„Immer wieder bereit, neu zu denken“

Das Portraitfoto zeigt die stellvertretende Schulleiterin, sie trägt eine Brille, die blonden Haare sind schulterlang. Sie lächelt freundlich zu den Betrachtenden hin

Karin Edtmüller über ihre Zeit an der blista

Als ich 1984 als frisch gebackene Referendarin mit den Fächern Deutsch und Latein zur blista kam, wechselte ich nicht nur das Bundesland, sondern ließ mich auf völlig neue Aufgaben ein. Zum Glück startete ich damals nicht als einzige, sondern zusammen mit Peter Gößmann, den ich aus dem Studienseminar in Würzburg gut kannte. In den zwei Wochen zwischen dem Examen in Bayern und dem Schulbeginn in Hessen organisierten wir den Umzug und brachten uns in einem eigenen Crashkurs die Punktschrift bei.

Alles war neu, es gab noch keine Einführungsveranstaltungen für neue Lehrkräfte, aber nette Kolleginnen und Kollegen griffen mir unter die Arme. Die eigentlich wichtigen Informationen erhielt ich von meinen damaligen Klassen 9 und 10. Altersmäßig stand ich der Oberstufe näher als den meisten aus dem Kollegium. Alles war anders, als ich es kannte: Die Schülerschaft duzte die Lehrkräfte; in den Gesamtkonferenzen hielt nicht der Schulleiter lange Ansprachen, sondern es wurde kräftig diskutiert und gestritten. Die interessantesten Gespräche fanden im „Raucherlehrerzimmer“ statt, in dem man kaum atmen, aber viel erfahren und lachen konnte. Die Elternsprechtage mündeten in gesellige Abende, getanzt wurde bis in die Nacht hinein.

Damals hatten wir weniger Schülerinnen und Schüler als heute, die Einstiegsklasse war die 7. Klasse, es wurde getrennt nach blind und sehbehindert unterrichtet und als zweite Fremdsprache wurde zu meiner Überraschung nur Latein angeboten. Es gab noch keine Computer, sondern Schreibmaschinen, an denen die Schülerinnen und Schüler ihre Klausuren ohne Korrekturmöglichkeit schrieben und erstaunliche Gedächtnisleistungen vollbrachten.

Schon nach einem Jahr erhielt ich aufgrund meiner beiden Hauptfächer die Klassenleitung einer für damalige Verhältnisse schwierigen neunköpfigen Klasse und lernte ganz schnell ganz viel dazu. Auf netten Klassenfahrten knüpfte ich wertvolle Kontakte zu anderen Lehrkräften und zu Mitarbeitenden des „Heims“. So lernte ich auch einiges über das Leben in den Wohngruppen. Später besuchte ich Fortbildungsveranstaltungen bei der RES; aus dem Kollegium durften nur wenige  das Zusatzstudium in Heidelberg absolvieren.

In den letzten 36 Jahren hat sich unglaublich viel geändert:

Die Klassen sind nicht nur gemischt in Bezug auf Blindheit und Sehbehinderung, sondern inzwischen finden sich immer mehr Schülerinnen und Schüler ohne Seheinschränkung darunter, so dass echtes soziales Lernen stattfinden kann und die Schule gut auf das Leben nach der blista vorbereitet. Die neuen Lehrkräfte lernen in einer durchdachten Fortbildungsreihe alle Bereiche der blista kennen und werden durch Team-Teaching in ihr jeweiliges Fach eingearbeitet. Ihnen wird empfohlen, Punktschriftkurse zu besuchen und sich durch eine Zusatzqualifikation, den Master in Blinden- und Sehbehindertenpädagogik, weiterzubilden. Der Computer erleichtert den Austausch und die Zusammenarbeit, gerade jetzt in „Corona-Zeiten“ ein wertvolles Kommunikationsmittel.

Das schulische Angebot hat sich durch die Klassen 5 und 6 sowie weitere berufliche Zweige und Ausbildungsmöglichkeiten enorm vergrößert. Es werden unterschiedliche Sprachen unterrichtet und vielfältiger Austausch mit anderen Ländern angeboten. Methodentrainings unterstützen in verschiedenen Klassenstufen. Der Unterrichtsalltag hat sich verändert, durch moderne rhythmisierte Unterrichtsmodelle mit Fenstern für vielfältige sportliche und andere Angebote, Förderung und Hausaufgabenunterstützung. Die Angebote der RES werden teilweise in den Vormittag geholt und es besteht Konsens darüber, dass Arbeitstechniken und Mobilität Voraussetzungen sind, um die fachlichen Anforderungen meistern zu können. Die Reha-Maßnahmen haben sehr an Bedeutung gewonnen, da die Schülerinnen und Schüler nicht mehr wie früher nur aus Blinden- und Sehbehindertenschulen, sondern auch aus der inklusiven Beschulung zu uns kommen. Wir haben ein eigenes überregionales Beratungs- und Förderzentrum, gut ausgestattet mit Beratungslehrkräften, die ca. 80 Kinder und Jugendliche an anderen Schulen betreuen.

Die Zusammenarbeit zwischen Schule, Internat und RES steht auf stabilen Füßen, nicht nur in Bezug auf die unterrichtlichen Angebote. Die Ressortleitungen tauschen sich in regelmäßigen Treffen aus, viele Arbeitsgruppen arbeiten ressortübergreifend. Die Herausforderungen in Bezug auf Schülerinnen und Schüler mit Zusatzerkrankungen, vor allem im sozial-emotionalen Bereich, haben ein Verfahren der „Runden Tische“ etabliert und erfordern weitere spezielle Maßnahmen, an denen im Moment sehr intensiv gearbeitet wird. Schulsozialarbeit sollte die Arbeit der Schule künftig unterstützen, dabei sind für einzelne Schülerinnen und Schüler noch individuellere Settings in Schule und Internat anzudenken. Grundsätzlich müssen sich alle Ressorts auf individuelle Angebote einstellen, sowohl in Bezug auf das Aufnahmeverfahren als auch auf die Beschulung und Unterbringung. Die Herausforderungen sind groß, aber die blista hat ein stabiles Fundament: das in den vergangenen Jahren erworbene Know-how, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit vielen unterschiedlichen, sich ergänzenden Qualifikationen und wirklichem Interesse an ihrer Arbeit, immer wieder bereit, neu zu denken.

Genau das habe ich in den letzten 36 Jahren so geschätzt, das Miteinander und die Zusammenarbeit mit netten, engagierten Kolleginnen und Kollegen und die Erfahrung, dass man gemeinsam für die Schülerinnen und Schüler viel bewegen kann.

Zur Person

Karin Edtmüller ist seit 2008 Mitglied der Schulleitung und seit dem Jahr 2011 stellvertretende Schulleiterin der Carl-Strehl-Schule. Zum Ende des aktuellen Schuljahrs geht die gebürtige Fränkin nach 36 Jahren an der blista in den Ruhestand.