Zeitenwende — vom Leben nach der blista

Odyssehrestverschlechterung – Die Irrfahrt von Marburg nach Marburg

Mariam B., Abi 2014

Geschafft! –20. Juno 2014. Die Abiturnoten werden verkündet! Endlich haben das Lernen und die Aufregung ein Ende. Doch die großen Gefühle blieben aus - vorerst. Irgendwie hatte ich mir mein Abi emotional außergewöhnlicher vorgestellt. Die Emotionen kamen dann doch – beim Auszug aus meiner Wohngruppe in der Biegenstraße, als es hieß Abschied nehmen und raus in die Welt, von der ich nicht wusste, was sie für mich bereit halten würde.

Meine Irrfahrt nach dem Abitur

Wieder zu Hause bei meinen Eltern – ich bin das jüngste Kind einer marokkanischen Einwanderungsfamilie – tat sich erst einmal ein großes Loch auf, denn ich war mir immer noch unsicher, was ich studieren wollte. Ich träumte davon, eine erfolgreiche Journalistin zu werden, und wenn das nicht klappen sollte, wollte ich irgendwo im Medienbereich Karriere machen. Also bewarb ich mich an der Goethe-Universität in Frankfurt/Main für Film-, Theater- und Medienwissenschaften (FTM) und an der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz für Publizistik und Soziologie. Beide Studiengänge waren zulassungsbeschränkt. Da mein Abi-Durchschnitt nicht ausreichte, musste ich einen Härtefallantrag stellen.

Da ich ganz sichergehen wollte, im Wintersemester 2014/15 ein Studium beginnen zu können, bewarb ich mich außerdem für den zulassungsfreien Studiengang „Germanistik und Empirische Sprachwissenschaften“ an der Frankfurter Goethe-Universität.

Mein Augenarzt am Heimatort verstand allerdings nicht so recht, wie er das Gutachten für den Härtefallantrag zu formulieren hatte. Folglich wurde ich an den beiden zulassungsbeschränkten Unis abgelehnt – auch ein Widerspruch hatte keinen Erfolg.

Infolgedessen fand ich mich im Herbst 2014 im Studiengang Germanistik – meinem Plan C – wieder. Dort war das Arbeitstempo von Anfang an hoch; die Rücksichtnahme auf meine starke Sehbehinderung war gering, dazu kam die mir völlig neue Umgebung und Arbeitsatmosphäre, und zu allem Übel stellte mein USB-Stick, der die Vergrößerungssoftware für meinen Laptop enthielt, seine Dienste ein. Außerdem fehlten mir ­soziale Kontakte. Obwohl ich immer wieder ins Gespräch mit Kommilitonen kam, schaffte ich es nicht, diese Kontakte aufrecht zu halten. Auch erwartete ich, dass die Leute zu mir kamen und mich ansprachen, da ich Schwierigkeiten hatte, ihre Gesichter wiederzuerkennen. Rückblickend kann ich noch nicht einmal sicher sagen, ob ich meine ­Behinderung in Gesprächen je thematisiert habe. Zu schaffen machte mir aber auch mein Einzug zurück ins Elternhaus. Die doch ziemlich beengten Wohnverhältnisse boten weder eine Privatsphäre noch eine geeignete Arbeitsatmosphäre. Ich war unzufrieden, überfordert und hörte bald auf, meine Veranstaltungen zu besuchen.

Rückblick

Zwei Monate vor dem Ende meiner blista-Zeit – ich lief gerade den blista-Berg hinunter – wurde mir von einer Sekunde auf die andere schwarz vor Augen. Ich vermag nicht zu sagen, wie lange dieser Moment der Blindheit andauerte. Aber: es war das Fanal für die kommende Zeit. Ich erklärte meinem ­Augenarzt, dass meine Hell-Dunkel-Adaption einen eigenen Willen bekommen habe. Ich kannte dieses Auf und Ab aus früheren Jahren, als in meiner Kindheit erstmals meine Augenentzündung aktiv wurde, bevor sich der Zustand für neun Jahre „stabilisierte“. Er könne nichts für mich tun, sagte er, und wir beließen es dabei.

