Carl-Strehl-Plakette

Carl-Strehl-Plakette zeigt das Profil Carl Strehls und ist mit Geburts- und Sterbetag versehen. Sie zeigt zudem die Abkürzungen beider Einrichtungen, des VBGD (heute DVBS) und der Deutschen Blindenstudienanstalt.

Vor rund 50 Jahren haben die blista und der DVBS gemeinsam die Carl-Strehl-Plakette gestiftet. Sie soll an den Mitbegründer beider Institutionen erinnern, der diese ein halbes Jahrhundert lang geleitet hat (> Carl Strehl).

Mit der Carl-Strehl-Plakette werden Persönlichkeiten geehrt, die ganz besondere Verdienste um Menschen mit Blindheit und Sehbehinderung erworben haben. Die Auszeichnung ist nicht dotiert. Sie soll laut Vergabeordnung "ihren Wert vielmehr durch die sorgfältige Auswahl der zu Ehrenden erhalten“ .

Ausgezeichnete Persönlichkeiten und Laudationes

  1. Prof. Dr. Bruno Schultz, Berlin, 1974, "Im Rahmen des Weltkongresses der Internationalen Föderation der Blinden wurde am 26. Juli 1974 an Herrn Prof. Bruno Schultz, Berlin, erstmals die Carl-Strehl-Plakette verliehen ..." Prof. Heinrich Scholler würdigte das Lebenswerk von Prof. Bruno Schultz, einem lebenslangen Freund Carl Strehls (s. horus 1/1975, S. 30).
  2. Dr. phil. Friedrich Mittelsten Scheid, Marburg, 1975, im Rahmen der Mitgliederversammlung der blista (zu Laudatio und Dank). Zum O-Ton von Dr. Mittelsten Scheid (Auszug blista-Ausstellung blick:punkte zu seiner Ersteinstellung als Blindenlehrer)
  3. Dr. phil. Emil Freund, Marburg und
  4. Dr. jur. Gerd Bucerius, Hamburg, beide 1976 im Rahmen der Feierlichkeiten zum 60-jährigen Jubiläum von blista und DVBS (zu den Laudationes).
  5. Hans Mohl, Mainz, 1979. Dem Initiator und Leiter der Aktion Sorgenkind wurde die Carl-Strehl-Plakette im Rahmen einer kleinen Feierstundeverliehen (zur Laudatio).
  6. Prof. Dr. Helmut Werner, Bonn, 1985, im Rahmen eines Empfangs, den der DVBS im Bürgerhaus in Marburg-Cappel für die Teilnehmenden des europäischen Seminars über Reliefstadtpläne für blinde Menschen gab (zur Laudatio).
  7. Dr. Felix Brandt, Neuöttingen, 1990. Anläßlich der Mitgliederversammlung des DVBS am 6. Oktober 1990 würdigte man die großen Verdienste, die der Münchner Augenarzt Dr. Felix Brandt um die Verhütung von Blindheit in den Ländern der Dritten Welt und insbeson­dere um die medizinische Versorgung blinder Men­schen in Nepal erworben hat (zur Laudatio von Prof. Dr. Heinrich Scholler, Ehrenmitglied des DVBS-Vorstan­des).
  8. Dr. med. Fritz Georg, Bad Rothenfelde. Beim Festakt zum 75-jährigen Bestehen beider Vereine wurde am 21. Juli 1991 in der Aula der "Alten Universität" der bedeutende Förderer von blista und DVBS ausgezeichnet (zur Laudatio).
  9. Dr. Annelise Liebe, Berlin, 1994. Die "Grande Dame des deutschen Blindenwesens", die Musikwissenschaftle­rin Dr. Annelise Liebe, wurde für den Aufbau der Seniorenarbeit und die jahrelange Leitung der Fachgruppe "Ruhestand" im DVBS ausgezeichnet (zur Laudatio).
  10. Dr. Hans-Eugen Schulze, Karlsruhe, 2002, hat nicht nur im Beruf Herausragendes geleistet; er hat "vor allem auf vorbildliche Weise seine Kennt­nisse und Fähigkeiten sowie sein im Berufsleben erworbenes Ansehen unermüdlich und mit großem Erfolg genutzt, um Blinden und Sehbehinderten im In- und Ausland zu helfen, wo immer er konnte" (zur Laudatio).
  11. Mieczyslaw Kozlowski, Krakau, 2005. Zwei Laudationes hielten Hans Junker, Lehrer an der Carl-Strehl-Schule, und sein Vorgänger, Dr. Hans-Eugen Schulze (s.o.).
  12. Dr. Otto Hauck, Marburg. Rund 70 Gäste nahmen am 15. November 2013 an der Feierstunde in der Aula der blista teil. Zum Auftakt sang der DVBS-Chor unter der Leitung von Rainer Husel "My Way" von Frank Sinatra, ein Lieblingslied des Geehrten. Ulrich Mayer-Uhma (Klavier) und Wilfried Laufenberg (Querflöte) unterhielten die Gäste anschließend mit Stücken von Bach und Pergolesi (zur Laudatio).
  13. Bea Fischer und
  14. Jochen Fischer
  15. Pamela Cory und
  16. Dennis Cory, Hamburg, alle 2016, im Rahmen der Mitgliederversammlung des DVBS (zur Laudatio).
  17. Dr. Matthias Weström, Marburg, 2017, im Rahmen der 81. Mitgliederversammlung der blista (zur Laudatio).
  18. Prof. Dr. Wolfgang Seitter, Marburg, 2019, im Rahmen der 83. Mitgliederversammlung der blista (zur Laudatio).

 


Dr. Mittelsten Scheid mit Schülern am Himmelsglobus 1963

Verleihung der Carl-Strehl-Plakette an Dr. Friedrich Mittelsten Scheid

In der Mitgliederversammlung des e. V. Hochschulbücherei, Studienanstalt und Beratungsstelle für blinde Studierende vom 24. Oktober 1975 wurde Herrn Dr. Friedrich Mittelsten Scheid die Carl-Strehl-Plakette verliehen.

Im Auftrag der Deutschen Blindenstudienanstalt und des Vereins der blinden Geistesarbeiter Deutschlands verlas Prof. Dr. H. Scholler die Verleihungsurkunde, die folgenden Wortlaut hat: "In Anerkennung seiner besonderen Verdienste und seines persönlichen Einsatzes für die höhere Blindenbildung während mehr als sechs Jahrzehnten verleihen die Deutsche Blindenstudienanstalt und der Verein der blinden Geistesarbeiter Deutschlands Herrn Dr. phil. Friedrich Mittelsten Scheid die Carl-Strehl-Plakette. Marburg a. d. Lahn, am 24. Oktober 1975".

In seiner Laudat;o auf Dr. Mittelsten Scheid führte Professor Scholler aus: "Sie, Herr Dr. Mittelsten Scheid, sind nicht nur ein verehrter Lehrer so vieler Schüler, die den Weg durch die Marburger Bildungseinrichtung genommen haben, Sie sind nicht nur mein Lehrer in Unter- und Oberprima im Jahre 1946-1948 gewesen, Sie sind auch als Mitgründer des VbGD unser geistiger Wegbereiter. In dieser Verbindung von Lehrer und geistigem Wegbereiter Sie zu würdigen, ist heute meine ehrenvolle und doch zugleich auch sehr fordernde Aufgabe. Ihre Vita, verehrter Lehrer und lieber Freund, darf ich wie folgt kurz umreißen:

Friedrich Wilhelm Mittelsten Scheid wurde am 1. Februar 1891 in Wuppertal-Barmen als Sohn des Fabrikbesitzers Heinrich Mittelsten Scheid und seiner Ehefrau Maria, geb. Balke, geboren. Da er bereits in den ersten Lebensjahren an Jugendglaukom erblindete, erhielt er zunächst Privatunterricht, bis er Ostern 1904 in die Obertertia der Oberrealschule zu Barmen eintrat. Ostern 1909 bestand er an dieser Anstalt die Reifeprüfung mit Auszeichnung. An den Universitäten Freiburg /Br., Berlin, München und Göttingen stud ierte er Mathematik, Physik und Philosophie. Mit diesen drei Wissensgebieten als Hauptfächern bestand er am 1. März 1917 an der Universität Göttingen das Staatsexamen mit Auszeichnung. Anschließend arbeitete er ehrenamtlich im Blindenwesen, vornehmlich in der Kriegsblindenfürsorge, kehrte dann aber zu wissenschaftlichen Arbeiten an die Universität Göttingen zurück, wo er am 15. Juni 1921 summa cum laude promovierte mit einer mathematischen Arbeit über „Die Zerlegung irreduzibler integrabler Gruppen hyperkomplexer Größen in unzerlegbare Faktoren". Nach abermaliger Unterbrechung seiner mathematischen Studien im Interesse der Blindenfürsorge führte er mathematische Berechnungen für die Göttinger Firma „Erda - Gesellschaft zur Erforschung des Erdinnern" aus und übersetzte gemeinsam mit seiner Frau - er hatte 1918 geheiratet - für den Verlag Julius Springer, Berlin, ein Werk des englischen Physikers Whittaker.

Nachdem Dr. Friedrich Mittelsten Scheid schon seit dem Herbst 1916, einem Rufe Carl Strehls folgend , ehrenamtlich in der von der „Hochschulbücherei. Studienanstalt und Beratungsstelle für blinde Studierende zu Marburg/L." einberufenen Mathematikschriftkommission tätig gewesen war, siedelte er im Oktober 1923 nach Marburg über und wurde dort an der Aufbauschule für Blinde und Sehsehwache als Lehrer der Mathematik von der Blindenstudienanstalt angestellt. An dieser von Prof. Carl Strehl gegründeten Schule und in dem von ihm geschaffenen Verein der blinden Akademiker Deutschlands - später Verein der blinden Geistesarbeiter Deutschlands e. V. - arbeitete er sozusagen bis zur heutigen Stunde.

Dieser Vita muß noch hinzugefügt werden, daß Sie damals in Göttingen die weltberühmten Lehrer David Hilbert und Felix Klein hörten und daß Sie auch den berühmten Philosophen Husserl zum Lehrer hatten. Dreimal wurde Ihnen von verschiedenen Universitäten und Fakultäten angeboten, sich zu habilitieren, aber Sie haben es aus zu großer Bescheidenheit, wie uns heute scheint, abgelehnt, diesen Weg
einzuschlagen.

Erwähnung verdient ferner noch, was Sie auch auf dem Gebiet der Pädagogik des Mathematikunterrichts für Blinde bis hin zur Schaffung der modernen Mathematik-Brailleschrift geleistet haben. Dies kann kaum in kurzen Worten gewürdigt werden. Ich möchte daher Sie selbst zitieren: "Es war Neuland, das ich betrat: nirgends zeigten sich gebahnte Pfade, geschweige denn wegweisende Tafeln. Und ich selbst? Ich kam aus wissenschaftlicher Arbeit, für eine Unterrichtstätigkeit nur ausgerüstet mit den bescheidenen pädagogischen Kenntnissen, die die Universität vor 50 Jahren den Staatsexamenskandidaten abverlangte. Zwei Voraussetzungen brachte ich freilich mit, die mir auch heute nach 44jähriger Berufsarbeit noch wichtiger erscheinen als pädagogische Theorien und didaktischer Kunstgriff: die Liebe zur Wissenschaft und die Liebe zur Jugend. Wohl fürhrten beide zuweilen eine heftige Fehde in meiner Brust; aber sie einten sich doch immer wieder in der Liebe zum Lehrerberuf." Sie haben aber auch selbst geschildert, woher Sie Ihre Erfahrungen geschöpft haben; so sagten Sie: „Aber wie sollte ich nun die geeignete Unterrichtsmethode finden? Es blieb mir .nur eine Möglichkeit: Die Reflexion auf meinen eigenen Weg zur Mathematik. Er begann, mir selbst unbewußt, in frühester Kindheit mit der Freude am Raumerleben. Meine Erinnerung führte mich zurück in unseren großen Garten, in dem ich im fröhlichen Spiel mit Altersgenossen und auf einsamen Entdeckungsfahrten gelernt hatte, mich frei und sicher zu bewegen. Wie dankbar ich meinen Eltern bin, daß sie die eigene Ängstlichkeit überwanden, und, unbekümmert um nachbarliche Vorwürfe, den Kletterdrang des Knaben gewähren ließen und es auch nicht tragisch nahmen, als er einmal aus der Krone eines mächtigen Kastanienbaumes mit einer Feuerwehrleiter heruntergeholt werden mußte."

Neben Ihrem Verdienst um die Mathematikschrift, die Sie als Mitglied der Mathematikschriftkommission in jahrelangem Bemühen entworfen haben und die dann zum „System der Mathematik- und Chemieschrift für Blinde" zusammengefaßt wurde, haben Sie als Mitglied des Vereins der blinden Geistesarbeiter und später im Vorstand dieser Vereinigung nun fast 60 Jahre lang mit Rat und Tat  mitgewirkt. Heute noch unterrichten Sie an der Carl-Strehl-Schule, heute noch sind Sie Ehrenmitglied des Vorstandes des VbGD.

Wie soll man den Wissenschaftler, den Mathematiker, Physiker, den Pädagogen und zugleich den Philosophen in einer Laudatio würdigen? Sie, der Sie sich früh dem Erdinnern und seiner Forschung zuwandten, der Sie die Mathematik den Blinden durch eine geeignete Schrift zugänglich machten, Sie, der Sie hilfreich in das Leben so vieler eingriffen, der Sie allen ein christliches Vorbild waren? Lassen Sie mich mit einem Wort der Lalla, einer Vertreterin der kaschmirischen Wiedererkennungslehre des 9. nachchristlichen Jahrhunderts dies abschließend zu tun versuchen: Das Licht des Wissens, das in Geist und Wonnen lebt, wer das erkennt, ist - lebend noch - erlöst allein. Ins wirre Netz des, was in ew·gem Wechsel lebt knüpfen die Toren tausende von Knoten ein. Herr, du bist selbst der Himmel und die Erde, Luft, Wasser, Blumen, Sandei, Tag und Nacht. Du bist die Opfergabe auf dem Herde, bist alles. Herr, wo ist, was ich dir opfern mag? Kein „Ich" ist und kein „Du", kein „Der" ist und kein „Das", der Schöpfer ist allein, der selber sich vergaß ...

Bis daher, verehrter Freund, der Sie in wenigen Wochen das 85. Lebensjahr erreichen werden, treffen diese Worte auf Sie und Ihr Verhältnis zu allen Ihren Schülern zu. Doch, was dann abschließend in zwei Zeilen von der Dichterin gesagt wird, das haben Sie durch Ihr Leben widerlegt. Dort heißt es nämlich: Der Blinde hat den Sinn der Worte nicht gefunden, sobald er sehend wird, ist ihm die Welt entschwunden. Sie haben als blinder Wissenschaftler, Mathematiker und Physiker, Sie haben als blinder Pädagoge diese Worte gefunden, ja eine ganze Wissenschaftsschrift mitgeschaffen, Sie und alle die, die dadurch mehr Licht erhielten, denen ist die Welt näher gerückt und nicht entschwunden.

Indem ich damit schließe, möchte ich Ihnen die Carl-Strehl-Plakette und die Ehrenurkunde überreichen und Sie bitten, beides anzunehmen." Anschließend überreichte Prof. Scholler Herrn Dr. Mittelsten Scheid die Plakette und die Ehrenurkunde.

Präsident Zingel gratulierte Herrn Dr. Mittelsten Scheid sehr herzlich und brachte in seinen Glückwünschen zum Ausdruck, daß diese Ehrung, an der die Deutsche Blindenstudienanstalt beteiligt sei, Artikulation des tiefen Dankes ist, den die Blindenstudienanstalt Herrn Dr. Mittelsten Scheid in hohem Maße schulde. Er sei nicht nur Wissensvermittler, sondern für seine blinden Schüler ein Vorbild und der ideale Erzieher gewesen, was sich in besonderem Maße in der Carl-Strehl-Schule ausgewirkt habe. Dr. Mittelsten Scheid sei ganz wesentlich daran beteiligt, daß die Schüler der Blindenstudienanstalt auf besondere Weise erzogen und gebildet wurden, und dafür sei ihm sehr zu danken. Präsident Zingel gab der Hoffnung Ausdruck, daß Dr. Mittelsten Scheid noch lange Jahre in diesem Kreise mitwirken möge.

