Zeitenwende

 - vom Leben nach der blista

Schule - von Bielefeld nach Marburg

Lena Hörster | Mit sechs Jahren wurde ich an der Opticus-Schule in Bielefeld eingeschult, einer Förderschule mit Schwerpunkt Sehen. Von Mitschüler*innen hörte ich immer wieder von der blista in Marburg mit ihrem Gymnasium und dem Internat. Da ich das Abitur erreichen wollte, bewarb ich mich zur fünften Klasse um einen Platz an der Carl-Strehl-Schule, stellte mich aber auch bei den Gymnasien in meiner Heimatstadt vor, falls es mit der blista doch nicht klappen sollte. An den Regelgymnasien vor Ort war man, bis auf eine Ausnahme, ängstlich bis unwillig, eine blinde Schülerin aufzunehmen, die nur noch über einen winzigen Sehrest verfügte. Da ich aber problemlos an der Carl-Strehl-Schule aufgenommen wurde, hatte sich die Sache mit den zögerlichen Regelschulen für mich erledigt. Seit der fünften Klasse wohnte ich fortan im Internat in Marburg und ging dort zur Schule. 2015 beendete ich meine Schullaufbahn mit dem allgemeinen Abitur.

FSJ - von Marburg nach Worcester

Nach dem Abitur war mir allerdings nicht danach, gleich wieder, diesmal in Hörsälen und Seminarräumen, die „Schulbank“ drücken zu müssen. Zudem wusste ich zum Zeitpunkt meines Abiturs noch nicht so richtig, wohin meine weitere Reise gehen sollte, deshalb entschied ich mich dafür, erstmal ein Jahr ins Ausland zu gehen. Da ich sprachinteressiert bin, bewarb ich mich bei der Organisation „Lattitude Global Volunteering“. Ich war spät dran und so gab es für mich nur noch zwei Stellen zur Auswahl, eine davon in Polen, die andere in England. Da ich nicht Polnisch spreche, fiel mir die Wahl leicht. Und so arbeitete und lebte ich ein Jahr lang als FSJlerin am New College Worcester, einer Schule mit Internat für sehbehinderte und blinde Schüler*innen im Alter von 11 bis 19 Jahren. Als blinde FSJlerin konnte ich natürlich nicht all das leisten, was von Sehenden erwarten wurde, auch konnte ich nicht in allen Bereichen eingesetzt werden. Folglich war ich gefragt, mir immer wieder Arbeitsbereiche eigenständig zu erschließen, wie z. B. die Inhalte, die im LPF-Unterricht erlernt wurden, später mit den Schüler*innen im Internatsalltag zu vertiefen. Kurz, das Jahr als FSJlerin erforderte von mir ein hohes Maß an Kreativität, Selbständigkeit und Offenheit – auch dabei, den eigenen Unterstützungsbedarf zu erkennen und zu kommunizieren. In Worcester habe ich auch wieder angefangen, Kampfsport zu machen, eine Sportrichtung, die ich früher bereits einmal ausprobiert hatte. Diesmal sollte es aber nicht so wettkampforientiert sein wie damals Judo, deshalb fiel meine Wahl auf die japanische Kampfkunst Aikido.

Alles in allem hat mir das Jahr in England gut gefallen, vielleicht auch gerade deshalb, weil es alle Facetten meiner Persönlichkeit ansprach und forderte – es war für mich eine ganzheitliche Trainingseinheit. Während meines Auslandsjahres hatte ich auch genügend Zeit, mir über meine weitere Zukunft Klarheit zu verschaffen. Ursprünglich hatte ich einmal den Traum, Medizin zu studieren. Ich wusste aber immer, dass das aufgrund meiner Blindheit mehr als schwierig werden würde. Deshalb fiel meine Wahl auf den Studiengang Psychologie. Hierbei interessierte mich ganz besonders die Neuropsychologie.