Meine Augenkrankheit hat den Namen „Uveitis Intermedia“. Uveitis ist eine Entzündung und ist bei mir autoimmun bedingt, d.h. die körpereigene Abwehr richtet sich in meinem Fall gegen Teile des Auges. Da meine Entzündung chronisch und sehr stark ist, ist bei mir das komplette Auge betroffen. In meiner Kindheit musste ich mich diversen Operationen unterziehen, die mein Sehen immer weiter verschlechterten.

Wir schreiben den 4. Februar 2015

Ein erneutes Gutachten meines Augenarztes war dieses Mal formgerecht. Meine Bewerbung an der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz für den Studiengang Publizistik und Soziologie zum Sommersemester, das im April begann, war erfolgreich. Während dieses 1. Semesters kam es bei mir dann zu einer rapiden Sehrestverschlechterung. Da ich im Juni einen Facharzttermin in der Uniklinik Tübingen haben sollte, verzichtete ich darauf, meinen Augenarzt zu konsultieren. „Ich kann für Sie nichts tun!“ hörte ich ihn noch beim letzten Mal sagen. Ich versuchte, mich auf mein Studium in Mainz zu konzentrieren. Obwohl ich weiterhin Schwierigkeiten hatte, soziale Kontakte zu knüpfen, und mich etwas einsam fühlte, war ich zufrieden. Ich fühlte mich endlich angekommen. Leider ging es mit meinem Sehvermögen sehr schnell bergab – bald war es mir mit meinen Arbeitstechniken nicht mehr möglich, erfolgreich am Studium teilzunehmen.

11. Juno 2015

Ich sitze in der Tübinger Augenklinik auf dem Untersuchungsstuhl. „Ihr Visus ist prozentual nicht mehr feststellbar. Wir messen nur Handbewegungen“, lautete die „frohe“ Botschaft. Ich wurde weiterhin darüber informiert, dass mir jahrelang die Augen durch falsche Behandlungsmethoden „verpfuscht“ worden sind. Nun war ich rechtlich blind mit einem winzigen Sehrest, an den ich mich klammerte, – und total am Boden zerstört. Aber ich war ja gezwungen weiterzumachen, musste meine Trauer kontrollieren, meine Wut ignorieren, und wollte ich weiter studieren, führte für mich kein Weg an einer Blindentechnischen Grundrehabilitation (BTG) vorbei.

Das Foto zeigt die Marburger Oberstadt mit dem Schloss vor stahlblauem Himmel

Back to blista

Meine Exmatrikulation gestaltete sich zunächst schwieriger als erwartet, aber Frau Stelker, die Leiterin der BTG, beriet mich während dieser Zeit in allen bürokratischen Angelegenheiten. In meinem ersten Telefonat mit ihr traf mich mein Eingeständnis, dass ich blind bin, härter als erwartet. In diesem Gespräch machte mir Frau Stelker klar, dass das keine Sache von drei bis vier Monaten sein würde, und sagte: „… und wenn es einen selbst trifft, dann ist es doch etwas ­Anderes.“ In diesem Gespräch begriff ich erstmals so richtig, dass es sich bei meiner ­Erblindung um keinen wieder vergehenden Zustand handelte. Nachdem ich aufgelegt hatte, ließ ich meinen Gefühlen freien Lauf - aber nur kurz. Es passte einfach nicht in mein Selbstbild – wer will schon eine Heulsuse sein! Und ich hatte ja noch einen kleinen Sehrest, den ich nutzen konnte!

Am 14. Juli 2015 absolvierte ich meine Orientierungstage als BTG-Hospitantin an der blista. Alles lief super! Ich konnte also ganz relaxed und zuversichtlich in die Zukunft ­blicken.

Nach vier Monaten des Kämpfens und Wartens war es endlich soweit: am 23. November 2015 durfte ich mich endlich als ­Rehabilitantin bezeichnen und war in einer Vierer-Frauen-WG untergebracht.

Anfangs war ich zunächst etwas irritiert, dass mein Unterricht im BTG recht kurz war – von Abitur und Uni war ich anderes gewöhnt. Ich fühlte mich unterbeschäftigt, doch das sollte sich schnell ändern. Die Eingewöhnungsphase war bald zu Ende. Nun verbrachte ich die Vormittage und die meisten Nachmittage am Schlag 4 in den Räumen der BTG. Das Erlernen der Punktschrift erwies sich als schwieriger als erwartet und mein Lesetempo ließ zu wünschen übrig.