In bewegten Worten dankte Dr. Mittelsten Scheid Präsident Zingel und Prof. Scholler:

„ Hochverehrter Herr Präsident Zingel, lieber Herr Prof. Scholler, sehr verehrte Damen und Herren!
Tief bewegt danke ich dem Verein der blinden Geistesarbeiter Deutschlands und der Deutschen Blindenstudienanstalt für die hohe Ehre, die Sie mir durch die Verleihung der Carl-Strehl-Plakette erweisen.  Insbesondere danke ich Ihnen, hochverehrter Herr Präsident, und Ihnen, lieber Herr Scholler, für die freundlichen Worte der Anerkennung, durch die Sie die Verleihung begründeten. Sie, lieber Herr Scholler, haben gezeigt, wie mein Lebensgang mich nach Marbu rg geführt hat. ,,Wie sich Verdienst und Glück verketten, das fällt den Toren selten ein" , sagt Mephisto. Zu diesen Toren möchte ich nicht gehören, und so bin ich mir denn auch an diesem Tage, an dem mir so viel Lob gespendet worden ist, des starken Anteils bewußt, den eine glückliche Fügung daran hat, daß ich meine bescheidenen Kräfte in Marburg sinnvoll einsetzen konnte. Was nun die Verdienste anbelangt, so waren sie für mich nicht nur glückverkettet, sondern Gluck in einem tieferen Sinne. In meinem Wuppertaler Elternhause galt Arbeit, auch mühevolle Arbeit, zumal wenn sie einer guten Sache diente, als Gottesdienst und Lebensglück zugleich. Diese Haltung haben mir meine Eltern ohne viel Worte so eindrucksvoll vorgelebt, daß sie dem Knaben zur Überzeugung wurden. Wer sich vorstellen kann, wie die Allgemeinheit um die Jahrhundertwende und noch darüber hinaus über die Leistungsmöglichkeiten eines Bl inden dachte, der vermag vielleicht zu ahnen, wie sorgenvoll ich bei dieser Einstellung zum Leben - trotz vermeintlicher wirtschaftlicher Unabhängigkeit - meiner Zukunft entgegensah. Ich will hier nicht sprechen von meinen fruhen Bemühungen, meinem Leben trotzdem einen Sinn zu geben, auch nicht von den Enttäuschungen und Ermutigungen , die ich dabei erlebte. Es ziemt sich aber wohl, heute der 23. Stunde eines Oktobertages des Jahres 1916 zu gedenken, in der ich zum erstenmal Marburgs Boden betrat. In den akademischen Ferien hatte ich aus Marburg ein Schreiben erhalten, das mir die Gründung des Vereins der blinden Akademiker Deutschlands anzeigte und mich zum Beitritt aufforderte. Dieser Aufforderung kam ich nach und fragte zugleich an , ob ich auf der Rückreise in mein Gott inger Wintersemester den Umweg über Marburg machen konne, um dort Menschen und Einrichtungen kennenzulernen . In einem sehr freundlichen Brief versicherte Strehl mir, er würde mich persönlich vom Bahnhof abholen und mir eine Fuhrerin vermitteln, mit der ich alle mir zweckmäßig erscheinenden Gänge machen könne. Ich verlebte die letzten Ferientage in Bonn und fuhr von dort mit einem Abendzug nach Marburg. Im Zuge traf ich zufällig zwei Klassenkameradinnen meiner Schwester, die in Marburg studierten. Als ich ihnen mein Bedenken äußerte wie ich als Blinder einen Blinden auf dem Bahnhof finden solle, sagte die eine der Studentinnen zu mir: "Darüber brauchen Sie sich keine Gedanken zu machen. Der Strehl ist in Marburg bekannt wie ein bunter Hund. Es gibt Wohl kaum einen Marburger, der Sie nicht zu ihm führen könnte Und außerdem, wenn er geschrieben hat, er würde Sie schon finden, so findet er Sie auch." Ich hatte bald Gelegenheit festzustellen, daß die Kommilitonin nicht sehr übertrieben hatte. Denn kaum stand ich auf dem Bahnsteig, da hörte ich auch schon neben mir meinen Namen. Auf dem Gang zum Philippshaus durch die stillen Straßen des schlafenden Marburg entwickelte Strehl mir seine Pläne für die nächsten Jahre, Pläne, die er dann auch wirklich real isierte. Ich war begeistert und sicherte ihm meine Unterstutzung zu. Schon sieben Wochen später nahm ich auf seine Aufforderung hin an der ersten öffentlichen Kundgebung des Vereins in Leipzig teil, bei der es um die Zukunft des wissenschaftlichen Blindenbuches ging. Dort wurde ich in die Dreierkommission gewählt, die mit der Ausarbeitung einer Mathematik- und Chemieschrift für Blinde betraut wurde, eine Arbeit, die mich viele Stunden meines Lebens gekostet hat. Natürlich ahnte ich damals noch nicht, daß ich sieben Jahre später in Marburg meine Lebensaufgabe finden wurde.

Schaue ich heute im Geist auf die 59 Jahre zuruck, die ich mich nun den Marburger Institutionen verbunden weiß, so glaube ich , dankbaren Herzens die mir zugedachte Ehrung annehmen zu dürfen als der überlebende Repräsentant Jener Kampfgemeinschaft, die sich in der ersten Stunde um den jungen Strehl scharte. Ich habe mich sehr gefreut, als aus der jüngeren Generation der Vorschlag kam, diese Plakette zum Andenken an den Mann zu stiften, dem wir Blinden so viel verdanken. Möchten seine unermüdliche Einsatzbereitschaft für unsere Schicksalsgemeinschaft, seine mit realistischem Sinn für die Erfordernisse und die Möglichkeiten der Stunde gepaarte Phantasie, seine zahe Beharrlichkeit in der Durchführung des für notwendig erkannten die junge Generation anspornen, seinem Vorbild nachzueifern. Die Zeiten ändern sich und mit ihnen die Aufgaben. Wenn aber jener Geist lebendig bleibt, so werden - darauf vertraue ich fest - unsere Institutionen auch die Aufgaben meistern , die ihnen gestellt sind. Daß sie auch in Zukunft gedeihen, blühen und Früchte tragen möchten, das ist mein herzlicher Wunsch. - Ich danke Ihnen! "

Quelle: horus 1976-1, S. 48-50

Direktor Stauss, Direktor Schenk, Dr. von Randow bei der Überreichung der Carl-Strehl-Plakette

Verleihung der Carl-Strehl-Plakette an Dr. Emil Freund und Dr. Gerd Bucerius

Laudatio von Prof. Dr. Heinrich Scholler

Aus Anlaß des 60. Gründungsfestes der Deutschen Blindenstudienanstalt und des Vereins der blinden Geistesarbeiter Deutschlands e.V., Marburg, habe ich die Ehre, Herrn Dr. Emil Freund und Herrn Dr. Gerd Bucerius, vertreten durch Herrn Dr. von Randow, die Carl-Strehl-Plakette zu überreichen.)

Sie, Herr Dr. Emil Freund, geboren am 18. Oktober 1898 in Gießen, besuchten von 1906 bis 1916 die damals noch bestehende Blindenschule in Wiesbaden. Sie studierten am Dr. Hochschen Konservatorium in Frankfurt am Main, legten die Privatmusiklehrer-Prüfung und die Prüfung für Musik an höheren Lehranstalten ab. Nachdem Sie die Begabten-Reifeprüfung bestanden hatten, studierten Sie von 1930 bis 1934 Musikwissenschaft und Literatur an der Philipps-Universität Marburg und promovierten zum Dr. phil. mit einer Arbeit über den blinden Komponisten Hubert Pfeiffer. Inzwischen waren Sie am 1. Februar 1928 in den Mitarbeiterkreis Carl Strehls an der Blindenstudienanstalt  getreten. Die nun folgende, Jahrzehnte währende Arbeit auf dem Gebiete der höheren Blindenbildung in der Deutschen Blindenstudienanstalt umfaßte weitgespannte Aufgaben. Generationen von blinden Schülern haben Sie an die Musik herangeführt, ihr Verständnis geweckt und ihr Leben bereichert. Mit der Ihnen gegebenen Gründlichkeit und Beharrlichkeit legten Sie auch im Deutschunterricht ein wichtiges Fundament für das spätere Leben der Ihnen anvertrauten jungen Menschen.

Ihr zweites großes Arbeitsgebiet war die Blindenschrifttechnik, insbesondere die Stenografie. Es ist vor allem Ihnen zu verdanken, daß sie an der Carl-Strehl-Schule den ihr gebührenden Platz einnimmt. Als Sie 1964 in den Ruhestand traten, bedeutete dies keineswegs schon den Abschied von der Tätigkeit in der Carl-Strehl-Schule, vielmehr sind Sie noch lange Jahre zum Nutzen der Schüler und auch Ihrer Kollegen in der Schule tätig geblieben. Wie bei den anderen Mitarbeitern Strehls aus der frühen Zeit der Blindenstudienanstalt ist auch bei Ihnen die Tätigkeit in der Schule nur ein Teil Ihrer umfangreichen Arbeit. Lange Jahre waren Sie der Leiter des Bezirks Hessen im Verein der blinden Geistesarbeiter Deutschlands und der "Fachgruppe der blinden Musiker", Mitglied der Blindennotenschrift-Kommission und der Blindenkurzschrift-Kommission. Vor allem waren Sie Mitinitiator der deutschen Einheitsstenografie für Blinde. Mit diesem Werk, an dem Sie maßgeblich beteiligt waren, haben Sie in Ihrer zurückhaltenden Bescheidenheit ganz wesentlich dazu beigetragen, die Büroberufe in Wirtschaft und Verwaltung dem Blinden in wachsendem Maß zu erschließen. 

Nachdem Prof. Dr. Dr. Carl Strehl sich aus Altersgründen zurückgezogen hatte, folgten Sie ihm im Vorsitz der "Arbeitsgemeinschaft der Kommissionen zur Reform der deutschen Blindenkurzschrift". In einem Alter, in dem andere sich lange in den Ruhestand zurückgezogen haben, brachten Sie als Leiter der "Arbeitsgemeinschat der Kommissionen zur Reform der deutschen Blindenkurzschrift der deutschsprachigen Länder" diese schwierige Aufgabe zu einem guten Ende. Inzwischen haben Sie die Systematik der deutschen Blindenkurzschrift nach den Wiener Beschlüssen erarbeitet, die Angleichung der deutschen Einheitsstenografie durchgeführt und die Sitzungen der dazu eingesetzten Reformkommission geleitet. Die Neubearbeitung des Leitfadens der deutschen Blindenvollschrift ist Ihr Werk. Ein reiches Leben, das sich nicht darauf beschränkte, in seinem engeren Kreis zu wirken, sondern darüber hinaus für die Gesamtheit der Blinden in der Bundesrepublik Deutschland fruchtbar war. Sie, Herr Dr. Emil Freund, haben in Ihrem Leben stets mehr getan, als Sie hätten tun müssen. Sie haben sich um die höhere Blindenbildung verdient gemacht. -

Es ist kaum notwendig, Herrn Dr. Gerd Bucerius diesem Auditorium vorzustellen. Seit fast 30 Jahren ist er in Politik und Publizistik weit über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannt. Er wurde am 19.5.1906 in Hamm/Westfalen geboren und studierte in Berlin, Hamburg und Freiburg Jura, promovierte zum Dr. jur. und war zunächst als Richter in Kiel und Flensburg tätig, später als Rechtsanwalt in Hamburg. Nach 1945 war er Bausenator der Freien und Hansestadt Hamburg, Mitglied des Zonenbeirats und von 1947 bis 1949 Vertreter Hamburgs im Frankfurter Wirtschaftsrat. Persönliche Unabhängigkeit bewies er besonders, als er wegen einer privaten "Volksbefragung über den Rücktritt Adenauers von der Präsidentschaftskandidatur" in Konflikt mit der CDU-Fraktion im Bundestag geriet. Er gehörte dem Deutschen Bundestag vom 14.8.1949 bis zum 21.2.1962 als Mitglied der CDU an. Am 21.2.1962 trat er aus der CDU aus und legte sein Mandat als Bundestagsabgeordneter nieder. Er ist Verleger der Hamburger Wochenzeitung "Die Zeit" (seit 1946) und auch des "Stern" und anderer Publikationen. Er ist u.a. alleiniger und persönlich haftender Gesellschafter des "Die Zeit"-Verlags, Gerd Bucerius KG. Dr. Bucerius hat Vorsorge getroffen, daß Linie und redaktionelle Unabhängigkeit der Hamburger Wochenzeitung "Die Zeit" erhalten bleiben, indem er die Titelrechte des Blattes der von ihm gegründeten "Zeit"-Stiftung schenkte, deren Kuratorium neben prominenten Vertretern aus Wirtschaft und Wissenschaft auch Mitglieder der Redaktion angehören. Er hat im Jahr 1974 eine "persönliche Bilanz" eines Verlegers unter dem Titel "Der angeklagte Verleger" geschrieben und diese Schrift als "Notizen zur Freiheit der Presse" bezeichnet. In diesem glänzenden Plädoyer hat er uns sein verlegerisches Herz gezeigt. Er führt in dem Kapitel "Wozu braucht man Verleger?" etwas über das verlegerische Engagement, das auch hier von Interesse ist, aus: Die erforderlichen Risiken, um Neues durchzusetzen, könne nur durchstehen, wer sein eigenes Vermögen riskiere - dazu brauche man eben Verleger. Er hat in dieser sehr interessanten Schrift nichts von seinem Engagement für die Stern/Zeit-Blindenzeitschrift gesagt. Nur an einer Stelle läßt sich diese philanthropische Seite seiner unternehmerischen Persönlichkeit erkennen. Dort schreibt er in zweieinhalb Zeilen etwas über das Problem, wie seine Verlagsmannschaft auf Spenden und Zuwendungen reagiert: "'So verschwenden Sie unser Erbe!' sagte der heutige Chefredakteur Theo Sommer, als der Verlag einmal eine größere Spende machte. Er sagte es allerdings vergnügten Sinnes."

 Im Jahre 1965 brachten Sie, Herr Dr. von Randow, als Wissenschaftsredakteur der "Zeit" aus den USA die Idee mit, eine Blindenzeitschrift aus "Ziet" und "Stern" unter Verwendung modernen Computerdruckes herauszugeben. Eine Reihe von Persönlichkeiten machten sich um die Verwirklichung dieser Idee zur Adaptierung der Braille-Schrift verdient. Ich erwähne nur Herrn Professor Werner und seine Mitarbeiter, die Mathematiker Winfried Dost und Eigenscheit. So entstand die Stern/Zeit-Blindenzeitschrift als eine Non-Profit-Einrichtung. Der Mann, der sich diese Idee zu eigen machte und der sie bis zum heutigen Tage durchsetzte, ist Dr. Gerd Bucerius. An reinen Selbstkosten, die Gruner und Jahr extern zahlen mußten, sind in acht Jahren 1,5 Millionen DM angefallen.  Nach jahrelangen Vorbereitungen erschien im September 1968 das erste Heft in Blindenschrift. Es wurde an 1800 Bezieher ausgeliefert. In den folgenden Jahren stieg die Zahl der Leser und erreichte im Januar 1973 die Auflagenhöhe von 4300. Die Zahl der Leser im Ausland ist beachtlich: Es werden 510 Exemplare in 35 Ländern der Erde gelesen. Ich selbst erhielt die Zeit/Stern-Blindenzeitschrift während meiner Tätigkeit in Äthiopien an der Law Faculty der ehemaligen Haile Selassie I University. 

