiner Abi-Feier, entschwand ich mit einer Freundin, viel Gepäck und einem Tandem auf den spanischen Jakobsweg, den Caminho del Norte (Küstenweg). 800 Kilometer später kamen wir in Santiago de Compostela an, und ich hatte auf diesem Weg wieder ein Stück mehr über mich selbst erfahren. Weitere Reisen, zum Beispiel eine Wanderung von Bayern (Dreiländereck) nach Niedersachsen, schlossen sich an. Es wurde ein Jahr voller Erlebnisse und Ideen, die mich meinen eigenen Vorstellungen näher bringen sollten, und ich fühlte mich jetzt besser gewappnet für den Wahnsinn, der nun kommen würde.

2013 begann ich ein duales Studium bei der Stadt Bremen mit der Aussicht, einmal verbeamtet zu werden. Ich sollte also lernen, wie man Kaffee trinkt, vielleicht auch noch wie man welchen kocht – wenn nicht gerade Praktikanten da sind, die diese Aufgabe übernehmen –, wie man auf der Tastatur möglichst unauffällig schläft und wie man die eigenen Zuständigkeiten und Aufgaben an die Kollegen delegiert. Solche und ähnliche Vorurteile begleiteten und begleiten wohl immer noch das Beamtentum, und nun würde ich vielleicht bald dazu gehören.

Mein duales Studium gliederte sich abwechselnd in Praxis- und Theoriephasen. Den Bachelor in Public Administration absolvierte ich an der Hochschule Bremen, meine Laufbahnausbildung zur Verwaltungsinspektorin hatte ich bei der Stadt Bremen zu meistern. Inhaltlich musste ich mich in dieser Zeit u. a. mit Staats- und Verfassungsrecht, Finanzwirtschaft, Sozialrecht, EU-Politik und EU-Recht, aber auch mit Rhetorik und wissenschaftlichem Arbeiten, Finanzmathematik und Ökonomie auseinandersetzten. Dabei erschwerten viele Hürden und Hindernisse meinen Weg. Ich musste schnell feststellen, dass eine Sehbehinderung in der Gesellschaft, aber vor allem in Wissenschaft und Lehre, immer noch als etwas Exotisches angesehen wird. Dazu muss ich sagen, dass ich seit meiner Kindheit nur noch hell und dunkel und bei optimalen Lichtverhältnissen auch noch teilweise Farben und auch Umrisse erkennen kann. An der Uni musste ich fortan mehr denn je lernen, für mich selbst einzustehen und einen langen Atem zu entwickeln. Und ich sah mich hin und wieder auch gezwungen, meinen Dozenten tierisch auf die Nerven zu gehen. Mal ging es um die Weigerung vorzulesen, was gerade an die Tafel geschrieben wurde, dann war es die Ausgabe von nicht barrierefreien Dokumenten, wenn sie denn überhaupt in digitalisierter Form vorlagen. Ich musste mir auch diskriminierende Aussagen anhören wie: „Wir sind so langsam, weil Frau Hesse so langsam ist“. Klingt alles etwas haarsträubend und kritisch, und das war es auch. Trotzdem muss ich im Nachhinein sagen, dass diese Zeit zwar hart für mich war, aber gut. Hart, weil ich lernen musste, dass kein Welpenschutz aufgrund meiner Behinderung bestand, und die Behinderung schlichtweg oft auch ignoriert wurde. Gut, weil ich gelernt habe, mich zu behaupten, für meine Rechte einzustehen und Entscheidungen zu treffen und auch zu vertreten. Deshalb ist es wichtig, dass man selbst weiß, was man will und wo die eigenen Ziele liegen, welche Mittel man zur Verfügung hat und welche Mittel man braucht, um ans Ziel zu gelangen, oder ob man vielleicht sein Ziel ändern muss. Die Zeit meines Bachelors war also ein ständiger Prozess des Hinterfragens, der zudem viel Kreativität erforderte. Da ich von Natur aus eher eine Kämpferin bin, habe ich mich nicht entmutigen lassen und im Jahr 2016, genau in der Regelstudienzeit, mein duales Studium erfolgreich abgeschlossen. Mein Bachelorthema habe ich aus eigenem Interesse heraus über den Marrakesch-Vertrag geschrieben.

Doch es sollte noch weiter gehen, noch hatte ich nicht genug

Mein Arbeitgeber (Stadt Bremen) übernahm mich nach meinem Bachelorabschluss ins Beamtenverhältnis auf Probe und ich landete beim Verbraucherschutz. Hier beschäftige ich mich unter anderem mit Versicherungsmodellen, verschiedenen Rechtsgrundlagen und Projekten für den wirtschaftlichen Verbraucherschutz. Ein Schwerpunkt meiner Arbeit ist das sogenannte EU-Schnellwarnsystem, welches ich mitbetreue. Hier werden Beanstandungen bei Lebensmitteln, Futtermitteln und bei Bedarfsgegenständen bearbeitet, die zum Beispiel Rückstände oder andere Makel aufweisen. Ich kann nur sagen, eine sehr spannende Arbeit mit wirklich tollen Kollegen.