Studium – von Worcester nach …

Eigentlich wollte ich nicht wieder zurück nach Marburg. Mir war immer bewusst, dass eine Förderschule auch eine Art Schutzblase ist, in der man sehr behütet lebt, und dass man sich draußen, im echten Leben, selbst zu helfen wissen muss. Daher habe ich immer Wert darauf gelegt, mir Fähigkeiten und Fertigkeiten anzueignen, die ich für mein weiteres Leben brauchen würde - und Marburg hat eben diesen Ruf, blindengerecht und die "Blindenstadt" überhaupt zu sein. Ich wollte aber hinaus in die Welt gehen und sehen, wie es ohne dieses Netz ist, das einen immer wieder auffängt. Am Ende ist es dann aber doch Marburg geworden, schlicht und einfach deshalb, weil dort der Fachbereich Psychologie aus meiner Sicht das beste Studienprogramm im Schwerpunkt Neuropsychologie anbot. Seit dem Wintersemester 2016 studiere ich nun Psychologie in Marburg.

Little helper - geholfen bekommen und helfen

Lena Hörster zeigt an einem Dummy die Herzdruckmassage

Im Studium arbeite ich mit PC, Tablet und Braillezeile. Ich habe auch eine Vorlesekraft, die mir meine Unterlagen für das Studium aufbereitet, indem sie zum Beispiel Bücher für mich einscannt. Das ist sehr hilfreich, da gut aufbereitete Materialien wirklich einen Vorteil bringen. Natürlich kann man Texte mit der richtigen Software auch selbst digitalisieren, aber es ist eben nicht ganz dasselbe, da die Vorlesekraft z. B. Bildbeschreibungen mit einbauen kann.

Schon zu Beginn meines Studiums habe ich festgestellt, dass mir Statistik sehr liegt, und dass ich damit unter meinen sehbehinderten Kommiliton*innen, von denen es am Fachbereich nicht wenige gibt, eher eine Ausnahme bildete. Ich erkannte schnell den großen Bedarf für ein Tutorium in Statistik für Studierende mit Seheinschränkung, da Statistik in den regulären Tutorien nicht mit Mehrwert für die seheingeschränkten Teilnehmer*innen vermittelt wurde, da sie nicht barrierefrei waren. Deshalb habe ich mit Unterstützung meines Statistik-Professors ein barrierefreies Statistiktutorium für die Arbeitsgruppe Methodenlehre entwickelt, das ich seitdem leite. Das bedeutet für mich, dass ich das Tutorium vorbereiten und durchführen muss, indem ich die Hausaufgaben für die Teilnehmer*innen in aufbereiteter Form zur Verfügung stelle, damit diese die Aufgaben überhaupt bearbeiten können. Außerdem stehe ich den Teilnehmer*innen bei Problemen zur Seite und vermittle ihnen auch den Umgang mit der Statistiksoftware und Hilfssoftware.

Studium - Innenansichten

Der Fachbereich Psychologie ist auf Studierende mit Einschränkungen gut eingestellt. Es gibt extra eine beauftragte Person für diese Studierenden, die u. a. alle relevanten Informationen sammelt, weitergibt und sich mit Verwaltung und Lehrenden austauscht, wenn es z. B. um geeignete Unterstützungsmaßnahmen geht. Bei ihr läuft alles zusammen, so dass nicht in jedem Fall das Rad neu erfunden werden muss.

In der Regel werden die Materialien für Seminare und Vorlesungen in digitaler Form zur Verfügung gestellt. Es werden auch immer wieder Tutorien eingerichtet, wie meines in Statistik, die spezielle Bedürfnisse bei der Vermittlung von Lehrinhalten (bildliche Darstellungen etc.) berücksichtigen. Und natürlich gibt es noch die Servicestelle für behinderte Studierende der Uni Marburg, die u. a. beim Stellen von Anträgen (z. B. für eine Vorlesekraft) berät und Hilfestellung leistet. Natürlich gibt es auch an meinem Fachbereich immer wieder herausfordernde Situationen mit Dozenten, die z. B. plötzlich Bedenken äußern, wenn man als blinde Studierende eine Klausur am eigenen Computer schreiben will, da man ja theoretisch den Inhalt kopieren und anderen zur Verfügung stellen könnte. Damit muss man umgehen lernen und vor allem Ruhe bewahren, damit eine für alle zufriedenstellende Lösung gefunden werden kann.