Wenn heute die Carl-Strehl-Plakette verliehen wird, so soll, ja so muß ein Wort über Carl Strehl fallen. Er ist den Bürgern dieser Stadt bekannt, da er - ein geborener Berliner - 1908 nach seiner Erblindung in New York nach Deutschland zurückgekehrt, hier in Marburg im Jahre 1916 den VBGD und die Blindenstudienanstalt gegründet hat. Dieser Gründung, deren 60. Wiederkehr wir hier heute feiern, ging im gleichen Jahre eine Konferenz in Leipzig voraus, zu welcher Carl Strehl Spezialisten geladen hatte, um eine Wissenschaftsschrift für Blinde, das heißt eine Mathematik-, Physik- und Chemieschrift einschließlich eines Entwurfes von Braille-Alphabeten für das Griechische und Hebräische zu schaffen. So entstanden die Wissenschaftsschrift in Braille und damit das wissenschaftliche Buch zu Beginn der beiden Einrichtungen, des Vereins der blinden Geistesarbeiter und der Deutschen Blindenstudienanstalt. Somit knüpfte Carl Strehl an die Bemühungen von Louis Braille an, der im Jahre 1809 geboren und im Alter von 16 Jahren aus der militärischen Nachtschrift Barbiers die Blindenschrift in allen Grundzügen entwickelte und später ein Leben lang daran arbeitete, um sie bis zur Vollendung zu bringen. Aber alles Geistige wächst und ist nie vollendet. Das gilt für die Schrift im allgemeinen, das gilt auch für die Schrift der Blinden. Indem Carl Strehl einen Stein dem großen Gebäude der Schrift der Blinden hinzufügte, wurde er Wegbereiter für die höhere Blindenbildung und reihte sich ein in die Schar derer, die dem Menschen - dem blinden Menschen - die Schrift geschaffen haben.

Dies gilt auch für die beiden Persönlichkeiten, welchen ich heute die Carl-Strehl-Plakette überreichen darf. Die Plakette, die das Profil Carl Strehls trägt und mit dem Geburts- und Sterbetag versehen ist, zeigt die Abkürzungen beider Einrichtungen, die vor 60 Jahren ins Leben gerufen wurden, des VBGD und der Deutschen Blindenstudienanstalt, DBSTA. In den Verleihungsurkunden, die ich mit den beiden Plaketten Ihnen überreichen darf, ist folgender Text zu lesen:

"In Anerkennung seiner besonderen Verdienste und seines persönlichen Einsatzes für die höhere Blindenbildung durch Weiterentwicklung der Blindenschrift verleihen die Deutsche Blindensttudienanstalt und der Verein der blinden Geistesarbeiter Deutschlands Herrn Dr. Emil Freund die Carl-Strehl-Plakette."

Und, indem ich mich nun an Sie wende, sehr geehrter Herr von Randow, der Sie für Dr. Bucerius erschienen sind, möchte ich ebenfalls die Urkunde verlesen:

"In Anerkennung seiner besonderen Verdienste und seines persönlichen Einsatzes für die höhere Blindenbildung, insbesondere auf dem Gebiet des automatisierten Punktdruckes, verleihen der Verein der blinden Geistesarbeiter Deutschlands und die Deutsche Blindenstudienanstalt Herrn Dr. Gerd Bucerius die Carl-Strehl-Plakette."

Eine gemeinsame Idee verbindet hier beide Persönlichkeiten, die meines früheren Lehrers an der Carl-Strehl-Schule, Dr. Emil Freund, wie die des anderen Preisträgers, den zu würdigen ich heute die Ehre habe, Dr. Gerd Bucerius; die Idee nämlich: der Hilfe für Blinde durch die Schrift und durch das geschriebene und gedruckte Wort. Dr. Bucerius hat einmal auf den Einfall hingewiesen, die Punktschrift durch automatisierten Computerdruck unmittelbar von Lochstreifen drucken zu lassen und mit großem persönlichen und finanziellen Einsatz diese Idee gefördert. Darf ich solche Persönlichkeiten, die gleichsam jede auf ihre Weise an der Weiterentwicklung eines komplizierten und differenzierten Instrumentariums zur Wiedergabe geistiger Gehalte in Punktschrift gearbeitet haben, durch einen Rückgriff auf das 2. Buch Mose würdigen. Dort heißt es in der lutherischen Übersetzung über Moses: "Und er war alda bey dem Herrn vierzig Tage und vierzig Nacht // und ass kein Brot // und tranck kein Wasser. Und er schreib auff die Tafeln solchen Bund / die zehen Wort."

Das, was Dr. Bucerius und Dr. Freund teils durch Einsatz geistiger, teils mehr durch Einsatz unternehmerischer Persönlichkeit auf dem Gebiet der Schriftgebung und Übertragung für Blinde getan haben, läßt sich vergleichen mit Vorgängen, die in der Geschichte der Menschheit "die Konkretisierung des Geistigen in Dingbildnern" genannt wurde. Thomas Mann hat in seiner Erzählung "Das Gesetz" diesen Vorgang der Schriftgebung, den wir soeben mit den kargen Worten der Bibel gehört haben, gültig und damit auch für uns passend ins Literarische transponiert, verdichtet und so verdeutlicht:  "Ein Gotteseinfall. Eine Idee mit Hörnern. Sie sah demjenigen ähnlich, von dem sie kam, dem Unsichtbaren und Geistigen, dessen die Welt war, und der, ... der Herr auf Erden war allenthalben."

So haben beide Preisträger mitgeholfen, einer Idee Konkretheit und den Worten abstrakte "Dingbildlichkeit" zu verleihen, so daß sie von Nichtsehenden erfaßt, erlernt, ertastet werden können. Und noch einmal lassen Sie mich Thomas Mann zitieren, der nun die harte Arbeit des Moses beschreibt, mit welcher er auf die steinernen Tafeln Buchstaben zauberte. Denn von dem Gotteseinfall, von dieser "Idee mit Hörnern", von der Thomas Mann spricht, bis hin zur Konkretisierung, zum Lesbaren, zum wissenschaftlichen Buch, zur Chemieformel in Blindenschrift, zur Stenografie und zum computergerechten Blindenschriftsystem ist ein weiter Weg. Thomas Mann beschreibt ihn für alle gültig, die an diesem Prozeß der Schriftgebung mitgewirkt haben:  "Mose aber saß vom Aufgang des Tageslichtes über Edom bis zu seinem Erlöschen hinter der Wüste und werkte. Man muß ihn sich vorstellen, wie er dort oben saß, mit bloßem Oberleib, die Brust mit Haaren bewachsen und von sehr starken Armen, die er wohl von seinem mißbrauchten Vater hatte, mit seinen weitstehenden Augen, der eingeschlagenen Nase, dem geteilten, ergrauenden Bart, und, an einem Fladen kauend, zuweilen auch hustend von den Metalldämpfen des Berges, im Schweiße seines Angesichtes die Tafeln behaute, abmeißelte, glattscheuerte, wie er vor den an die Felswand Gelehnten und sorglich im kleinen schuftend seine Krähenfüße, diese alles vermögenden Runen in die Flächen einsenkte, nachdem er sie mit dem Stichel vorgezeichnet. Er stichelte, meißelte und spachtelte in dem splittrigen Stein der Tafeln, die er mühsam zuerst gemacht, und mit deren Erstellung diejenige der Buchstaben schon Hand in Hand gegangen war ..."

Seit den hier beschriebenen Erfindungen und Verbesserungen schreiben und lesen Blinde in einer sich ständig verbessernden Schrift Mathematik und Chemie, Physik und Astronomie sowie Musik. Sie handhaben dabei Vollschrift, Kurzschrift und Stenografie. Sie können dank der computergerechten modernen Blindenkurzschriftübertragung an allen politischen, kulturellen und sozialen Ereignissen schnell und unmittelbar teilnehmen. Sie können die Artikel von "Stern" und "Zeit" in 35 Ländern in Blindenschrift lesen und sind dadurch nicht isoliert, sondern Teil einer sich rasch wandelnden Gesellschaft. Beide Preisträger haben jeweils auf ihre Weise dazu beigetragen durch die Schrift, das zentrale Merkmal der Blindheit zu beseitigen, das in einem Defizit an Information besteht. Deshalb darf ich Ihnen, Herr Dr. Freund, und Ihnen, Herr Dr. von Randow als Vertreter von Herrn Dr. Gerd Bucerius, beiden die Carl-Strehl-Plakette überreichen und Sie bitten, die Auszeichnung anzunehmen.

Quelle: Marburger Beiträge zum Blindenbildungswesen (1976), H. 5 Teil 2, S. 483 - 493


Die Zeit-Stern-Blindenzeitschrift

Franz Kutschera | Vor einigen Monaten besuchte mich eine Gruppe von Blindenlehrern aus Frankreich. Nachdem das aus diesem Anlaß vorgesehene Programm erledigt war, saßen wir abends beieinander. Die Gesprächsthemen betrafen Blindenbildung und Hilfsmittel für Blinde. Im laufe der Unterhaltung kam die Rede dann auf die STERN-ZEIT-Blindenzeitschrift, die in reformierter Blindenkurzschrift gedruckt wird. Die Übertragung des Textes in Blindenkurzschrift wird dabei durch ein Computerprogramm geleistet. Das Projekt wird von den Verlagen Gruner+ Jahr und der ZEIT finanziert, so daß diese Zeitschrift kostenlos an blinde Interessenten abgegeben wird. Ich konnte einiges zur Technik berichten, nach der diese Zeitschrift entsteht. Beinahe zufällig entstand die Frage: "Was mag das Projekt bis heu!e gekostet haben?" Gemeinsam versuchten wir uns an einer groben Kostenschätzung. Als Ergebnis dieser Unternehmung waren wir dann alle ausgesprochen betroffen, denn wir kamen zu dem Schluß, daß zur Finanzierung dieses Projekts im Laufe der Jahre Beträge in Millionenhöhe aufgebracht worden waren. Das war für mich der Anlaß, aktuelles Zahlenmaterial zu erbitten.

Hier sind nun die Informationen, die ich bekam: Am 29. Januar 1969 wurde die Nr. 1 der STERN-ZEIT-Blindenzeitschrift mit 40 Brailledruckseiten aus der Taute gehoben und an ca. 2000 blinde Leser ausgeliefert. Sie erscheint seitdem regelmäßig alle 14 Tage. Die Zahl der Leser nahm stetig zu, sie betrug im Januar 1973 ca. 4900, und sie ist von da ab langsam bis auf den aktuellen Stand von 5065 Abonnenten gestiegen. Ca. 10 % der Auflage werden in rd. 35 verschiedene Länder verschickt. Jeweils 1-20 Exemplare gehen nach: Afghanistan, Australien, Belgien, Brasilien, Chile, CSSR, Dänemark, Finnland, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Indien, Iran, Israel, Japan, Jugoslawien, Kanada, Liechtenstein, Luxemburg, Mexiko, Niederlande, Norwegen, Polen, Rumänien, Schweden, UdSSR, Spanien, Südafrikanische Union, Türkei, Ungarn, USA, Venezuela. Jeweils 20-50 Exemplare werden in die DDR, nach Italien, nach Österreich und in die Schweiz verschickt. Mit rd . 5100 Beziehern und einer Erscheinungsfrequenz von 14 Tagen ist die STERN-ZEIT-Blindenzeitschrift die zweitgrößte Publikation, die in Westeuropa als Blindendruckzeitschrift erscheint. Sie wird nur noch übertroffen durch die Blindenschriftausgabe des Rundfunkprogramms der BBC. Diese Zeitschrift erscheint wöchentlich und wird an rd. 5500 Bezieher verteilt. Die nächstkleinere Zeitschrift hat 4500 Abonnenten, und sie erscheint einmal im Monat. Unter diesen drei Zeitschriften der Spitzengruppe ist „STERNZEIT" mit Abstand die jüngste Publikation.

Wenn man sich für die Entstehungsgeschichte dieses Organs interessiert, so wird man feststellen, daß das glückliche zusammentreffen einer Reihe von Zufällen die Durchführung dieses Projekts ermöglicht hat. Dr. Thomas von Randow (Wissenschaftsredakteur der „ZEIT") unternahm 1965 eine Informationsreise durch die Vereinigten Staaten. In diesem Rahmen besuchte er auch das MIT (Massachusetts Institute of Technology), an dem er früher eine Zeitlang als Gastprofessor gewirkt hatte. Beim MIT bestand damals eine Gruppe (sie ist inzwischen aufgelöst), die sich mit der Entwicklung technischer Blindenhilfsmittel befaßte. Diese Gruppe arbeitete an der Idee, normale Linotype-Lochstreifen, wie sie als Datenträger im Buch- und Zeitungsdruck benutzt werden, zur Herstellung von Blindendruck zu verwenden. Das Umsetzen des normalen vollausgeschriebenen Textes in Blindenkurzschrift sollte ein Computerprogramm übernehmen. Dr. von Randow brachte diese Idee mit nach Europa, und Herr Dr. Gerd Bucerius, damals Mitinhaber des Verlages Gruner + Jahr AG & Co, erteilte daraufhin den Auftrag festzustellen, auf welchem modernen Wege redaktionelle Teile aus der Wochenzeitung DIE ZEIT und aus dem STERN-Magazin in Punktschrift umgesetzt werden können, um damit eine Zeitschrift für blinde Leser herzustellen. Aufgrund von Hinweisen, die Herr Dr. Jacob von der IBM gegeben hatte, konnte Herr John W. Klenk, damals PR-Manager beim STERN, Kontakte zum Rechenzentrum der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster herstellen. Hier arbeitete unter Prof. Dr. Helmut Werner eine Gruppe von Wissenschaftlern  seit längerem daran, ein Computerprogramm zu erstellen, das die Umsetzung von normal gedrucktem Text in die deutsche Blindenkurzschrift erledigen sollte. Der Beginn dieser Arbeiten wurde Jahre zuvor durch einen Zufall angeregt. Anfang der 60iger Jahre bekam Prof. Werner im Hause des blinden Oberlehrers Mansholt in Hannover einen ersten Kontakt zum System der Blindenkurzschrift. (Frau Mansholt und Frau Werner sind Studienfreundinnen.) Er erkannte die Möglichkeiten, die sich hier durch den Einsatz moderner EDV bei der Automatisierung des Blindendruckes in Kurzschrift eröffneten. Winfried Dost schrieb im Rahmen einer Diplomarbeit ein erstes Blindenkurzschriftübersetzerprogramm. Weitere Arbeiten in dieser Richtung finanzierte die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die die Mittel zur Durchführung eines längerfristigen Forschungsauftrages bereitstellte. Die Möglichkeit, das theoretisch Erarbeitete in größerem Umfang praktisch zu erproben, ergab sich, als Prof. Werner durch Herrn Klenk von der Initiative des Herrn Dr. Bucerius Kenntnis erhielt. Im Verlaufe der dann beginnenden Erprobungsphase entstand der Wunsch, das System der deutschen Blindenkurzschrift im Sinne einer besseren Computerverträglichkeit zu verändern. Herren des Rechenzentrums nahmen in der Folgezeit mehrfach an den Sitzungen der „Kommissionen zur Reform der deutschen Blindenkurzschrift" teil, in denen Experten aus der Bundesrepublik Deutschland , aus der DDR, aus Österreich und aus der Schweiz über Veränderungen am System der deutschen Blindenkurzschrift beschließen sollten.

