Buchtipps: Jugendbuch

Winfried Thiessen. Alles, was ich sehe von Marci Lyn Curtis – Maggie hasst ihr neues Leben als Blinde. Sie will keine tapfere Kranke sein, und auf Unterricht von anderen Blinden kann sie gut verzichten. Dann plötzlich passiert es: Sie kann wieder sehen! Nur einen Ausschnitt der Welt, genauer: einen zehnjährigen Jungen namens Ben. Mit Hilfe des altklugen und hinreißenden Jungen scheint sie einen Teil ihres Lebens zurückzubekommen. Und Bens großer Bruder Mason ist Sänger in Maggies Lieblingsband. Und ziemlich attraktiv. Doch er lässt sie abblitzen, weil er denkt, dass Maggie ihre Blindheit vortäuscht – was ja irgendwie stimmt. Dann kommt heraus, warum sie ausgerechnet Ben sehen kann.

Der Klappentext des 400-seitigen Schmökers hört sich zunächst einmal an wie eine Liebesschmonzette – und ja, in gewisser Weise ist er das auch. Aber es handelt sich um eine sehr unterhaltsame Schmonzette. Die Lovestory dient als Transportvehikel und roter Faden, denn gute Jugendbücher verhandeln heute so ziemlich alles, worauf (weibliche) Teenager beim Erwachsenwerden treffen: Schwangerschaften, Krankheiten, Lebens- und Sinnkrisen, Eltern in allen Formen, gelingende und misslingende Freundschaften, große und kleine Probleme und die dazugehörigen Bewältigungsstrategien und und und … und natürlich werden nicht gleich fertige Lösungen angeboten, sondern Anregungen zum Nach- und Weiterdenken dargereicht.

Die Idee, dass ein blindes Mädchen auf den Kopf fällt und plötzlich wieder sehen kann, ist in diesem Fall nicht nur ein bequemes Stilmittel der Autorin, die es so ihrer Ich-Erzählerin ermöglicht, ihre Umgebung und Menschen zu beschreiben. Nein, wir ahnen es schon: Durch das Wieder-sehen-können werden Maggie langsam die Augen geöffnet, und sie lernt, mit dem Herzen zu sehen und so ihre Behinderung zu akzeptieren – ­allerdings zu einem Preis, den sie nicht willens ist zu zahlen. Natürlich hinterlässt die Geschichte Klößchen im Hals und Schmetterlinge im Bauch, und ja, als Mädel möchte man nach dieser Lektüre einen Musiker und nichts als einen Musiker zum Freund – weil die ja so sensibel sind, denn sonst könnten die doch gar nicht so gefühlvolle Songs schreiben.

Mich hat die Geschichte gut unterhalten, auch wenn ich dem Adressatenalter des Buches, den 12- bis 15-Jährigen, wohl schon etwas entwachsen bin. Wenn man Maggies Einstellung teilt, was Bücher angeht, dann lohnt es sich auf jeden Fall Alles, was ich sehe zu lesen: „Alles, was witzig ist und gut ausgeht. Ich hasse Bücher, die deprimierend oder düster oder irgendwie beschissen sind. Es reicht, wenn das echte Leben so ist.“

Thriller

Endgültig von Andreas Pflüger – Der Einstieg ist furios. Rückblick: Jenny Aaron. Jung und hübsch. Mitglied einer Elitetruppe der Polizei, eine Kampfmaschine. Der Papa schon bei der GSG 9. Held von Mogadischu. Den Umgang mit der Waffe beherrscht sie von Kindesbeinen an. Ein Killer verfolgt sie. Sie töten ihn und eine unbeteiligte Person durch einen Querschläger – Kollateralschaden. Aber nichts ist ohne Bedeutung in diesem Thriller!! Ein weiterer Undercover-Einsatz. Ein Junge sitzt in der Lobby eines Hotels, liest Daredevil, der blinde Rächer, der seine Blindheit mit übermenschlicher Sinneswahrnehmung kompensiert. Nichts ist ohne Bedeutung in diesem Thriller!! Dann ein Feuerwerk. Mission Impossible in Buchform. Kurze Schnitte. Ein Videoclip aus Worten. Jenny Aaron überlebt schwer verletzt und ist – blind. Ihren angeschossenen Kollegen und Liebhaber hat sie im „Gefecht“ zurückgelassen, war feige geflohen, wurde dann aber doch noch selbst erwischt. Unverzeihlich in ihrem Kosmos!

