Hürdenlauf

Für die einen eine olympische Sportart, für die anderen Alltag

Einblicke in ein Straßentheater-­Projekt – PROLOG

Leitthema „zugängliche Kultur“, dann nehmen wir mal an, zugänglich käme von Gehen: auf jemanden zugehen, vorausgehen, mitgehen…

Gerd kann gar nicht gehen, aber im Rolli fahren. Bei gutem Wetter.
Simone kann gehen, tut es aber nicht gerne und wenn, dann in aller Ruhe.
Lisa kann gehen, tanzen, springen wie ein junges Reh. Sehen kann sie nicht.
Thorsten hat beim Gehen seine Mona dabei, aber nicht jeder mag Hunde.
Lena ist 13. Sie kann gehen, aber will sich mit diesen verschiedenen und älteren Menschen nicht unbedingt blicken lassen.
Antje kann gehen, aber fährt im Dunkeln kein Auto.
Michi lässt sich schieben. Nur seine Assistenz versteht, wo er hin will, denn er spricht nicht.
Björn geht auch, er ist der Meister der kleinen Schritte.
Henrike geht mit einem führenden Arm an ihrer Seite… am liebsten mit zweien oder dreien. Das macht Spaß, aber vorbeigehen kann dann niemand mehr.
Hartmut ist sogar einen Marathon gegangen. Halbseitig gelähmt und als letzter im Ziel. Was soll’s. Ging.

Das Foto zeigt 4 Teilnehmende, zwei tragen bunte Masken

Amélie Schneider* | Mit dem „Hürdenlauf“ geht die blista neue Wege. Am Anfang stand die Idee, dass wir ein Projekt für ALLE machen. Das hört man ja überall: für ALLE – Inklusion. Sagt sich einfach, aber ist es das auch? Unser Projektpartner, der Marburger Verein Theater GegenStand, schlug vor, eine Straßentheatergruppe ins Leben zu rufen: Die Aufführungen bekommen dann ALLE mit, ob sie wollen oder nicht. Das Vorhaben stand also fest: Ein Straßentheaterprojekt, in dem alle Menschen mitmachen können, die wollen. Ein Zeitraum (von Januar bis Juli 2017) sollte erstmal die einzige Grenze sein, die wir in der Konzeption setzten. Die Stadt Marburg und das Jürgen-Markus-Preiskuratorium verliehen uns für diese Idee sogar den Preis „Marburg barrierefrei“!

Im Herbst 2016 hatten wir also ein recht offenes Konzept und eine finanzielle Basis. Jetzt brauchten wir noch ALLE – kleine, große, junge, alte, behinderte, nichtbehinderte und sonstige Menschen hatten wir im Sinn. Wir haben bunte Flyer entworfen, sie in Cafés ausgelegt und in der Uni ausgehängt. Wir haben uns in Netzwerken vorgestellt, Freizeitreffs für behinderte Menschen besucht, Anzeigen aufgegeben und viele E-Mails an soziale Organisationen, Schulen und Seniorenheime geschrieben. Im März 2017 startete dann die erste Probe mit 25 Teilnehmenden. 16 davon blieben und wuchsen zu den „Hürdenläufern“ heran.

8 bunt gekleidete Hürdenläufer mit einem dicken Seil

Hatten wir ALLE erreicht? Unser jüngstes Mitglied war damals 13 Jahre alt, das älteste über 60. Der Kleinste ist wohl Gerd, da er immer sitzt; der Größte ist Hartmut mit 1,90 m. Dann waren da noch die junge Frau mit Autismus, der schwerstmehrfachbehinderte junge Mann, der Blinde mit dem Stock aus Herr der Ringe, der zierliche Mann mit der Spastik, die Frau mit Downsyndrom, die Clownin mit dem Rad, der mit der orangenen Brille, der Gehbehinderte … Ein paar Wochen später wandelten sie sich in Anna-Luise, Michi, Thorsten, Björn, Simone Weber und wie sie alle heißen. Das war eine Entwicklung, die zwar mehr oder weniger in allen Gruppen abläuft, die für die Hürdenläufer doch auch eine fordernde Erkenntnis zu Tage brachte: „Ich bin ein Mensch mit Behinderung. Aber nennt mich ruhig Steffi. Schluss mit Schubladendenken!“ heißt heute eine der zentralen Botschaften, welche die Hürdenläufer bei ihren Aktionen in der Stadt als Flyer verteilen.

Gruppenbild mit bunten T-Shirts und Masken

Vielleicht kann man sich inzwischen vorstellen, dass die Hürdenläufer nicht nur sehr gut für ein Diversity-Werbeplakat posieren könnten, sondern auch jedes Gruppenmitglied eigene Fähigkeiten, Einschränkungen, Vorstellungen und Bedürfnisse mitbringt. Zudem hatten wir beschlossen, dass alle Entscheidungen über Auftritte, Botschaften etc. gemeinsam getroffen werden sollten. Was bedeutete das für die Organisation und die künstlerische Arbeit der Gruppe?