Als im Januar 1969 das erste Heft der STERN-ZEIT-Blindenzeitschritt ausgeliefert wurde, war es möglich, auf den 40 Seiten dieses Heftes eine Informationsmenge unterzubringen, die ca. 52 000 Schwarzschriftanschlägen entsprach. Die Bemühungen der „Kommission zur Reform der deutschen Blindenkurzschrift" und der Herren des Rechenzentrums der Universität Münster haben zu meßbaren Erfolgen geführt: denn heute werden auf den 40 Seiten einer Ausgabe Kurzschritttexte gedruckt, zu deren Wiedergabe man in Schwarzdruck rd . 62 000 Anschläge benötigt. Bei dem vergleichsweise erheblichen Umfang des in Blindenschrift gedruckten Buches ist es selbstverständlich, daß ein derartiger Fortschritt für die Punktschrift lesenden Blinden auch unabhängig vom STERN-ZEIT-Projekt von außerordentlichem Interesse ist. Parallel zu dieser Entwicklung wurde an der Verbesserung des Übersetzerprogramms weitergearbeitet. Bei dem heute verwendeten Programm Nr. 5 kommt es verhältnismäßig selten vor, daß sich der Leser mit einer vom Computer erzeugten ungewöhnlich wirkenden Wortkürzung auseinandersetzen muß. Das ist nun die Technik, in der die STERNZEIT-Blindenzeitschrift entsteht:

Alle 14 Tage wird aus den am Mittwoch vorliegenden Andrucken von „DIE ZEIT" und „ STERN" der Inhalt für das nächste Heft zusammengestellt und redigiert. Bei Gruner + Jahr-Druck wird noch am gleichen Abend der TTS-Endloslochstreifen des Manuskriptes hergestellt und per Eilboten nach Münster geschickt. Im Rechenzentrum der Universität in Münster gibt ein Mitarbeiter von Prof. Werner den Lochstreifen durch einen IBM-Leser in die Datenanlage, die Lochkarten herstellt und gleichzeitig einen SchwarzdruckText liefert. Dieser Text wird noch einmal gelesen. Notwendige Korrekturen werden durch Auswechslung fehlerhafter Lochkarten durchgeführt. Schließlich werden die Lochkarten dem Computer eingegeben, der eine amerikanische Punziermaschine in Bewegung setzt, um die zum Druck benötigten Metallplatten mit Braille-Kurzschriftzeichen zu punzieren. Diese punzierten Platten sind Druckunterlagen für die Blindendruckerei beim Verein zur Förderung der Blindenbildung e. V. in Hannover-Kirchrode. Ursprünglich bestand einmal die Absicht, die normalen Lochstreifen, die zur Steuerung der Schwarzdrucksetzmaschinen angefertigt werden, zu verwenden und vom Computer in Blindenkurzschrift  übersetzen zu lassen. Das führte in der Praxis zu Schwierigkeiten. Es ist so, daß Korrekturen im endgültigen Satz vorgenommen werden. Der Lochstreifen ist dadurch nicht mehr auf dem letzten Stand.  Weiterhin enthält dieser Datenträger eine Reihe von Steuerzeichen, die für die Schriftsortenauswahl, die Formatierung und andere drucktechnische Belange benötigt werden. Diese Steuerzeichen stören bei der Kurzschriftübersetzung. Hinzu kommt noch, daß der „STERN" und „DIE ZEIT" in verschiedenen Betrieben gedruckt werden. Unglücklicherweise stimmt der in beiden Druckereibetrieben benötigte Lochstreifencode nicht überein. Die Summe dieser Schwierigkeiten hat dazu geführt, daß man für die Belange in Münster einen speziellen Lochstreifen schreiben muß.

Dr. Bucerius (.,DIE ZEIT") und Gruner + Jahr (,,STERN") haben das Projekt dieser Blindenzeitschrift von Anfang an gemeinsam finanziert. Die dabei anfallenden Kosten werden von den Partnern nach einem intern vereinbarten Schlüssel aufgeteilt. An reinen Selbstkosten für den Blindendruck, die extern bezahlt werden mußten, sind in 8 Jahren etwa 1,5 Millionen Mark angefallen. Hinzu kommt das, was innerhalb der beiden Verlage in verschiedenen Abteilungen an Arbeit geleistet und an Dienstleistungen in Anspruch genommen wird. Würde man alle in- und externen Kosten erfassen Und nach Regeln verrechnen, wie das im Geschäftsleben üblich ist, so käme man insgesamt auf einen Betrag von mehreren Millionen Mark. In Münster hat die Deutsche Forschungsgemeinschaft eine Punzieranlage als Leihgabe zur Verfügung gestellt. Finanzielle Zuwendungen von der Deutschen Forschungsgemeinschaft, von selten der Stiftung Rehabilitation in Heidelberg und von der Firma IBM-Deutschland belaufen sich bisher auf rd. DM 70 000,-. Das ist der Gesamtbetrag, über den man in Münster - auf 15 Jahre verteilt - zur Durchführung der anfallenden Aufgaben verfügen konnte.

Wenn man weiß, wie Dienstleistungen auf dem EDV-Sektor verrechnet werden (Kunden werden hier z. B. für die Überlassung eines Systemprogrammierers je Mann-Monat mit DM 16 000,- belastet), dann kann man abschätzen, daß das, was in Münster geleistet worden ist, ein Vielfaches an Kosten verursacht hätte, wenn man hier eine der Firmen beauftragt hätte, die sich kommerziell mit Auftragsforschung befassen. Dabei ist „viel" in diesem Falle weit jenseits von ,"fünf" anzusetzen. Vokabeln wie „ Idealismus" und „persönlicher Einsatz" sind in diesem Zusammenhang ganz ohne Frage angemessen. Abgesehen von der Routinearbeit, die in Münster alle 14 Tage geleistet werden muß, wird dort an der Weiterentwicklung des Programms gearbeitet, und man hat noch einiges in der Schublade. Hierüber mag zu einem geeigneten Zeitpunkt berichtet werden.

Der Autor möchte zum Schluß persönlich allen Beteiligten danken, die das Projekt ermöglicht und gefördert haben. Er geht davon aus, daß er das auch im Namen der 5000 Leser tun darf. Die 60-Jahrfeier der Deutschen Blindenstudienanstalt in Marburg war eine willkommene Gelegenheit, vor einem größeren Forum auf die Verdienste aller Beteiligten hinzuweisen.

FOTO: Direktor Stauss, Direktor Schenk, Dr. von Randow bei der Überreichung der Carl-Strehl-Plakette

Quelle: horus 1/77, Seiten 4-6


Direktor Stauss, Dr. Spiegelberg, Direktor Hertlein und der Preisträger Hans Mohl

Verleihung der Carl-Strehl-Plakette an Hans Mohl

Im Rahmen einer kleinen Feierstunde wurde am 14. Dezember 1979 Herrn Hans Mohl, dem Initiator und Leiter der Aktion Sorgenkind, die Carl-Strehl-Plakette verliehen.

Mit der folgenden Laudatio würdigte der Vorsitzende der Deut­schen Blindenstudienanstalt, Herr Direktor Erwin Stauss, die Ver­dienste von Herrn Mohl: "Sehr verehrter, lieber Herr Mohl, ,Die Wahrheit wird von Verdrängung ersetzt, aber verdrängen heißt lügen' - das sind Worte von Jewgenij Jewtuschenko, einem engagierten Lyriker. Ich meine, Sie haben in Ihrer journalistischen Arbeit diese Worte umgesetzt, weil Sie die Öffentlichkeit einer Leistungsgesellschaft, die gerade die Probleme Behinderter verdrängt, durch ge­duldige Information und Engagement nachdrücklich auf die Verpflichtung zur Hilfeleistung gegenüber diesen Menschen aufmerksam gemacht haben.

Sie haben darüber hinaus durch konsequente Information breite Teile unserer Gesellschaft nicht nur gezwungen, die bedrückende Wahrheit der Behinderung zahlreicher Menschen zur Kenntnis zu nehmen, sondern zu einer Einstellungsveränderung in der Öffent­lichkeit gegenüber Behinderten beigetragen. Die Konzeption und Initiierung der Aktion Sorgenkind für körperlich und geistig behinderte Jugendliche ist sichtbarer Beweis für diese Neubesinnung mit praktischen Auswirkungen, sie ist Herausforderung und Ermuti­gung zu sozialer Mitverantwortung.

Lotterieerlöse und Spenden von über 400 Mio. DM eiwähnen. Von diesen durfte die Deutsche Blindenstudienanstalt 1,7 Mio. DM in Anspruch nehmen zur Förderung ihrer schulischen Ausbildungsmöglichkeiten, zur Ausgestaltung und baulichen Veränderung ihrer Wohnheime sowie zur Verbesserung der Blindenhilfsmittelentwicklung und -herstellung. Dafür möchte ich Ihnen im Namen der Deutschen Blindenstudienanstalt und ihrer Schüler herzlich danken.

Erlauben Sie mir, auch herauszustellen, daß in einer Gesellschaft, die durch vielfältige Außenreize zunehmend abstumpft, Hilfsaktionen großen Stils nur unter Nutzung der Massenmedien möglich sind. Sie haben es verstanden, in den heftig umkämpften Sendezeiten des ZDF Raum zu schaffen für Information, Motivation und Aktion, um die Integration Behinderter zu verbessern. Das von Ihnen entwickelte und moderierte Gesundheitsmagazin PRAXIS hat Lebenshilfe zum Programmprinzip erhoben. Ich habe heute die Ehre, Ihnen, lieber Herr Mohl, Ihren zahlreichen Auszeichnungen die Carl-Strehl-Plakette hinzuzufügen. Diese Plakette, zum Andenken an die Lebensleistung von Prof. Dr. Carl Strehl von der Deutschen Blindenstudienanstalt und dem Verein der blinden Geistesarbeiter Deutschlands 1974 gestiftet, wurde erst viermal verliehen, zuletzt Herrn Dr. Gerd Bucerius. Die Verleihungsurkunde, die ich Ihnen mit der Plakette überreichen darf, hat den Text: ,In Anerkennung seiner besonderen Verdienste und seines persönlichen Einsatzes um Verbesserung der Integration Behinderter und gesundheitliche Vorsorge verleihen die Deutsche Blindenstudienanstalt und der Verein der blinden Geistesarbeiter Deutschlands Herrn Hans Mohl die Carl-Strehl-Plakette. Marburg, am 14. Dezember 1979".

Der Vorsitzende des Vereins der blinden Geistesarbeiter Deutschlands, Herr Dr. Hauck, überreichte Herrn Hans Mohl die Plakette mit herzlichen Worten und einer kurzen Rückschau auf das Schaffen von Carl Strehl. Herr Mohl, der vorher einen Einblick in die betrieblichen Einrichtungen und den pädagogischen Bereich erhalten hatte, führte in seinem kurzen Dankwort aus, daß gerade die hier zu sehenden Beispiele zeigen, wie sinnvoll und ergebnisreich Gelder der Aktion Sorgenkind zur schulischen Bildung und Integration Behinderter eingesetzt werden können. Gespräche bei einem gemütlichen Kaffeetrinken mit von Schülerinnen und Schülern der Wohngruppe Weinberg 6 gebackenem (ausgezeichnetem!) Kuchen schlossen den Besuch von Herrn Mohl in der Deutschen Blindenstudienanstalt.

FOTO: Direktor Stauss, Dr. Spiegelberg, Direktor Hertlein und der Preisträger Hans Mohl

horus 1/1980, S. 39-40


Universitätspräsident i.R. Zingel überreicht Prof. Werner die Verleihungsurkunde

Verleihung der Carl-Strehl-Plakette an Prof. Dr. Helmut Werner

Im Rahmen eines Empfangs, den der Deutsche Verein der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf am 28. Juni 1985 im Bürgerhaus in Marburg-Cappel für die Teilnehmer des europäischen Seminars über Reliefstadtpläne für Blinde gab, wurde Herrn Prof. Dr.Helmut Werner aus Bonn die Carl-Strehl-Plakette verliehen.

In seiner Begrüßungsansprache hob der Vorsitzende des DVBS, Dr. Otto Hauck, hervor, daß die Carl-Strehl-Plakette im Jahre 1974 gestiftet worden sei, um an Prof. Carl Strehl zu erinnern, der im Jahre 1916 in Marburg sowohl den Verein der blinden Akademiker Deutschlands (den heutigen DVBS) als auch die Deutsche Blindenstudienanstalt gegründet und etwa 50 Jahre lang mit Ideenreichtum, Zielstrebigkeit, Energie und Tatkraft geleitet habe. Strehl habe sich um die höhere Blindenbildung und damit um die berufliche und gesellschaftliche Eingliederung der Blinden unschätzbare Verdienste erworben. Deshalb werde die Carl-Strehl-Plakette gemeinsam von der Deutschen Blindenstudienanstalt und dem Deutschen Verein der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf an Persönlichkeiten verliehen, die sich um das Blindenwesen besonders verdient gemacht hätten. Zuletzt sei im Jahre 1979 Hans Mahl, der Initiator der Aktion Sorgenkind damit ausgezeichnet worden. Prof. Werner erhalte die Carl-Strehl-Plakette, weil er vor mehr als 20 Jahren die Automatisierung des Blindendrucks initiiert und bis auf den heutigen Tag vorangetrieben habe.

Prof. Dr. Helmut Epheser aus Hannover führte in seiner Laudatio aus: ,,Es wird mir wohl niemand widersprechen, wenn ich sage: die Elektronik - im weitesten Sinne verstanden - greift seit Jahrzehnten in ständig steigendem Maße in unsere Lebensgestaltung ein. Das gilt für den Alltag des Einzelnen ebenso wie für das Geschehen in Wirtschaft und Staat, und die Palette der Objekte, mit denen wir es dabei zu tun haben, reicht von den Geräten der sogenannten Unterhaltungselektronik bis zu Großrechenanlagen. Der Computer gilt geradezu als ein Symbol dieser Entwicklung. Wir wissen alle, daß dieser  unaufhaltsame Prozeß einerseits Hoffnung auf eine höhere Lebensqualität weckt, andererseits aber auch Ängste vor unübersehbaren Folgen in Beruf und Fr~izeit hervorruft. Natürlich will ich dieses Thema heute abend nicht in seiner ganzen Breite erörtern. Es geht mir hier um die Auswirkungen moderner Technologien auf die besondere Situation blinder Menschen, und auch davon kann nur ein Ausschnitt aus der Fülle der Probleme angesprochen werden.

Beginnen wir mit einem einfachen Beispiel: Die Tonbandtechnik, das „Sprechende Buch" und die Blindenhörbüchereien sind ohne jeden Zweifel ein wahrer Segen für Altersblinde und zugleich wertvolle Hilfsmittel für die im Berufsleben Stehenden. Im Zusammenhang damit wurde schon allen Ernstes die Frage aufgeworfen, ob die Brailleschrift dadurch nicht überflüssig werde oder wenigstens an Bedeutung verliere. Diese Frage ist aufs Schärfste zu verneinen! Ich spreche hier im Namen einer Selbsthilfeorganisation und für eine Institution, denen es um höhere Blindenbildung geht; und da muß klargestellt werden: wer - beruflich oder privat - geistig tätig sein will oder gar wissenschaftlich arbeitet, kann keinesfalls auf eine Schrift verzichten, die er selbst sowohl schreiben als auch lesen kann! Dann aber gibt es zur Braifleschen Punktschrift keine Alternative, sondern nur dankbar begrüßte zusätzliche Hilfsmittel.

Nun weiß jeder Kenner, welchen Zeit- und Kostenaufwand die Übertragung eines Buches in Punktschrift erfordert hat. Damit stehen wir vor der Frage, ob uns die Technik der Gegenwart Mittel schaffen kann, solche Übertragungen schneller und kostengünstiger auszuführen. Man wünscht sich dann natürlich ein automatisches Übersetzungsverfahren, und zwar in unsere Kurzschrift, nicht nur zur Papier- und Platzersparnis, sondern auch deshalb, weil das komprimierte Schriftbild eine höhere Lesegeschwindigkeit ermöglicht. Aber zwischen einem solchen Wunsch und seiner Erfüllung liegt eine ganze Menge. - Und gerade über diese Menge ist heute abend zu reden. Hätte mich vor 25 Jahren jemand gefragt, was ich von der Möglichkeit automatischer Textübertragung in die Kurzschrift hielte. so hätte ich. obwohl ich als Mathematiker der Computerwissenschaft nicht allzu fern stand, erhebliche Zweifel geäußert, etwa mit folgender Begründung: 'Die Anwendung der Regeln unserer Kurzschrift erfordert eine Intelligenz, die über den Ablauf des eigentlichen Schriftbildes hinaus die inneren sprachlichen Zusammenhänge erfaßt - man denke an die grammatische Formenbildung und die im Deutschen so häufigen  Wortzusammensetzungen; und diese Art von Intelligenz', hätte ich wohl geschlossen, 'traue ich einem Computerprogramm nicht zu'. Ich bin übrigens ziemlich sicher, daß die meisten Punktschriftkenner das damals ebenso beurteilt haben würden. Ja, und dann nahm sich dieser Sache jemand an, der ursprünglich gar kein Punktschriftkenner war: ich spreche von unserem heutigen Ehrengast, Herrn Prof. Dr. Helmut Werner. Er hatte das Problem mehr oder weniger zufällig kennengelernt, und als Fachmann für die mathematisch-logischen Grundlagen der Datenverarbeitung war er davon überzeugt, eine lösbare Aufgabe vor sich zu haben. 1962 begannen er und seine wissenschaftlichen Mitarbeiter, Programme zu entwerfen, in denen die Regeln der Punktschrift, insbesondere der Kurzschrift in eine logische, von Maschinen erfaßbare Ordnung gebracht wurden.