Ich war frustriert, und mein anfänglicher Enthusiasmus und Elan verließen mich nach und nach. Ich hätte natürlich mehr Punktschrifttexte lesen sollen, aber ich war jede Woche zwei von sieben Tagen krank, da ich meine Immunsupressiva nicht gut vertrug. Ich machte mir Gedanken, ob ich wohl jemals von diesen Medikamenten wegkommen würde. Immer häufiger überkam mich ein Gefühl der Hilflosigkeit und Ohnmacht; ich begann zu grübeln. Mich überforderten schon die kleinsten Konflikte, und ich zog mich immer mehr zurück. Die Kraft, meine Bedürfnisse zu formulieren, geschweige denn durchzusetzen, hatte ich nicht. Ich befand mich in mitten einer tiefen Krise. Je schlechter mein Sehvermögen wurde, je unzufriedener ich mit meiner Therapie und der Auskunft der Ärzte wurde, je intensiver ich mit meinem Psychologen an meinen Problemen arbeitete, desto ausgelaugter und erschöpfter fühlte ich mich. Verschärfend kam dann hinzu, dass ich Anfang März 2016 einen weiteren OP-Termin in der Tübinger Augenklinik hatte. Der Eingriff sollte besseren Diagnosemöglichkeiten dienen, um den weiteren Verlauf meiner Behandlung genauer bestimmen zu können. Dabei wurde auch meine Linse etwas korrigiert. Leider wurde auch festgestellt, dass meine Netzhaut irreparable Schäden durch die Entzündungen davon getragen hatte. Erst drei bis vier Wochen, nach vollständiger Genesung meines Auges, würde ich dann wissen, ob und welcher Sehrest mir durch die Linsen­korrektur bleiben würde.

Nach meiner Entlassung genoss ich für eine kurze Zeit meinen leicht verbesserten Seheindruck, aber ich wusste aus vorherigen ­Erfahrungen, dass sich mein Sehen innerhalb weniger Wochen stark verschlechtern konnte. Doch die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. Natürlich trat die Verschlechterung ein und war zu allem Überfluss auch noch von Schmerzen begleitet. In einem Zeitraum von vier Wochen konnte ich auf meinem iPhone zuerst die großen Ziffern der Uhrzeit auf dem Bildschirm nicht mehr erkennen, die Zahlen verzerrten sich immer mehr bis ich schließlich überhaupt nicht mehr ausmachen konnte, wo sie sich auf dem Bildschirm befanden. Es hatte sich ein „Nachstar“ gebildet. Auf diese Prognose hatten mich meine Ärzte in Tübingen vergessen hinzuweisen – und ich hatte vergessen, zu fragen. Der Nachstar bildet sich immer. Das ist quasi ein Naturgesetz und mit keinem Medikament zu verhindern. Ich ärgerte mich über mich selbst; war frustriert, weil ich einfach nicht in der Lage war, bei Ärzten die entscheidenden Fragen zu stellen. Ich machte mir schwere Vorwürfe. Daran, dass ein junger Mensch von solchen Situationen einfach völlig überfordert ist, dachte ich nicht. Mit der Aussicht, meinen noch verbliebenen winzig kleinen Sehrest völlig zu verlieren, hätte ich mich vielleicht nicht für die Operation entschieden.

In diesen für mich unheimlich harten Wochen hätte ich mir mehr Unterstützung im BTG gewünscht. Aber dort lief alles weiter wie ein Uhrwerk. Ich war in dieser Zeit sehr zart besaitet, haderte mit der Organisation und Planung des Unterrichts, wollte mehr Transparenz und eindeutigere Strukturen. Ich fühlte mich oft im Dunkeln gelassen und verstand Ziele, Inhalte und Schwerpunkt­setzungen nicht, konnte aber meine Bedürfnisse auch nicht klar formulieren, hatte einfach keine Kraft mehr, mich für meine Interessen einzusetzen. Was mir in dieser Zeit fehlte, war mehr Sensibilität für meine ­Situation.