2 Hürdenläufer mit männlciher und weiblicher Maske

In den acht intensivsten Monaten beschäftigte das Projekt außer der Regisseurin Karin Winkelsträter und mir noch zwei Regieassistenten, drei Assistenzkräfte und zwei Projektstudentinnen, die alle präsent mitarbeiteten. Zusätzlich brachten zwei Hürdenläufer ihre eigenen Assistenzen mit zur Probe, die bald auch geschätzter Teil der Gruppe wurden. Das ist offensichtlich ein enormer Personaleinsatz, ohne den wir jedoch die Koordination von Klein- und Großgruppenterminen, Fahrdiensten und die Berücksichtigung aller individuellen Bedürfnisse nicht hätten leisten können. Die Hürdenläufer trafen sich an zwei Sonntagen pro Monat, zusätzlich gab es mehrmals wöchentlich treffen von drei Kleingruppen. Hinzu kamen 12 Tage, an welchen Aktionen in Marburg und auf Festen stattfanden. Wir haben nach den ersten Auftritten sogar Anfragen anderer Einrichtungen und einer Gemeinde erhalten, ob wir auf Betriebs- und Dorffesten auftreten möchten.

Der Energielevel stieg steil an, die Hürdenläufer wollten ständig hinaus auf die Straße. Damit ging auch ein unerwartet hoher Kommunikationsaufwand einher­… mit Schauspielenden, Bezugsbetreuenden, Gruppenleitungen, persönlichen Assistenzen, Eltern … Die Hürdenläufer mit hohem Unterstützungsbedarf erreichen wir nur über dritte Personen. Für Gerd haben wir die Registrierung für den städtischen Rolli-Fahrdienst übernommen, damit er auch bei schlechtem Wetter zu den Proben kommen kann. Ein anderes Mitglied kämpft mit einer Gedächtnisbeeinträchtigung und wir schreiben wiederholt SMS und Terminzettel zur Erinnerung. E-Mail, WhatsApp, SMS, Telefon, Post – in keinem Projekt habe ich bisher so kontinuierlich auf so unterschiedlichen Ebenen und Wegen kommunizieren müssen, um wirklich jeden einbinden zu können.

Ein bereits erwähnter Grundsatz bei den Hürdenläufern ist die Mitwirkung. Die acht Botschaften zum Beispiel entwickelten sich aus individuellen Vorschlägen, in großen und kleinen Abstimmungsrunden haben wir Änderungen eingearbeitet und am letzten sprachlichen Schliff gefeilt. Mehrmals sind wir zusammen durch die Stadt gelaufen, haben Spielorte ausgeguckt und uns dabei neue und bekannte Hürden gezeigt. Durch die vielschichte Auseinandersetzung mit­einander haben die Hürdenläufer mehr als nur etwas vom Theater gelernt: Gegenseitigkeit.

Was für den einen selbstverständlich war, kannte der andere nicht… Wie findet man da eine gemeinsame Ebene für die Theaterarbeit? Karin Winkelsträter hat geduldige Arbeit geleistet und im Kern der fünf verschiedenen Aktionen steht der Körper als spielerisches Mittel: „Die Erarbeitung war eine kontinuierliche Interaktion zwischen meinen Angeboten und den Entscheidungen der Einzelnen, auf welche Art und Weise sie diese annehmen, oder eben nicht.“ Es kam die Frage auf, ob die künstlerische Arbeit einem üblichen fachlichen Anspruch genügen kann oder ob die konsequente Einbindung individueller Bedürfnisse dies verhindert. Darf man bei einem Auftritt der Masken-Menschen auch mitmachen, wenn man sich weigert, eine Maske zu tragen? Können wir arbeiten, wenn jemand in der Probe ausschert, um sich am Rand des Raumes schlafen zu legen? Die Hürdenläufer schaffen es, all solches in achtsamer Gegenseitigkeit spontan aufzufangen. Natürlich nie ohne ein gewisses Chaos, das auch hier und da kurz davor steht, seinen Charme zu verlieren. Das ist vielleicht nicht Theaterarbeit im üblichen Sinne, aber es ist auch das, was den besonderen Charakter der Gruppe prägt.

Es gibt so viele Aspekte, die hier Erwähnung finden könnten, etliche Hürden die wir mit Anlauf genommen haben und Steine die heute noch im Weg liegen … was seit letztem Jahr bei den Hürdenläufern alles unter das Stichwort „Bedingungen für Inklusion“ fällt, können wir noch nicht in einer gültigen Auswertung zusammenfassen, denn wir stecken noch mittendrin. Dank einer Förderung durch die Aktion Mensch läuft das Projekt länger als geplant bis Mitte 2018 und die Gruppe erarbeitet inzwischen eine Doku über ihre Erfahrungen.

Fest steht aber schon, dass der Erfolg der Hürdenläufer vor allem dem Mut dieser unterschiedlichen Menschen zu verdanken ist, zusammen zu kommen und zusammen zu bleiben. Gegen viele innere Widerstände und Zweifel hinweg haben sie witzige, seltsame, aufmerksamkeitserregende, fordernde und lehrreiche Aktionen und Botschaften auf die Straße gebracht. Mit der Zeit wird man es da sogar überdrüssig, sich unter dem Label „inklusiv“ darzustellen. Die pädagogische Instruktion überkommt sich selbst und man ist einfach ein Mitglied der Hürdenläufer … nicht jeder von uns kann gehen, aber wir alle laufen Hürden. Um diese Perspektive nachvollziehen zu können, muss man vielleicht mal mittendrin gewesen sein. Unter Menschen. Also … vielleicht gehen Sie das nächste Mal hin, es lohnt sich.

[* blista-Stabsstelle UN-Behindertenrechtskonvention und Projektleitung „Hürdenlauf“. Fotos: Thomas Schwellenbach]