Aber welches damals sicher nicht geahnte Ausmaß nahm diese Arbeit an?! Die Programmierausgabe erwies sich als durchaus schwierig und umfangreich. Überdies erwies es sich als notwendig, die Kurzschriftregeln selbst umzugestalten, sie sozusagen „computerfreundlicher" zu machen: dazu waren Blindenverbände, -schulen und -druckereien des ganzen deutschen Sprachraumes heranzuziehen. Dann mußten Geräte für die Aufgabe entwickelt werden, also programmgesteuerte Punziermaschinen und Schnelldrucker. Für alles dies brauchte man finanzielle Unterstützung - die Deutsche Forschungsgemeinschaft und das Bundesministerium für Forschung und Technologie wurden dafür gewonnen. Wieviel organisatorische Energie und wieviel Geduld dazu nötig waren, alle diese Teilarbeiten im Gang zu halten und zu koordinieren, kann man nur ahnen.

Ich will hier nicht die Einzelheiten der ganzen Arbeit nachzeichnen. Sie wurden von Herrn Werner selbst beschrieben in seiner Schrift: 'Zwei Jahrzehnte automatische Herstellung Deutscher Blindenschrift', die 1984 im Verlag der Deutschen Blindenstudienanstalt erschienen ist. Beim Durchlesen dieser Schilderung erhält man einen deutlichen Eindruck vom Umfang und von der Vielschichtigkeit des Ganzen! Der Kreis der Beteiligten erweiterte sich auch noch dadurch, daß Herr Prof. Splitt hinzugezogen wurde, der mit seinen linguistischen Untersuchungen die Voraussetzungen für bedeutende Verbesserungen des Übersetzungsprogramms schuf. Einern breiteren Leserkreis wurden automatisch übertragene Texte von 1968 an durch die Zeit-Stern-Blindenzeitschrift zugänglich. Es wäre wahrscheinlich nicht ohne Reiz, noch einmal eines der ersten Hefte dieser Zeitschrift zur Hand zu nehmen und es hinsichtlich der Übersetzungsqualität mit Heften aus dem Jahr 1985 zu vergleichen; man hätte dann den erreichten  Fortschritt unmittelbar vor Augen oder - besser gesagt - unter den Finaern! Ich muß gestehen. daß ich den jetzt erreichten Stand noch vor zehn Jahren nicht für möglich gehalten hätte.

Aber Herr Werner ist bei dem Erreichten nicht stehengeblieben! Das Programmsystem ist inzwischen so umgestaltet worden, daß zu seiner Verarbeitung keine Großrechenanlage mehr gebraucht wird, sondern ein Tischrechner ausreicht. Ich hatte vor einer knappen Woche bei unserem Bezirkstreffen in Hannover Gelegenheit, das Arbeiten eines so programmierten Tischrechners in Kombination mit einem Blattleser und einem Braille-Drucker zu verfolgen. Ich war tief beeindruckt von den Möglichkeiten, die sich mit diesen und ähnlichen Hilfsmitteln für uns auftun. Das Neueste aus der „Schule" von Herrn Werner ist ein Programmsystem, mit dem es möglich sein wird, mathematische Texte automatisch zu übertragen. Dieses Übersetzungsprogramm, das Herr Pinell in seiner Diplomarbeit entworfen hat, schließt sich an ein Programm für den automatischen Satz mathematischer Schwarzschrifttexte an und erzeugt daraus die Punktschriftdarstellung gemäß der von uns benutzten „Neufassung" der Mathematikschrift von 1955, die demnächst in einer wiederum überarbeiteten Neuauflage erscheinen wird.

Am Schluß seiner vorhin zitierten Schrift schreibt Herr Werner den lapidaren Satz: 'Weitere Spezialaufgaben harren noch der Lösung und werden uns in den kommenden Jahren beschäftigen!'" Der Schatzmeister der Deutschen Blindenstudienanstalt, Universitätspräsident i.R. Rudolf Zingel, betonte anschließend, die Deutsche Blindenstudienanstalt und der Deutsche Verein der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf seien sich darüber einig, daß die Carl-Strehl-Plakette nur für wirklich herausragende Leistungen verliehen werde und daß das Werk von Prof. Werner eine solche herausragende Leistung darstelle. Prof. Werner habe nicht nur die Grundidee gehabt, sondern ein technisches Hilfsmittel bis zur Anwendungsweise weiterentwickelt. Hierdurch habe er auch den Blinden die Möglichkeit gegeben, in einer Gesellschaft, die zunehmend zur Informationsgesellschaft werde, informiert zu sein und sich informiert zu halten. Durch seinen Einsatz für die Blinden habe Prof. Werner sicherlich auch auf manche Chance für Publikationen, die im akademischen Bereich Ruhm und Ehre einbrächten, verzichtet.

Herr Zingel verlas dann die Verleihungsurkunde, die folgenden Wortlaut hat: ,,In Anerkennung seiner besonderen Verdienste um die Automatisie~ung des Blindendrucks mit dem Ziel, den Blinden im deutschsprachigen Raum Druckerzeugnisse auf schnellstmöglichem Wege in Brailleschrift zugänglich zu machen, verleihen die Deutsche Blindenstudienanstalt und der Deutsche Verein der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf Herrn Prof. Dr. Helmut Werner die Carl-Strehl-Plakette. - Marburg, am 28. Juni 1985."

Eine ganz besondere Freude war es für die Anwesenden, daß Frau Gertrud Strehl, die Witwe von Prof. Carl Strehl an dem Empfang teilnehmen konnte und Herrn Prof. Werner die Carl-Strehl-Plakette überreichte. In seinem Dankeswort brachte Prof. Werner zum Ausdruck, er sehe diese Auszeichnung als Ansporn an, sich auch weiterhin dafür einzusetzen, daß den Blinden mehr Schriftgut zugänglich gemacht werden könne, soweit dies in seinen Kräften stehe. Sein Dank gelte all denjenigen, die ihm bei seiner Arbeit auf die verschiedenste Weise geholfen hätten, da er allein nicht imstande gewesen wäre, diese umfangreiche Arbeit zu bewältigen. Er hoffe, daß seine jungen Mitarbeiter einmal die Arbeit weitertragen werden unabhängig von der Person, die damit begonnen habe.

horus 3/1985, S. 279-81


Herr Hertlein und Herr Dr. Hauck gratulieren Herrn Dr. Brandt

LAUDATIO für Herrn Dr. Felix Brandt

von Prof. Dr. Heinrich Scholler
 

Liebe Mitglieder des DVBS,
sehr verehrte Damen und Herren,
lieber Herr Dr. Felix Brandt,

die Deutsche Blindenstudienanstalt und der DVBS ha­ben mir die Ehre zuteil werden lassen, Ihnen die Carl-­Strehl-Plakette zu überreichen und Ihre Persönlichkeit durch eine Laudatio zu würdigen.

Dem Namen nach sind Sie den meisten unserer Mitglie­der bekannt, doch wenige werden wissen, was Sie als Augenarzt und als Philanthrop in den letzten Jahren - ja ich möchte sagen 1 1/2 Jahrzehnten - auf dem Gebiet der Augenmedizin in der Dritten Welt getan haben. Sie haben sich vor vielen Jahren ganz besonders auf Nepal spezialisiert, um dort Augenstationen und Augenklini­ken zu gründen oder bestehende Augenkliniken auszu­rüsten. Sie haben in Nepal Kurse, Seminare und prakti­sche Ausbildungsveranstaltungen durchgeführt, um nepalesische Augenärzte mit den modernen Instru­menten vertraut zu machen, um ihnen neue Methoden vorzustellen und um eine allgemeine augenmedizini­sche und augensanitäre Unterrichtung des breiten Pu­blikums zu erreichen.

Sie haben in der Bundesrepublik durch unermüdliches Sammeln, durch das Aufkaufen von alten Augenarztraxen finanzielle und sächliche Mittel zusammenge­tragen, die Sie dann in Nepal eingesetzt haben. Bevor ich alle diese Tätigkeiten weiter ausführe und detaillie­re, lassen Sie mich von unserer persönlichen Begeg­nung und unserer Zusammenarbeit reden, denn das mag vielleicht besser Ihre Persönlichkeit und Ihre Arbeit für die Blinden charakterisieren, als das Aufzählen aller Ihrer Verdienste!

Zunächst aber möchte ich noch einen Wesenszug in die Mitte stellen, der Sie ganz besonders kennzeichnet: Sie haben sich nicht nur Augenkranken gewidmet, mit von Blindheit Bedrohten, ja mit blinden Menschen vor allem in Nepal beschäftigt, um das Augenlicht zu si­chern, zu retten oder wiederherzustellen, Sie haben sich auch denen gewidmet und angenommen, die jen­seits der ärztlichen Kunst ihr Leben lang in der Blindheit verharren mußten, weil die ärztliche Kunst ihnen nicht mehr helfen konnte. So hatten wir vor neun Jahren an­läßlich des Internationalen Jahres der Behinderten in Nepal ein sogenanntes Leadership-Seminar durchge­führt, das vorwiegend der Ausbildung von blinden Füh­rungskräften in der Blindenselbsthilfe in Nepal gewid­met war. Die Referate, die wir zusammen mit dem Marburger Kollegen Herrn Professor Münkner gehalten haben, und die dem Training der Selbsthilfe galten, wur­den dann in einer Marburger Schriftenreihe veröffent­licht.

Aber nun zurück zu unserem persönlichen Kennenler­nen: Es war wohl vor meiner Zeit in Äthiopien, also vor mehr als 20 Jahren, als wir uns irgendwo in München an einer U-Bahn-Station begegneten, als Sie mich ansprachen und sich mir vorstellten - als guter Bekannter meiner Sekretärin! Es sind nicht die schlechtesten Freundschaften, die über gemeinsame Freunde entstehen. So entstand auch sehr schnell zwischen uns ein freundschaftliches Verhältnis, zumal wir ein gemeinsames Anliegen hatten, den Blinden und Sehbehinderten und den von Blindheit bedrohten Menschen in der Dritten Welt zu helfen.

Wie selten das unter Augenärzten zu finden ist, mag die Tatsache zeigen, daß selbst Großeinrichtungen, wie die Christoffel-Blindenmission (CBM), immer wieder unge­heure Schwierigkeiten haben, jemanden lang- oder kurzzeitig für die Dritte Welt zu verpflichten, der dann als Augenarzt für länger oder kürzer in die Fremde geht. Niemand will hier den Anschluß verpassen, niemand will auch von seiner Karriere nur für einige Monate oder Jahre abweichen.

Sie, lieber Herr Felix Brandt, haben das bedenkenlos getan, Sie haben sehr viel Zeit darauf verwandt, in Nepal das augenmedizinische Versorgungssystem zu ver­bessern, Nepalesen nach Deutschland zu Stipendien einzuladen, um ihre Ausbildung zu qualifizieren und Sie haben sich darüber hinaus einer ganz bestimmten Gat­tung von nepalesischen Blinden angenommen, nämlich denen, die von Aussatz befallen sind. Wenn schon Blin­de sich isoliert fühlen, so um so mehr die Aussätzigen, welche dann im fortgeschrittenen Verlauf ihrer Krank­heit erblinden.

Anfang der 50er Jahre hat man auf der Welt über 2,5 Millionen Aussätzige gezählt, wovon allein auf Asien 2,1 Millionen entfielen, 300.000 auf Afrika, der Rest auf die anderen Kontinente. Mit dem Anstieg der Bevölkerung hat die Zahl der Leprakranken nicht abgenommen, son­dern hat sich vermehrt. Sie werden von der Gesell­schaft ausgestoßen und unser Wort Aussatz ist ja nichts anderes als eine alte Bezeichnung für den sozialen Zu­stand, in welchem sich diese Kranken befinden. Ausge­stoßen und ausgesetzt von der Gesellschaft, am Rande lebend, zusammengefaßt in Ghettos oder sogenannten Leprosorien. Sie durften sich den gesunden Menschen nicht nähern, mußten von Feme rufen, erhielten Nah­rung und das Notwendigste vor ihr Ghetto gestellt. Nur wer Leprakranke persönlich in Afrika oder Asien erlebt hat, kann sich ein Bild von dem Elend dieser Menschen machen, die verstümmelte Hände oder Finger entge­genstrecken, die ihre zerstörten Gesichter zeigen und die in der Komplikation ihrer Krankheit auch erblinden. Wenn Sie solche Patienten operiert haben und ihnen das Augenlicht wiedergaben, so wußten Sie wohl, daß sie nicht von der Lepra geheilt waren, daß sie weiterhin ausgesetzt und ausgestoßen in Leprosorien leben mußten, aber dennoch waren sie in der Lage, ihre tägli­chen Verrichtungen selbst zu vollziehen. Auch in Euro­pa war lange der Aussatz eine drohende Gefahr und noch 1939 gab es im östlichen Teil Deutschlands, im Memelland, Leprakranke und lange noch gab es in Griechenland in diesem Jahrhundert Leprosorien.

Lassen Sie mich nun aus dem Alltag Ihrer Arbeit in Ne­pal erzählen, soweit ich es selbst erlebt habe: Sie, lieber Herr Dr. Felix Brandt, sind ein Selfmade-Mann der Augenheilkunde in der Dritten Welt, der Hilfe für von Blindheit Bedrohte und mit Blindheit Geschlagene. Sie haben alles singlehanded unternommen, Geld gesam­melt, Instrumente gekauft, die Reise organisiert und dort an Ort und Stelle die Arbeit getan. Als Sie einmal in irgendeiner Angelegenheit von den höheren Bergen des Himalayas herunterstiegen zur Deutschen Bot­schaft in Katmandu, um dort Hilfe zu erbitten, für ir­gendeine Klinik, für irgendein Operationsgerät, hat man Sie daran erinnert, Sie möchten sich doch an Ihren Trä­ger wenden!

Für Dr. Brandt gab es keinen Träger. Er war alles in einer Person. Der Träger und der Entsandte, der Arzt und der Organisator, der Finanzier und der PR-Mann. Das konn­te natürlich ein Durchschnittsbeamter einer deutschen Durchschnittsbotschaft nicht verstehen.

Wir haben das Leadership-Seminar in Katmandu - von dem ich gerade berichtete - gemeinsam vorbereitet und wir hatten große Schwierigkeiten dieses Seminar; das eine Veranstaltung der deutschen Blindenselbsthile, vor allem des DVBS, im Internationalen Jahr der Be­hinderten sein sollte, mit Mitteln der Selbsthilfe zu fi­nanzieren. Einen größeren Zuschuß auf die Mittel des DVBS erhielten wir vom Bundesentwicklungsministeri­um. Als lange gezögert wurde, uns - vor allem Sie, Herr Dr. Brandt - zu einer Abschlußbesprechung zu empfan­gen, nahmen wir zu einem Kunstgriff Zuflucht. Sie wa­ren vom Bundespräsidenten zur Januar-Tagung der 25 prominentesten Männer des Jahres eingeladen, Sie, als Helfer der Blinden in Nepal. Ich telegrafierte daraufhin dem Bundesentwicklungsminister, er möge doch Dr. Brandt nach der Einladung beim Bundespräsidenten bei sich empfangen, um unser Nepal-Projekt zu bespre­chen. Postwendend kam die Zusage, Sie waren dort, wir entwickelten das Projekt zu Ende und führten es durch. Dieses Projekt war ein Entwicklungsprojekt des DVBS mit der Hilfe des Bundesministeriums für wirtschaftli­che Zusammenarbeit (BWMZ) und diente vor allem der Hilfe für Blinde in Nepal.