Aber ich habe aus dieser Zeit einiges mitnehmen können und so schaue ich alles in allem durchaus positiv auf die Monate in der BTG zurück, denn ich habe viel über mich gelernt, vor allem, dass meine Mitmenschen nicht in mein Inneres schauen können, dass ich meine Bedürfnisse auch artikulieren muss und nicht so tun darf, als hätte ich keine Probleme, bis dann irgendwann das Fass beginnt überzulaufen. Und ich kam in den Genuss, bei Herrn Nadig eine Internetschulung zu machen. Er ist quasi eine Koryphäe auf diesem Gebiet. Ich habe viel von ihm gelernt. Auch im Bereich O&M habe ich, dank meiner kompetenten und genauen Lehrerin Frau ­Paproth, mehr Sicherheit und Selbstvertrauen bekommen. Insgesamt hatte ich oft Spaß im und am Unterricht. Egal wie unsinnig ich manche Übungen, zum Beispiel im Fach Bewegungsförderung, fand, habe ich doch immer etwas gelernt. Auch wenn es nur die Erkenntnis war, dass so etwas mir ­keinen Spaß macht.

Sommer 2016 Neustart

Nachdem ich in Marburg mühselig die Wege gelernt und ich eine gewisse Sicherheit im Straßenverkehr erlangt hatte, sprach vieles für ein Studium an der Philipps-Universität. Mein Ziel war es jetzt, mich ausschließlich auf mein Studium konzentrieren zu können und mich den Herausforderungen, die meine Blindheit mit sich brachte, zu stellen.

Ich entschied mich für den Studiengang „Sprache und Kommunikation“, meine Alternative zu Publizistik. Die Inhalte wirkten attraktiv und interessant – die Studienberatung wusste mich zu begeistern. Aber machen wir es kurz: Der zu belegende Spanischkurs war überlaufen und ich scheiterte mit meiner Anmeldung. Meine Seminare zum wissenschaftlichen Arbeiten und Morphologie besuchte ich genau ein Mal und die Einführung in die Linguistik nur doppelt so oft. Ich merkte schnell an den online bereitgestellten Dateien, wie schwierig dieses Studium würde. Es war nicht möglich, eine Lehrbuchdatei von Jaws oder OpenBook anständig lesen zu lassen, weil überall Tabellen, Symbole und ähnliches eingebaut waren. Ich hatte meine Gesamtsituation völlig falsch eingeschätzt und wusste schnell: ohne Assistenz wird das nichts. Auch versäumte ich gleich zu Anfang des Semesters aufgrund einer Grippe – das Immunsupressiva lässt grüßen – die Einführungswoche. In der Studiensprechstunde wurde ich von einem Professor gefragt, warum ich nicht Jura, Geschichte oder Psychologie studiere, wie die meisten Blinden – er wollte mir nur helfen. Ich hatte keine Antwort auf diese Frage und verließ sein Büro wohl wissend, dass ich mit „Sprache und Kommunikation“ abgeschlossen hatte. So war der Oktober noch nicht vorbei, aber mein Studium war schon beendet.

Winter 2016

Erneut war da dieses Nichts, das mich zu verschlingen drohte. Aber in meiner neuen WG in Marburg lebten auch zwei Jura-Studentinnen. Ich begann, mit meiner Mitbewohnerin Vorlesungen zu besuchen und mir Gedanken nicht nur über meine berufliche Zukunft zu machen, sondern auch über mich selbst. Ich bemerkte, dass ich immer noch mit meinem Schicksal haderte und die Blindentechniken auch noch nicht wirklich angenommen hatte und anwendete. Auch hatte ich noch immer völlig unausgegorene Vorstellungen von meinen Möglichkeiten als Blinde. Und da waren da noch die Worte meines Professors: Jura, Geschichte und Psychologie sind von Blinden häufig gewählte Fächer.

Also habe ich mich nun dafür entschieden, das Jura-Studium, das ich zum Sommer­semester 2017 begonnen habe, als Selbst­findungsexperiment anzusehen – als eine Suche nach meinen Grenzen, Möglichkeiten, nach hilfreichen Anregungen und Ideen und neuen Bekanntschaften. Ich freue mich darauf und hoffe auf das Beste!
[Foto: Daniela Junge]