Jenny Aaron, blind. Sie lernt mit ihrer Behinderung leben, entwickelt sich zu einem weiblichen Daredevil, aber nein, wohl eher zu einer blinden Samurai. Aaron beginnt, wieder bei der Polizei zu arbeiten, aber Tag und Nacht verfolgt von der Frage: Warum? Warum hat sie damals in Barcelona gegen ihren eigenen Kodex und den Kodex ihrer Truppe verstoßen und sich so entehrt, dass sie nun nicht mehr in den Spiegel schauen kann? Gut, kann sie sowieso nicht mehr. Warum hat sie damals keine Hilfe angefordert und ihren Freund im Stich gelassen? Aaron sucht nach der Antwort, will endlich ihren Frieden finden, doch ihre „Erinnerungsbibliothek“ steht seit diesem Einsatz in Flammen. Die Vergangenheit begleitet sie auf Schritt und Tritt. Das ahnt sie jedoch nicht. Sie wird von der „Antwort“ bereits observiert. Aber auch die „Antwort“ hat eine Frage, die nur Aaron beantworten kann. Es kommt zu einem spannenden, wortgewal­tätigen Katz- und Mausspiel auf Leben und Tod. Der finale Showdown – soviel sei hier schon verraten – endet wider Erwarten.

Andreas Pflüger hat einen Thriller geschrieben, der in der Welt einer fiktiven Elitetruppe der Polizei spielt, in einer Welt, in der sich jeder unbedingt auf den anderen verlassen können muss, in der sich jeder jederzeit für seinen Kameraden opfern würde – alles eine Sache der Ehre. Mitten in dieser Männerwelt: Jenny Aaron, tougher als jeder Kerl. Und doch hat sie gegen den Kodex verstoßen, nur warum? Nur die Antwort bietet Erlösung. Für diese Erlösung ist sie bereit, alles zu tun. Ihre Gegner: Männer mit einer schweren Kindheit, schwere Jungs also. Aus dieser Riege stammt auch ihr potentieller Killer, auch er – wie Aaron – mit einem Kodex ausgestattet, auch er auf der Suche nach einer Antwort. Natürlich würden Aaron gerne auch die anderen Jungs ans Leder – aber sie ist reserviert für den Chef. Wie es sich für einen modernen Thriller gehört, verschwimmen schon bald Gut und Böse, und es geht ordentlich und zuweilen unappetitlich zur Sache. Es wird geprügelt und geschossen, manchmal todernst, dann wieder mit einem schmunzelnden Augenzwinkern des Autoren: „Die Kugel schlägt im Hinterreifen des Transporters ein. Die meisten Scharfschützen, fähige Männer, würden schwören, dass ein solcher Treffer unmöglich ist.“ Der Tod kommt oft, mal ganz banal, mal wird er förmlich zelebriert – für jeden ist etwas dabei. Gestorben wird dauernd, und es gibt irgendwie immer einen guten Grund, jemanden zu töten. Im Hintergrund lauert stets die Liebe oder die unerfüllte Sehnsucht nach Liebe, die zuweilen in Hass umschlägt.

Und wie es sich gehört, ist Aarons Blindheit hier nicht nur einfach Nicht-Sehen können, sondern sie steht für Erkennen und Verkennen – und so lautet der Schlusssatz von Aaron auch vielsagend: „Ich kann Hell und Dunkel unterscheiden.“

Wer von einem guten Thriller nun erwartet, ihn in einem Rutsch durchlesen zu können, und auch gerne mal ein paar Seiten überspringen möchte, dem muss ich von Endgültig abraten. Der Thriller ist durchaus anspruchsvoll, nicht jede Frage, die sich dem Leser stellt, wird gleich im nächsten Satz beantwortet. Also nichts für Leute, die schon bei Konsalik das Handtuch werfen, weil sie der Handlung nicht folgen können. Endgültig ist ein Unisex-Thriller: Für die Jungs mit Kampfszenen und fetten Wummen. Für die Mädels mit großem Gefühlskino und Happy End, wenn auch nicht für alle Beteiligten.

Natürlich ist Jenny Aaron leicht überzeichnet, aber das leugnet Pflüger mit seiner Anspielung auf den Comic-Helden Daredevil und auf die japanischen Zatoichi-Filme (Der blinde Samurai) auch gar nicht. Pflügers Schreibstil zwingt dazu, genau zu lesen. Dadurch findet man auch einige nette Stolpersteine im Buch. Unsere stressfeste Heldin kann, wenn sie sich konzentriert, winzige Gegenstände per Klick-Echoortung aufspüren, aber rennt, wenn sie es eilig hat, auch schon mal ein Sofa um oder „verwechselt“ in der Hektik einen Sattelschlepper und dessen Anhänger, zwischen denen sie sich wiederfindet, mit zwei parkenden PKWs – aber drauf geschissen, der Thriller ist in sich stimmig, großes Wörterkino, 1A-Thrillerentertainment und ziemlich nah dran am wahren Leben. Welche blinde Frau erlebt nicht ständig Situationen wie folgende? „Bauch. Messer. Du musst fahren.“ Natürlich hilft sie gerne ihrem verletzten Kollegen, schiebt ihn auf den Beifahrersitz, setzt sich ans Lenkrad und gibt Gas, und man ahnt es, schon kommt ihr bei Tempo 100 auf schneeglatter Fahrbahn ein LKW entgegen. Wo ist da das Problem – wenn man Jenny Aaron heißt?