Herr Professor Münkner aus Marburg, der große deut­sche Genossenschaftsmann der Dritten Welt, hatte uns sein Textbuch für das Erlernen des Genossenschafts­wesens zur Verfügung gestellt und die Deutsche Blin­denstudienanstalt hat dieses Textbuch in englischer Sprache in Blindenschrift ausgedruckt. So reisten wir mit augenmedizinischen und genossenschaftlichen Fachkenntnissen wohlbestückt nach Nepal. Dort warte­ten - wie gewöhnlich - auf uns große und kleine Schwierigkeiten. Zu den kleinen Schwierigkeiten ge­hörte es wohl, daß wir keine Ordner finden konnten, in denen wir das Endlos-Papier, auf dem der Braille-Text gedruckt war, ordnungsgemäß abheften konnten. Es gelang uns mit Ihrer Hilfe. Ich selbst bin damals Ihr Pa­tient geworden und verdanke Ihnen meine rasche Ge­nesung. Allerdings war es keine Augenkrankheit, die mich befiel, sondern ich hatte ein Geschwür am Nac­ken und Sie, lieber Herr Felix Brandt, überließen mich lange unserem Mitstreiter, einem Missionar der CBM, der mein Geschwür mit Kräutern aus der Apotheke sei­ner Großmutter behandelte. Erst als es nicht weichen wollte und immer größer wurde, haben Sie zum Skalpell gegriffen und eine erfolgreiche Behandlung durchge­führt, obwohl die Operation völlig ungewöhnlich für ei­nen so erfolgreichen Augenarzt wie Sie war.

Ihre Bemühungen in der Augenmedizin und vor allem in der Augenheilkunde für Leprakranke beschränken sich aber nicht nur auf praktische Hilfen, nein, Sie haben wohl die besten wissenschaftlichen Forschungen in der Bundesrepublik oder in Europa auf diesem Gebiet geleistet.

Das verbindet Sie mit einem Mann, nämlich Professor Bielschowski, den ich hier in diesem Kreise aus dem be­sonderen Anlaß erwähnen möchte. Nicht nur; weil er mit Ihnen weitläufig verwandt, weil er auch ein Augenarzt wie Sie war, weil er Professor an der Universitätsaugen­klinik in Marburg gewesen ist und Weltruf erlangt hatte, sondern vor allem deshalb, weil er die Einrichtungen mitgegründet hat, die Sie, lieber Herr Dr. Brandt, heute mit der Strehl-Plakette ehren, die Deutsche Blinden­studienanstalt und den Deutschen Verein der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf (DVBS), damals Verein der blinden Geistesarbeiter Deutschlands (VbGD) genannt.

Prof. Bielschowski, nach dem sich heute eine Vereini­gung junger habilitierter Augenärzte benennt, ist nach seiner Marburger Gründerzeit in den 20er Jahren ei­nem Ruf nach Breslau gefolgt, wo er nach 1933 als Jude aus seinem Lehramt verdrängt wurde. Als Flüchtling ging er in die Vereinigten Staaten, wo er nochmals einen außerordentlich großen Berufserfolg hatte und wo er verstarb.

Carl Strehl, dessen Plakette Sie hier überreicht erhalten und dessen Lebensweg wir alle kennen, war während des 1. Weltkrieges- genauer gesagt im Jahre 1915- auf Professor Bielschowski gestoßen, der sich hier um die Rehabilitierung kriegsblinder Soldaten bemühte. Strehl, als einer der ersten Mitarbeiter von Prof. Bielschowski, ging in die Krankenhäuser, in die Lazarette und erteilte ihnen Unterricht in Punktschrift und Maschinenschrei­ben.

So möchte ich, lieber Herr Dr. Felix Brandt, diesen Mann, Prof. Bielschowski, neben Carl Strehl mit erwähnen, weil sie beide die Grundlagen dafür geschaffen haben, daß die höhere Blindenbildung und die Selbsthilfe blinde Akademiker aus dem Bannkreis der Unmündigkeit heraustreten ließen und Hilfe in anderen Ländern den Blin­den und von Blindheit Bedrohten anbieten können. Da­zu brauchen wir gerade die Mitarbeit solcher Männer, die unerschrocken und ohne eigenen Vorteil sich für Blinde, Augen kranke, von Blindheit Bedrohte einsetzen, wo immer es auch sein mag, vor allem dort, wo die mo­derne Augenmedizin noch nicht hinreicht.

Das haben Sie getan, lieber Herr Dr. Felix Brandt, und dafür darf ich Ihnen hiermit die Carl-Strehl-Plakette überreichen.

Auszug: horus 1990-4, S. 123-125

 


Herrn Dr. Hauck, Dr. Georg und Hertlein

LAUDATIO anläßlich der Verleihung der Carl-Strehl-Plakette an Herrn Dr. Georg

von Jürgen Hertlein, Direktor

Sehr verehrter Herr Dr. Georg,
sehr geehrte Festversammlung,

ich erinnere mich noch an meine erste Begegnung mit Ihnen. Sie hatten um einen Termin gebeten, um unsere Einrichtung kennenzulernen. Wir sind immer beson­ders glücklich, wenn Fachlichkeit der Grund eines Be­suches ist. - Wir erwarteten den Leiter der Augenklinik Bad Rothenfelde und Augenarzt Dr. Georg.

Sie haben die Einrichtung besichtigt, und wir tauschten uns im Anschluß daran aus über die Probleme unserer Einrichtung, über unsere Schüler. Ihr Interesse hat uns begeistert.
Erst zum Schluß des Gesprächs deuteten Sie an, daß Sie uns - wie bereits in der Vergangenheit geschehen - auch künftig weiterhelfen wollten. Sie wollten vor allem in den Bereichen fördern, wo öffentliche Mittel nicht in ausreichendem Maße vorhanden sind.

Ich berichtete Ihnen damals über die Problematik der Finanzierung durch die öffentliche Hand, die nur die ab­solut nötigen, aber nicht die wünschenswerten Dinge zu finanzieren in der Lage ist. Ich nannte Ihnen die Fel­der; in denen wir nur mit privater Hilfe und insbesondere mit Ihrer Unterstützung tätig werden können - Sport-und Freizeitaktivitäten, spezielle wünschenswerte Zusatzausstattung im EDV-Bereich, Eigeninitiativen der Schülergruppen, Verbesserung der Wohnmöglichkeiten. Sie unterstützten uns daraufhin beim Neubau unseres Hauses in der Gabelsbergerstraße, das inzwischen Ih­ren Namen - Dr. Georg-Haus - trägt.

Wenn ich heute zurückschaue, so konnten wir Dank Ih­rer Hilfe eine ganze Fülle von Aktivitäten durchführen, die ohne Sie nicht möglich gewesen wären: u. a. Bauvorhaben, Gabelsbergerstraße 13, Entwicklung einer neuen mechanischen Bogenmaschine, Anschaf­fung von Musikinstrumenten und Fernsehlesegeräten für das Braillelabor, Förderung der Datenverarbeitungs­ausbildung, Verwirklichung eines Freilandlabors (ökolo­gischer Bereich), Tandem-Aktivitäten, PC-Arbeitsplätze im Verlag, Braillemaschinenausstattung für die Schule, Förderung von Schulfahrten.

Sie haben uns aber nicht nur finanziell unterstützt. Sie waren und sind mit dem Herzen bei unserer Sache. Sie sind Mitglied des e. V. Deutsche Blindenstudienanstalt und interessieren sich weit über das übliche Maß hin­aus für unsere Arbeit. Immer, wenn ich Ihnen begegne, habe Ich den Eindruck, daß Sie sich mit unserer Arbeit persönlich identifizieren. Dafür gebührt Ihnen unser herzlichster Dank und unsere Anerkennung.

Sie haben über die Unterstützung unserer Einrichtung hinaus durch die Gründung einer Stiftung auch Hilfe für andere Blindenbildungseinrichtungen ermöglicht, so z.B. auch für den DVBS, der heute mit uns feiert. Ich spreche Ihnen den Dank auch im Namen des Vorsitzen­den des DVBS, Herrn Dr. Hauck, aus.

Sie erkannten nach der Öffnung der Mauer die Notwen­digkeit, in den neuen Bundesländern beim Aufbau und der inneren und äußeren Sanierung der dortigen Ein­richtungen helfen zu müssen. Da wir um Ihr großes Engagement und Ihren persön­lichen Einsatz um die Sache der Blindenbildung wissen, haben die Vorstände des DVBS und der Deutschen Blindenstudienanstalt einstimmig beschlossen, Ihnen unsere höchste gemeinsam verliehene Auszeichnung, die Carl-Strehl-Plakette, zu verleihen.

Es ist eine sehr selten verliehene Auszeichnung. Sie sind seit 1975 erst die achte Persönlichkeit, der die Auszeichnung zuteil wird. Sie wurde bisher an die Her­ren Prof. Dr. Schultz, Dr. Mittelsten Scheid, Dr. Freund, Dr. Bucerius (Herausgeber der „Zeit"), Dr. Mohl, Prof. Dr. Werner und Dr. Brandt verliehen.

Ich darf die Urkunde verlesen: „In Anerkennung seines humanitären Wirkens sowie seines persönlichen Interesses an der Förderung und ganzheitlichen Bildung der blinden und sehbehinderten Schülerinnen und Schüler' der Carl-Strehl-Schule ver­leihen die Deutsche Blindenstudienanstalt und der Deutsche Verein der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf Herrn Dr. med. Fritz Georg die Carl­Strehl-Plakette."

Sehr verehrter, lieber Herr Dr. Georg, ich gratuliere Ih­nen persönlich, aber auch im Namen des Vorstandes, unserer Mitglieder, der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie unserer Schülerinnen und Schüler ganz herzlich zu dieser Ehrung. Herr Dr. Hauck wird Ihnen die Carl­Strehl-Plakette überreichen.

Wir bedauern, daß Ihre Frau Gemahlin bei dieser Feier­stunde nicht anwesend sein kann. Bitte, überreichen Sie ihr diesen Blumenstrauß mit den herzlichsten Grü­ßen unserer beider Einrichtungen, dem DVBS und der Deutschen Blindenstudienanstalt e. V.

Quelle: horus 1991-4, S. 149-150

 


v. l.: Direktor Hertlein, Frau Sommerlad, Dr. Schulze, Frau Dr. Liebe, Dr. Hauck

Verleihung der Carl-Strehl-Plakette an Dr. Annelise Liebe

Laudatio, gehalten in Osterode am 22.10.1994

Vor 20 Jahren haben die Deutsche Blindenstudienan­stalt und der Deutsche Verein der Blinden und Sehbe­hinderten in Studium und Beruf gemeinsam die Carl­-Strehl-Plakette gestiftet. Sie soll an den Mitbegründer beider Institutionen erinnern, der diese ein halbes Jahr­hundert lang geleitet und mitgeprägt hat und dessen Lebenswerk von größter Bedeutung für die Bildung und berufliche Eingliederung der Blinden und Sehbehinder­ten in Deutschland ist. Mit der Carl-Strehl-Plakette sol­len Persönlichkeiten geehrt werden, die sich gleichfalls ganz besondere Verdienste um die Blinden und Sehbe­hinderten erworben haben. Diese Auszeichnung ist mit keiner materiellen Zuwendung verbunden. Sie soll ihren Wert vielmehr durch die sorgfältige Auswahl der zu Eh­renden und durch eine sparsame Vergabe erhalten.

Sie wurde bisher achtmal verliehen. 1974 an Prof. Dr. Bruno Schultz aus Berlin, 1975 an Dr. Friedrich Mittelsten Scheid aus Marburg, 1976 an Dr. Gerd Bucerius aus Hamburg und Dr. Emil Freund aus Marburg, 1979 an Dr. h. c. Hans Mahl aus Mainz, 1985 an Prof. Dr. Helmut Werner aus Bonn, 1990 an Dr. Felix Brandt aus Neuötting und 1991 an Dr. Fritz Georg aus Bad Rothenfelde.

Dies waren oder sind hervorragende Persönlichkeiten, die auf ihrem Gebiet segensreich für uns gewirkt haben oder noch wirken. Jedoch war bisher unter ihnen keine Frau. Das soll sich heute ändern! Mit Dr. Annelise Liebe wollen wir eine blinde Frau ehren, deren Lebensweg und deren Einsatz für ihre blinden und sehbehinderten Mitmenschen vorbildhaft sind.

Aus Anlaß ihres 75. Geburtstages hat Gerhard Sefkow unter dem Titel „Lebensbild einer blinden Frau" in den „Marburger Beiträgen" (Jahrgang 1987, Heft 1, Seite 47 ff.) und in „horus" (Jahrgang 1987, Heft 1, Seite 16 ff.) ihr Leben und Wirken eindrucksvoll geschildert. Ich will mich deshalb darauf beschränken, in groben Umrissen nur das Wichtigste ins Gedächtnis zurückzurufen: Annelise Liebe wurde 1911 in Halle an der Saale gebo­ren. Sie hatte ein Augenleiden, das sich zunehmend verschlechterte und noch während ihrer Schulzeit zur völligen Erblindung führte. Ihre Eltern und Geschwister brachten ihr viel Verständnis entgegen und halfen ihr, wo immer sie konnten. Ihre Schulbildung erhielt sie, nachdem erhebliche Bedenken der Schulbehörden ausgeräumt worden waren, an Normalschulen. 1931 legte sie die Reifeprüfung ab. Ihren Berufswunsch, Blin­denlehrerin zu werden, mußte sie nach einigen Seme­stern wegen der Widerstände aus Kreisen der Blinden­lehrer aufgeben, die wohl befürchteten, eine blinde selbständig denkende Frau, die nicht an einer Blinden­schule aufgewachsen und erzogen worden war, werde so manches in Frage stellen, was damals zum traditionellen Stand der Blindenbildung gehörte.

Sie wandte sich daher jetzt endgültig dem Studium der Musikwis­senschaft und der Philosophie zu - der Musik hatte ja schon immer ihr Neigung gegolten. Ihre Berufsausbil­dung schloß sie 1938 mit der Promotion ab. Danach be­gann die dornenreiche und lange Zeit erfolglose Suche nach einem geeigneten Arbeitsplatz. Unter der Hand wurde gedeutet, daß es im Geiste des Nationalsozialis­mus öffentlichen Arbeitgebern untersagt sei, Behin­derte einzustellen, wenn diese bei ihrer Tätigkeit mit dem Publikum in Berührung kämen. Mit Konzertkriti­ken, Buchbesprechungen und Gutachten-Aufträgen schlug sie sich durch, wurde in Berlin ausgebombt und begann nach Ende des zweiten Weltkriegs erneut die aufreibende Suche nach einer dauerhaften Anstellung. Diese fand sie schließlich im Frühjahr 1946 an der Berli­ner Humboldt-Universität. Allerdings mußte sie dort zu­nächst Verwaltungsarbeiten verrichten, und es vergin­gen Jahre, bis sie ihren ersten Lehrauftrag erhielt. Trotz widriger Umstände gelang es ihr 1958, sich zu habilitie­ren. Wegen ihrer politischen Neutralität und als West­-Berlinerin hatte sie aber an der Humboldt-Universität einen schweren Stand. Ihre Tätigkeit dort endete prak­tisch mit dem Bau der Berliner Mauer im August 1961. Und wieder begann die Arbeitsuche. Mit einer Auftrags­arbeit für die Deutsche Forschungsgemeinschaft hielt sie sich über Wasser. Nach zwei Jahren bekam sie end­lich eine Stelle beim Musikwissenschaftlichen Institut der Freien Universität Berlin. Sie wurde für sieben Jahre Beamtin auf Widerruf, ehe es ihr mit Unterstützung des zuständigen Vertrauensmannes der Schwerbehinder­ten gelang, als Universitätsoberrätin zur Beamtin auf Lebenszeit ernannt zu werden. Erst jetzt wurde das Problem ihrer Arbeitsplatzassistenz, die sie bis dahin selbst organisieren und weitgehend auch selbst bezah­len mußte, zufriedenstellend gelöst.