Im August hatte ich mein duales Studium abgeschlossen, und im September 2016 begann ich mit meinen Master in Wirtschafts-psychologie an der Hochschule für Ökonomie und Management (FOM) in Bremen. Ich entschied mich für diesen Master, da ich an Wirtschaft und Psychologie gleichermaßen interessiert war und meinen Horizont erweitern wollte. Zudem bin ich der Auffassung, dass gerade Menschen mit Behinderungen mehr Qualifikation benötigen als Nichtbehinderte, um in der Gesellschaft, bei Vorgesetzten oder übergeordneten Instanzen die gleiche Anerkennung zu finden. Das war unter anderem ein Grund für mich, neben meiner Vollzeitstelle den Master draufzusatteln und mich fortan in Themenfeldern wie Sozialpsychologie, entscheidungsorientiertes Management, Arbeits- und Organisationspsychologie oder Führungspsychologie einzuarbeiten, wobei ich mich schwerpunktmäßig mit Organisationsgestaltung und -⁠entwicklung beschäftige. Die Veranstaltungen an der Hochschule finden in der Regel alle zwei Wochen an zwei Abendterminen und ganztägig samstags statt.

Ich war völlig überwältigt von dem Engagement der FOM-Studienberatung und der ­Dozenten. Alle waren total interessiert und begeistert. Auch wenn noch nie eine blinde Studentin am Bremer Standort der FOM gewesen war, versuchten alle, mir einen guten Studienstart sicherzustellen. Ein paar kleine Stolpereien gab es zwar, allerdings waren die nicht nennenswert, und vor allem wurden Unzulänglichkeiten z. B. bei der Barrierefreiheit von Texten nicht mir angelastet. Ich war so viel behindertenfreundliches Verhalten gar nicht mehr gewohnt und war froh, dass sich alle Beteiligten so darauf eingelassen haben. Nun stecke ich mitten in meiner Masterarbeit und habe meine Theorie soweit geschafft. Jetzt stellt sich mir natürlich die Frage: was mache ich danach? Ich bin ein sehr dynamischer, aktiver und wissbegieriger Mensch und möchte die Welt kennenlernen. Neben meinen Hobbies Laufen (z. B. Halbmarathon) und Reisen, will ich mich auch weiterbilden. Meine Freude am Reisen hat in den letzten Jahren eher zugenommen, so dass ich sogar während meiner Bachelorarbeit drei Wochen in die Vereinigten Staaten gereist bin, um Kultur, Leute und Land näher kennenzulernen. Weitere Reiseziele waren Moskau, London, Lissabon und Wien. Ich bin mir sicher, dass noch viele weitere Ziele folgen werden.

Just do it

Auch aufgrund der fortschreitenden Digitalisierung ist im Studium und in der Ausbildung für Menschen mit Behinderung vieles erheblich leichter geworden als noch vor 20 Jahren. Ich bin 1992 geboren worden und habe die Erfahrung machen müssen, wie es ist, die erste blinde Schülerin an einem Regelschulgymnasium zu sein. Von seinen Mitschülern wurde man nicht als „gleichwertig“ wahrgenommen, teilweise ignoriert, indem man zum Beispiel bei Gruppenarbeiten nicht einbezogen wurde. Einige Lehrer waren der Ansicht, dass ich mich zu sehr auf meiner Behinderung ausruhe, wieder andere waren der Auffassung, dass ich auf eine Sonderschule gehöre, aber natürlich gab es auch einige, die sich total reingehängt haben. Ich selbst hatte an mich den Anspruch, gute Noten zu erzielen, und ich bin vor allem auch ein Mensch, der sehr viel Wert auf soziale Interaktion und Kommunikation legt – und dann macht einem ein schwergängiges, ignorantes Schulumfeld doch sehr zu schaffen. Unter diesen Umständen wollte ich auf der Regelschule nicht bleiben und habe deshalb in eigener Regie den Wechsel zur blista im Jahre 2009 vorgenommen. Meinen damaligen Entschluss habe ich nicht bereut, da ich so einen Abschluss erwerben konnte, der mich heute weiterbringt. Dennoch lege ich großen Wert darauf, dass ich nicht „anders“ oder „besonders“ bin, nur weil ich eine Behinderung habe. Deshalb studiere ich dort, wo ich möchte, lerne das, was ich will, und mache die Dinge, die mich interessieren und begeistern. Ich lege allen Lesern ans Herz, sich nicht von den Schlägen des Lebens unterkriegen zu lassen, beim Hinfallen sich zu überlegen, wie man wieder auf die Beine kommt, und zu lernen, wie man sich selber schützen oder zurückschlagen kann.

Ich bin mir sicher, dass man als Mensch mit Behinderung an andere Grenzen stößt als ein Mensch ohne Behinderung, aber seien wir mal ehrlich: Jeder hat seine Macken, seine Fehler, seine Mankos, aber in letzter Konsequenz sind wir alle Menschen. Auch wenn sich die Gesellschaft und auch die Möglichkeiten für blinde Menschen in den letzten Jahren stark gewandelt haben, ist ein Leben mit Behinderung kein einfaches Pflaster. Deshalb sollten Eltern ihre Kinder von Anfang an fördern und sie zum eigenständigen Denken anregen, damit sie lernen, selbstständig, verantwortungsbewusst und selbstbestimmt vorzugehen. Zu guter Letzt mein persönliches Motto, welches ich von ganzem Herzen lebe: Es gibt für alles eine Lösung. Wenn es keine Lösung gibt, findet sich eine Alternative!