1977 trat sie nach Erreichen der Altersgrenze in Ruhe­stand. Dem DVBS (damals „Verein der blinden Akademiker Deutschlands") trat Frau Liebe schon vor 60 Jahren, also während ihrer Studienzeit, bei. Seit vielen Jahren ist sie auch Mitglied im Trägerverein der Deutschen Blin­denstudienanstalt. Als sie endlich im Beruf festen Grund unter den Füßen hatte, vor allem aber nach ihrer Pensionierung engagierte sie sich ehrenamtlich in der Selbsthilfebewegung. Von 1974 bis 1985 leitete sie die Bezirksgruppe Berlin des DVBS und erfüllte diese mit neuem Leben. Außerdem übernahm sie die Schriftlei­tung der „Musikrundschau", einer in Hannover erschei­nenden Zeitschrift für blinde Musiker und Musik­freunde. 1979 wurde sie vom Arbeitsausschuß in den Vorstand des DVBS gewählt, dem sie bis 1988 ange­hörte. Hier galt ihr Hauptaugenmerk dem kulturellen Sektor und den älteren Mitgliedern. Während der DVBS seit Anfang der siebziger Jahre durch die Gründung und Belebung berufsbezogener Fachgruppen viel für seine berufstätigen Mitglieder und aufgrund der Er­kenntnis, daß eine gute Ausbildung Voraussetzung für eine erfolgreiche Berufstätigkeit ist, auch viel für seine in Ausbildung stehenden Mitglieder getan hat und tut, fehlte es an speziellen Aktivitäten des Vereins für  die ,Mitglieder im Ruhestand. Frau Dr. Liebe erkannte diese Lücke und füllte sie tatkräftig aus. Auf ihre Initiative hinwurde die Fachgruppe Ruhestand gegründet, die sich im Sommer 1988 in Waldeck konstituierte. Frau Dr. Liebe wurde zu deren Leiterin gewählt,' ein Amt, das ihren Vorstellungen und Fähigkeiten ideal entspricht. Zusammen mit den anderen Mitgliedern des Leitungs­teams hat sie die Fachgruppe aufgebaut und für ein attraktives Angebot gesorgt. So wird jedes Jahr ein einwöchiges Seminar veranstaltet, das der Behandlung altersspezifischer Themen, dem Erfahrungsaustausch und dem Miteinander dient. Auch ihr Ziel, in der „Mar­burger Schriftenreihe" mit Selbstzeugnissen Blinder und Sehbehinderter im dritten Lebensabschnitt über die sinnvolle Gestaltung des Ruhestands als Anregung und Ermutigung für andere sowie als notwendigen Bei­trag zur Öffentlichkeitsarbeit herauszugeben, hat sie erreicht.

Frau Dr. Liebe ist ihren gewiß nicht leichten Lebensweg zielstrebig und beharrlich, couragiert und selbstbewußt gegangen. Von den Eigenschaften und Fähigkeiten, die sie dabei entwickelt hat, und von ihren Lebenserfah­rungen hat sie viel in ihre ehrenamtliche Arbeit einge­bracht. Wir alle kennen ihren Ideenreichtum, gepaart mit einem untrüglichen Realitätssinn, die hohen Anfor­derungen, die sie an sich selbst und auch an andere stellt, ihre Energie und Ausdauer, ihre Tatkraft und ihr Durchsetzungsvermögen, ihren Humor und nicht zu­letzt ihr Talent, die für die Seniorenarbeit notwendigen finanziellen Mittel zu beschaffen sowie ihre eigene Großzügigkeit. Ihrer Liebe zur Musik und zur bildenden Kunst verdanken wir manche schöne Stunde. Sie ver­steht es, die Zusammenkünfte der Mitglieder nicht nur inhaltsreich zu gestalten, sondern ihnen auch einen würdigen Rahmen zu geben. Sie hat immer nach We­gen gesucht, Blinden den Zugang zur bildenden Kunst zu erleichtern. Vor allem aber haben wir stets gespürt, daß ihr der Einsatz für Blinde und Sehbehinderte Her­zenssache ist.

Dafür danken ihr die Deutsche Blindenstudienanstalt und der Deutsche Verein der Blinden und Sehbehinder­ten in Studium und Beruf durch die Verleihung der Carl­-Strehl-Plakette. In unseren Dank schließen wir ihre Schwester, Frau llse Sommerlad, mit ein, die allzeit zuverlässig, umsichtig und hilfreich Frau Dr. Liebe zur Seite steht.

Das Foto zeigt von links: Direktor Hertlein, Frau Sommerlad, Herrn Dr. Schulze, Frau Dr. Liebe, Herrn Dr. Hauck

Quelle: hous 1995-1, S. 31-32


Portraitfoto des Geehrten

Verleihung der Carl-Strehl-Plakette an Dr. Hans-Eugen Schulze

Laudatio, gehalten in Marburg am 27. 09. 2002 von Dr. Otto Hauck

Im Jahre 1974 - drei Jahre nach dem Tode von Prof. Dr. Carl Strehl - stifteten die Deutsche Blindenstu­dienanstalt und der Deutsche Verein der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf gemeinsam die Carl-Strehl-Plakette. Sie soll an den Mitbegründer beider Institutionen erinnern, der diese ein halbes Jahrhundert lang geleitet und maßgeblich geprägt hat. Mit der Carl-Strehl-Plakette werden Persönlich­keiten geehrt, die sich - ebenso wie Carl Strehl - ganz besondere Verdienste um blinde und sehbehin­derte Menschen erworben haben.

Heute wird die Auszeichnung zum zehnten Mal ver­geben. Ich freue mich, dass wir damit eine Persön­lichkeit aus den eigenen Reihen ehren können, Herrn Dr. Hans-Eugen Schulze. Er hat nicht nur im Beruf Herausragendes geleistet; er hat vor allem auf vorbildliche Weise seine Kennt­nisse und Fähigkeiten sowie sein im Berufsleben erworbenes Ansehen unermüdlich und mit großem Erfolg genutzt, um Blinden und Sehbehinderten im In- und Ausland zu helfen, wo immer er konnte.

Am 10. April dieses Jahres konnte er in guter Gesundheit seinen 80. Geburtstag feiern. Schon in frühester Kindheit verlor er sein Augenlicht. Ab 1928 besuchte er die Blindenschule in Soest und wurde dort im Anschluss an seine Volksschulzeit zum Ste­notypisten und Telefonisten ausgebildet, also zu einem Beruf, der damals für begabte 'Blinde durch­aus üblich war. Außerdem erlernte er das Stuhl- und Mattenflechten. Von 1939 bis 1944 war er als Proto­kollführer beim Landgericht Dortmund tätig. Wäh­rend dieser Zeit bereitete er sich als Autodidakt auf das Abitur vor. Er ging dann nach Marburg und legte hier schon nach einem Jahr am Aufbaugymnasium der Deutschen Blindenstudienanstalt die Reifeprü­fung ab. 1945 nahm er das Studium der Rechts- und Staatswissenschaften auf. 1949 bestand er das erste und 1951 das zweite juristische Staatsexamen, beide Prüfungen mit Auszeichnung, was bei Juristen außerordentlich selten vorkommt. 1951 erwarb er außerdem an der Universität Münster den Doktor­grad, wiederum mit einer ausgezeichneten Bewer­tung. Ende 1951 trat er in den Justizdienst des Lan­des Nordrhein-Westfalen ein, wo er zunächst als Richter beim Landgericht Bochum beschäftigt war. Schon 1957 wurde er zum Oberlandesgerichtsrat in Hamm ernannt. Anfang 1963 - er war damals erst 40 Jahre alt - wurde er als Bundesrichter an den Bun­desgerichtshof in Karlsruhe berufen. Er soll damals der jüngste deutsche Bundesrichter gewesen sein. Dem Bundesgerichtshof gehörte er bis zu seiner Pensionierung Ende 1985 an.

Grundlage dieser für einen Blinden einzigartigen beruflichen Karriere waren seine überragende Bega­bung und ein enormer Fleiß.

Bereits neben seiner verantwortungsvollen und anstrengenden beruflichen Tätigkeit und dann ver­stärkt während des Ruhestandes fand Herr Dr. Schulze Zeit und Kraft für sein umfangreiches ehren­amtliches Wirken. So leitete er 25 Jahre lang erfolgreich den Bezirk Baden des DVBS. Unvergessen ist sein Kampf um die Erhaltung des Landesblindengeldgesetzes in Baden-Württemberg. Damals bestand die ernsthafte Gefahr, dass dieses Bundesland als erstes das Lan­desblindengeldgesetz abschafft und damit eine Ket­tenreaktion unter den anderen Bundesländern aus­löst. Dass diese Gefahr gebannt werden konnte, ist maßgeblich sein Verdienst. Auch um die Belange der Studierenden in seinem Bezirk hat er sich intensiv gekümmert.

Als im Jahre 1987 die Fachgruppe „Ruhestand" des DVBS gegründet wurde, übernahm er bereitwillig das Amt des stellvertretenden Fachgruppenleiters. In dieser Funktion hat er die damalige Fachgruppenlei­terin, Frau Dr. Annelise Liebe, beim Aufbau der Fach­gruppe mit Rat und Tat wirkungsvoll unterstützt. Von 1994 bis zum Herbst 2000 hat er die Fachgruppe dann selbst geleitet. Er hat wesentlich dazu beigetra­gen, dass in dieser Fachgruppe von ihrer Gründung an bis auf den heutigen Tag gute Arbeit geleistet wird, die bei den älteren Mitgliedern des DVBS gro­ßen Anklang findet.

Zur Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorgani­sationen hat er fruchtbare Kontakte geknüpft, und er hat bei Seniorentagen die Anliegen Blinder und Seh­behinderter in das Blickfeld der Öffentlichkeit gerückt. Höhepunkt seiner Seniorenarbeit war die internationale Konferenz für die besonderen Bedürf­nisse blinder und sehbehinderter Senioren im März 2000 in Heidelberg. Diese hat er für den DVBS in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Zentrum für Alternsforschung an der Universität Heidelberg orga­nisiert. Diese Veranstaltung, an der Vertreter aus 25 Ländern teilgenommen haben, diente dem Wissens­und Erfahrungsaustausch auf breiter Ebene, insbe­sondere auf den Gebieten der Medizin, der Geronto­logie und der Rehabilitation. Sie brachte wertvolle Erkenntnisse für die künftige Seniorenarbeit.

Als Herr Dr. Schulze danach die Leitung der Fach­gruppe „Ruhestand" in jüngere Hände gelegt hatte, wollte  der Vorstand des DVBS auf seine Mitarbeit nicht verzichten. Er berief ihn deshalb zum Senioren­beauftragten des Vereins. In dieser eigens für ihn geschaffenen Funktion kann er weiterhin zum Wohle der Senioren wirken, hat aber die Möglichkeit, den Umfang seiner Aktivitäten seinen Verhältnissen bes­ser anzupassen. Gegenwärtig bemüht er sich darum, eine Arbeitsgemeinschaft aller deutschen Verbände ins Leben zu rufen, die sich um die Belange blinder und sehbehinderter Senioren kümmern.

Ebenfalls unverzichtbar ist seine Mitarbeit im ,,Arbeitskreis Nachteilsausgleiche" des DVBS. In die­sem Arbeitskreis werden seit 1997 von Juristen und Öffentlichkeitsarbeitern Grundpositionen entwickelt und Vorarbeiten für Gesetze und Rechtsverordnungen geleistet, die aus der Sicht Blinder und Sehbehinderter von Bedeutung sind; genannt seien nur das Sozialgesetzbuch IX, das Behindertengleichstel­lungsgesetz, das zivilrechtliche Antidiskriminie­rungsgesetz und das Urheberrechtsreformgesetz.

Ferner ist Herr Dr. Schulze langjähriges Mitglied des Trägervereins der Deutschen Blindenstudienanstalt. Auch hier zählt man auf ihn. Darauf wird Herr Marx später näher eingehen. Auch im evangelischen Blinden- und Sehbehinder­tendienst, in der badischen Landeskirche und bei der Christoffel-Blindenmission engagiert er sich für Blinde und Sehbehinderte in Deutschland und weit, weit über die Grenzen unseres Landes hinaus. Um nur ein Beispiel zu nennen: Das Schicksal blinder Mädchen und Frauen in Indien, die ohne Ausbildung keine Chance haben, ist ihm eine Herzensangele­genheit. Er sorgt dafür, dass mit finanzieller Unter­stützung des DVBS und der Christoffel-Blindenmis­sion Jahr für Jahr drei Dutzend von ihnen eine weiterführende Schulausbildung erhalten und stu­dieren können, weil sie nur so in die Lage versetzt werden, einen qualifizierten Beruf zu ergreifen und ein unabhängiges Leben zu führen. Aber nicht nur um die Dinge, die für alle oder für viele wichtig sind, sorgt sich Herr Dr. Schulze. Mit glei­chem Einsatz widmet er sich den ganz persönlichen Sorgen und Nöten jedes Einzelnen, zum Beispiel wenn ein Blinder aus einem Entwicklungsland ein bestimmtes Hilfsmittel braucht, lässt ihm das keine Ruhe.

Noch vieles könnte man hinzufügen; denn seine Akti­vitäten, seine Energie und sein Ideenreichtum schei­nen schier unerschöpflich. Und unwillkürlich fragt man sich: Warum tut er dies' alles?

Ich meine, dass es hauptsächlich seine christliche Grundüberzeugung ist, die ihn veranlasst, die Gaben, die er empfangen hat, die Fähigkeiten, die er besitzt, und die Kenntnisse, die er sich angeeignet hat, in den Dienst am Nächsten zu stellen. Seine Her­zenswärme, seine noble Art und seine spontane Hilfsbereitschaft machen es leicht, ihn immer wieder um Mitarbeit und um Hilfe zu bitten und beides von ihm anzunehmen.

Mit der Verleihung der Carl-Strehl-Plakette danken die Deutsche Blindenstudienanstalt µnd der DVBS Herrn Dr. Schulze für sein segensreiches Wirken. Wir wünschen ihm weiterhin gute Gesundheit und viel Kraft für seine ehrenamtliche Arbeit.

In unseren herzlichen Dank schließen wir auch Frau Margarete Schulze mit ein, die ihren Ehemann nach besten Kräften bei der Erfüllung seiner Aufgaben unterstützt.
Nochmals: Herzlichen Dank!

Quelle: horus 2002-6, S. 219-221


A

Laudatio für Mieczyslaw Kozlowski

von Hans Junker

Lieber Mieczyslaw Kozlowski,
sehr geehrte Damen und Herren!

Es ist für mich eine große Ehre, aber zugleich auch eine Freude, die Laudatio für meinen alten Freund Mieszyslaw Kozlowski aus Krakau zu halten. Wenn ich sage „alter Freund", wird zugleich auch das Pro­blem des Laudators offenbar: die vielleicht zu große Nähe und Vertrautheit zur Person, eine gewisse Befangenheit, die Gefahr, nicht mit dem geforderten Abstand in objektiver Weise über den zu Ehrenden zu berichten. Ich werde mich deshalb also bemühen, es an der notwendigen Objektivität nicht fehlen zu lassen.

Mieczyslaw Kozlowski ist der Direktor unserer polni­schen Partnereinrichtung in Krakau, die in unmittel­barer Nähe der Altstadt -einem Weltkulturerbe der Menschheit -auf dem gegenüberliegenden Weich­selufer liegt. Wir kennen und schätzen uns seit 15 Jahren, seit dem Beginn unserer Zusammenarbeit.

Blickt man auf das Leben von Mieczyslaw Kozlowski, so wird bereits mit seiner Geburt deutlich, wie eng sein Leben an das Schicksal seiner polnischen Nation verknüpft war. Er wurde am 6. Juli 1939 in Wola Wilsona, einem kleinen Dorf in der heutigen Ukraine, geboren, knapp zwei Monate vor dem Über­fall deutscher Truppen auf Polen und damit unmittel­bar vor Beginn des 2. Weltkrieges. Mieczyslaw Kozlowski studierte Geschichte an der Universität in Posen und arbeitete danach von 1964 bis 1975 als Lehrer in Skawina in der Nähe von Kra­kau. 1975 bis 1981 leitete er einen Schulbezirk in Kra­kau. Seit dem 1. August 1985 ist er Direktor der Schule für Blinde und Sehbehinderte in Krakau.

Krakau besaß bis zu diesem Zeitpunkt lediglich eine Grundschule für Blinde, die von den sehgeschädig­ten Schülerinnen und Schülern Südpolens und Oberschlesiens in den Klassen 1 bis 8 besucht wurde. Mit der Übernahme der Verantwortung für diese Einrichtung durch Mieczyslaw Kozlowski begann zugleich ihr Aufschwung. Seine zentrale Leitfrage war von Anfang an: Wie kann ich mit meiner Einrichtung die Schülerinnen und Schüler optimal auf ein Leben in der sehenden Gesellschaft vorbereiten? Sehr schnell wurde ihm dabei bewusst, dass neben der Vermittlung klassisch schulischer Bildungsin­halte auch berufsbezogene Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten mit dazu gehören mussten.

Unter seiner Leitung wurde in Kooperation mit der Krakauer Universität eine Musikschule ersten Grades errichtet. Damit gewann die Schule eine berufsbil­dende und zugleich gymnasiale Oberschule hinzu. Mit dem Erwerb des Abiturs, der „Matura", wurden die Schüler gleichzeitig zu Klavierstimmern ausgebil­det. Klavierspielen als Unterrichtsfach für besonders musikbegabte Schülerinnen und Schüler eröffnete vielen zugleich die Perspektive, an den Hochschulen und Musikkonservatorien Polens beruflich Fuß zu fassen und eine Karriere als Musiklehrer, Organisten oder Pianisten einzuschlagen.

Gleichzeitig entwickelte er an seiner Einrichtung - wiederum in Zusammenarbeit mit der Universität - eine Abteilung für die stationäre Frühförderung sehgeschädigter Kinder, aus der sich dann später ein regionales Beratungszentrum (Diagnose und Thera­pie) für sehbehinderte und blinde Menschen entwickelte. Parallel dazu wurde ein Ratgeber für Eltern und Leh­rer sehbehinderter und blinder Kinder herausgege­ben.

Ein weiterer berufsbildender Zweig entstand Anfang der 90er Jahre: Mit der Eröffnung des modernsten Tonstudios Polens begann man mit der Ausbildung von Tontechnikern an der Schule, danach mit der Qualifizierung von Bürotechnikern und Landschafts­gärtnern. Pädagogisch und wissenschaftlich beglei­tet wurden diese Entwicklungen immer von Sonder­pädagogen und Fachwissenschaftlern der Krakauer Universität.

Das Resultat dieser dynamischen Veränderungen war die sehr schnelle Erhöhung der Schülerzahlen, was die Modernisierung und den Ausbau des Inter­nats zur Folge hatte. Einige Zahlen mögen diese geradezu stürmischen Entwicklungen dokumentie­ren: Bei Amtsantritt von Mieczyslaw Kozlowski waren 164 Schülerinnen und Schüler an der Krakauer Einrich­tung beschult, heute sind es 580. Die Schulabgänger haben ausgesprochen gute Aussichten, Universitä­ten und Hochschulen zu besuchen oder in die Berufsausbildung zu wechseln. Das erklärt den hohen Zuspruch für die Krakauer Einrichtung, die auch viele externe Schülerinnen und Schüler zu Abschlüssen führt. Die Anzahl der beschäftigten Personen (Lehrer, Erzieher, Hauswirtschaft, Hausmeister etc.) entwi­ckelte sich ähnlich. Arbeiteten 1985 127 Mitarbeiter an der Krakauer Einrichtung, so sind es heute 305.

Man muss dabei wissen, dass es sich bei der Spe­zialoberschule in Krakau um eine staatliche Schule handelt und nicht um eine Privatschule wie z.B. das katholische Gymnasium in Lasky westlich War­schaus, das seit vielen Jahrzehnten massive finan­zielle Unterstützung durch die katholische Kirche erfährt. Es ist dem Manager Mieczyslaw Kozlowski zu verdanken, dass er mit großem Erfindungsreichtum immer wieder neue Geldquellen für seine Einrich­tung erschließen konnte, dass sogar viele Regel­schulen mit einem gewissen Neid auf sie schauten und auch heute noch schauen. Die Schule ist mittler­weile mit den modernen Computerarbeitsplätzen ausgestattet und das schulische Niveau kann sich mit den Regelschulen jederzeit messen.

In den Sommerferien werden die Internatsräume an ausländische Schüler- und Jugendgruppen vermie­tet, die in Krakau Sprachkurse absolvieren. Für Kra­kauer Privatfirmen wurden PC-Kurse an der Schule eingerichtet. Die Sporteinrichtungen - Schwimmbad und Turnhalle - werden an externe Gruppen vermie­tet. Damit machte sich Mieczyslaw Kozlowski auch für seine Heimatstadt verdient, die ihn 1997 mit dem Titel „Krakauer des Jahres" ehrte.

Neben den innovativen Aspekten seiner Tätigkeit war er zugleich auch immer ein fürsorglicher Chef. Seine Stellung als Direktor in der Krakauer Institution ist unangefochten. Seine Mitarbeiterinnen und Mitarbei­ter sprechen ausnahmslos mit großer Hochachtung von ihrem Direktor. Mieczyslaw Kozlowski ist ein den Schülern zuge­wandter Pädagoge.

Damit z. B. zwei Schülerinnen Mitte und Ende der 90er Jahre an der Marburger Augenklinik operiert werden konnten, veranstaltete er eine Sammlungs­aktion bei den Taxifahrern Krakaus. Dies erledigte er so ganz nebenbei, ohne viel Aufhebens davon zu machen. Wie er bei seinen Schülerinnen und Schü­lern ankommt, wurde im Jahre 2000 deutlich, als ihm auf Antrag seiner Schülerschaft der polnische ,,Orden des Lächelns" überreicht wurde.

Bei jedem Besuch in Krakau haben wir Marburger Kollegen - ich möchte hier zuerst Joachim Lembke, Wilfried Laufenberg und Volker Hahn erwähnen, die mit mir viele Schüleraustauschprojekte mit Krakau begleitet haben - viele Anregungen für unsere päd­agogische Arbeit mit an die blista nehmen können. Mieczyslaw Kozlowski ist aufgrund seiner Lebenser­fahrungen aber auch aus seinem Wissen als Histori­ker ein überzeugter Europäer. In vielen persönlichen und privaten Gesprächen wurde von ihm deutlich gemacht, dass es unabdingbar sei, aus der jüngsten Geschichte zu lernen. Nur ein gemeinsam gestalte­tes Europa, in dem alle Völker friedlich zusammen leben, kann für uns - nach dem Vernichtungskrieg, der Polen am härtesten von allen Nationen Europas getroffen hatte, der Erfahrung von zwei Diktaturen und dem Ost-West-Konflikt, der Europa und die Welt spaltete - die einzig vorstellbare lebenswerte Zukunft bedeuten. Mit großer Zustimmung und Genugtuung hat deshalb auch Mieczyslaw Kozlowski die Auf­nahme Polens in die NATO 1998 und - seit mehr als einem Jahr - die Aufnahme Polens in die EU miterlebt. Er selbst hat aber auch aktiv die Entwicklung euro­päischer Beziehungen seiner Einrichtung in Polen nitiiert und weiterentwickelt. Auf meine Anfrage 1990, als die Krakauer Schule Spezialoberschule geworden war, einen gemeinsarr:ien Schüleraus­tausch mit Schülerinnen und Schülern der Jahr­gangsstufen 11 zu beginnen, antwortete er prompt mit Zustimmung. In diesem Jahr findet der 15. Schü­leraustausch mit Krakau statt. Unsere Schulen sind mit die ersten gewesen, die - bevor es ein Deutsch-Polnisches Jugendwerk gab - ein solches Projekt in Angriff genommen haben. Bei allen Begeg­nungen wurden wir von seiner großen menschlichen Wärme und Gastfreundschaft überwältigt.

Anlässlich des SO-jährigen Jubiläums der Krakauer Schule 1998 veranstaltete Mieczyslaw Kozlowski ein internationales Kolloquium zur Frage der integrativen Beschulung blinder und sehbehinderter Schüler, an dem Wissenschaftler und Pädagogen aus vielen Nachbarländer Polens teilnahmen. Im Jahr 2000, dem Jahr, in dem Krakau Kulturmetropole Europas war, veranstaltete die Krakauer Einrichtung unter sei­ner Regie die Europäische Konferenz des ICEVI, des Europäischen Verbandes der Blinden- und Sehbe­hindertenpädagogen.

Mieczyslaw Kozlowski war der Mit-Initiator der Som­merakademien, die abwechselnd in Krakau, Mar­burg und Angers stattfinden. Neben den Schüleraustauschprojekten mit Angers, Chemnitz, Levoca (Slowakei), Waldkirch und Mar­burg besitzt die Krakauer Schule Kontakte zu Blin­den- und Sehbehinderteneinrichtungen in Spanien, Tschechien, England, Litauen, Slovenien und der Slovakei. Mit seinem Namen verbunden ist auch der Aufbau eines europäischen Netzwerkes der Sehbehinder­ten- und Blindenbildungseinrichtungen im Rahmen ihrer länderübergreifenden europäischen Zusam­menarbeit.

Der Privatmann Mieczyslaw Kozlowski findet nur sel­ten Zeit, seinem Hobby - der Jagd - zu frönen. Zer­streuung findet er - je älter umso lieber - in seinem großen Obst- und Gemüsegarten seines Hauses im Tatravorland. Dort gedeihen auch aufs Vortrefflichste in zwei Gewächshäusern wunderbar schmeckende, zuckersüße Tomaten, die wir während der Südpo­len-Exkursion der Marburger Geographischen Gesellschaft 1999 probieren durften. Während unse­res einwöchigen Aufenthaltes in Krakau wohnten wir im Internatstrakt der Schule und erfreuten uns dabei auch der logistischen Unterstützung unserer Partner­schule. Rückhalt für seine aufreibende Arbeit findet er in sei­ner Familie, bei seiner Frau Janina, dem guten Geist im Hause Kozlowski und seinem Sohn Karai, der kürzlich mit Bravour die Aufnahmeprüfung für die Universität in Krakau bestanden hat. Mieczyslaw Kozlowski liebt es, mit Freunden gesel­lige Stunden zu verbringen. Dann blitzen seine Augen, wenn er amüsante Geschichten und Anekdo­ten zum Besten geben kann. Aber er schätzt auch ernsthafte Gespräche über pädagogische Fragen oder wenn es darum geht, politische Ereignisse zu analysieren oder komplizierte historische Prozesse zu entflechten und zu interpretieren. Man kann es sich überhaupt nicht vorstellen, dass er demnächst-in zwei Jahren?-in den wohlverdienten Ruhestand wechselt und seine über vier Jahrzehnte währende Berufszeit abschließt.

Lassen Sie mich zum Abschluss zusammenfassen:

Mieczyslaw Kozlowski hat mit viel Engagement, inno­vativer Kraft und Kreativität nicht nur seine Krakauer Institution maßgeblich nach vorne gebracht, sondern darüber hinaus auch wesentliche Impulse für die Weiterentwicklung der Sonderpädagogik für Blinde und Sehbehinderte in Polen aber auch über die pol­nischen Grenzen hinaus gegeben. Er hat es verstan­den, seine Visionen mit Mut und großer Umsicht umzusetzen. Er ist uns Vorbild und Freund. Dafür gebühren ihm Dankbarkeit, Respekt und Hochach­tung.

 

Laudatio auf Herrn Direktor Kozlowski

von Dr. Hans-Eugen Schulze

Sehr geehrter Herr Direktor Kozlowski,

ich bin der Letzte, der vor Ihnen mit der Carl-Strehl-Plakette geehrt worden ist. Das liegt schon über zwei Jahre zurück, und das vorletzte Mal ist die Plakette bereits vor mehr als zehn Jahren ver­liehen worden, nämlich an die Grande Dame des deutschen Blindenwesens, die Musikwissenschaftle­rin Dr. Annelise Liebe, die mit mir zusammen die Seniorenarbeit des Deutschen Vereins der Blinden und Sehbehinderten ins Leben gerufen hat.

Daraus mögen Sie ersehen, eine wie große Ehre Ihnen heute zuteil geworden ist. Ich beglückwünsche. Aber ich habe noch einen anderen Grund, zu Ihnen zu sprechen. Ich war wahrscheinlich der erste Vertreter des deutschen Blindenbildungswesens, der zusammen mit seiner Frau im Jahre 1990 in der Begleitung des Vorstands des Polnischen Blindenverbands in Ihre Schule kam. Wir sind damals mit offenen Armen von Ihnen empfangen worden und hatten gute Gespräche dort. Anschließend durften wir in Czenstowa im Angesicht der Schwarzen Madonna den Dank der katholischen Blinden Ihres Landes dafür entgegen nehmen, dass die Christoffel-Blindenmission die Mittel für den Druck von ,,Credo", der religiösen Blindenzeitschrift, zur Verfügung gestellt hatte. Meine Frau und ich haben diese Tage noch in lebhafter Erinnerung.

Von Ihrer Schule war ich damals so beeindruckt, dass ich der Christoffel-Blindenmission als deren Berater in Fragen der schulischen und beruflichen Bildung nahegelegt hatte, ihre Arbeit zu unterstützen. Daraus ist zu meiner großen Freude noch sehr viel mehr entstanden, als ich je gedacht hätte, wenn auch nicht mit dem Schwerpunkt Krakau: Gemeinsam mit dem Polnischen Blindenverband haben die Blindeninstitutsstiftung Würzburg mit ihrer Sachkunde und ihren personellen Ressourcen und die Christoffel-Blindenmission mit ihren finanziellen Möglichkeiten ab 1991 in Oberschlesien für alle polnischen Blindenschulen etwa zwanzig Bildungswochen zu den Themen „Frühförderung" und „Förderung blinder Kinder mit zusätzlichen Behinderungen" angeboten. Daraus ist in Rudoltowice nach dem Würzburger Vorbild eine Blindenschule mit Fördersystem, Kindergarten und Werkstatt und sind außerdem inzwischen drei Werkstätten in anderen Gegenden Oberschlesiens entstanden.

Unser Partner war dabei, wie gesagt, der Polnische Blindenverband. Aber ausgelöst worden ist alles dies durch die Faszination, die Ihre Schule auf mich ausgeübt hatte. Ich bin seitdem nicht mehr in Krakau gewesen, habe aber den gleichfalls von der Christoffel-Blindenmission geförderten ICEVI-Kongress im Jahre 2000 mitverfolgt, für dessen Durchführung Sie großes Lob geerntet haben. Als jemand aus Baden-Württemberg lese ich auch immer wieder von der Zusammenarbeit zwischen Krakau und Waldkirch und darf Sie in diesem Zusammenhang von Herrn Direktor Herrlich grüßen, der Sie mir gegenüber einen „Visionär" genannt hat.

Für all Ihren Einsatz möchte ich Ihnen im Namen der Christoffel-Blindenmission herzlich danken. Mögen Sie noch viel zum Wohle Blinder und Sehbehinderter in Polen beitragen können, auch zum Wohle der Älteren unter ihnen. Die Sehgeschädigtenpädagogik in Deutschland erkennt immer mehr, wie nötig auch Senioren ihre Hilfe brauchen. Möge das auch in Polen so werden!

FOTO (Conny Peil): von links, Mieczyslaw Kozlowski (Direktor der polnischen Partnereinrichtung in Krakau), Uwe Boysen (Vorsitzender des DVBS), Jürgen Hertlein (Vorsitzender der blista)
21. Januar 2005