Szene aus einem Erste-Hilfe-Kurs: Die Hand einer liegenden Person wird verarztet

Nachdem ich, wie alle Studierenden, die Einführung in die vier Schwerpunkte des Fachbereichs (Arbeits- und Organisationspsychologie, Kinder- und Jugendpsychologie, klinische Psychologie und Neuropsychologie) durchlaufen hatte, wählte ich die klinische Psychologie und die Neuropsychologie zu meinen beiden Schwerpunktfächern.

Bis März 2020 lief in meinem Studium eigentlich alles nach Plan, dann kam die Coronapandemie und damit hatte ich ein kleines Problem. Rein vom Studium her, also dem Aneignen von Inhalten, war das kein großes Ding. Alles lief online am Computer und über Videokonferenzen, das hat mich nicht weiter gestört oder eingeschränkt, außer natürlich die fehlenden sozialen Kontakte, aber damit kann man eine Zeit lang leben. Mein Problem war, dass ich geplant hatte, einen experimentellen Bachelor zu schreiben. Dazu wollte ich Experimente mit Menschen im Labor machen – und das macht die Pandemie nun schwierig bis unmöglich. Also musste ich die Versuche für meine Bachelorarbeit so umstellen, dass sie auch online funktionierten, was mich letztlich ein ganzes Semester kosten wird. Hoffentlich nur dieses eine, denn das gab es aufgrund der Pandemie als Freisemester – die Zukunft wird es zeigen.

Was den weiteren Verlauf meines Studiums angeht, gibt es für mich noch einige Fragezeichen. Gerade in der Neuropsychologie sind die visuellen Aspekte nicht zu vernachlässigen, während in meinem zweiten Schwerpunkt, die klinische Psychologie, teure Weiterbildungen erforderlich sind, um ihn erfolgreich abschließen zu können. Ich bin also gespannt was die weitere Zukunft bringen wird. Ich denke zum Beispiel über einen beruflichen Werdegang in der psychologischen Forschung nach.

Und sonst noch:

Lena Hörster mit Sanitäterjacke neben einem kindergroßen Playmobil-Sanitäter

Neben dem Studium bin ich ehrenamtlich im Roten Kreuz tätig, als Ausbilderin für Erste Hilfe und in der Bereitschaft sowie im Jugendrotkreuz auf Orts- und Kreisebene. Ich habe eine Jugendleiterausbildung absolviert, um im Jugendrotkreuz als Gruppenleiterin tätig sein zu können. Außerdem habe ich eine Sanitätsausbildung durchlaufen, nach meinem Auslandsjahr mein Wissen durch Lehrgänge aufgefrischt und dann noch ein bisschen was draufgesattelt mit dem Ziel, Erste-Hilfe-Ausbilderin zu werden. Wir bieten auch einmal im Jahr einen Kurs für Teilnehmer*innen mit Seheinschränkung an. Überwiegend bin ich aber in der regulären Breitenausbildung tätig, da sich der Ausbilderschein für einen Kurs im Jahr nicht wirklich lohnt. Seitdem halte ich 2 bis 3 Kurse im Monat und bringe betrieblichen Ersthelfer*innen, Helfer*innen der Feuerwehr, Menschen, die ihren Führerschein machen wollen oder Lehramtsstudierenden das Thema Erste Hilfe nah. Bei meiner ehrenamtlichen Arbeit bin ich froh, immer wieder auf Menschen zu stoßen, die bereit sind, auch mal etwas Ungewöhnliches auszuprobieren und mit einer blinden Person in diesem Bereich zusammenzuarbeiten.

Dabei ist es wichtig, die eigenen Grenzen zu kennen und sie zu kommunizieren. Diese Ehrlichkeit mir selbst und anderen gegenüber hat es mir ermöglicht, meine Grenzen mit etwas Kreativität immer weiter auszudehnen, aber auch zu akzeptieren, dass meine Blindheit mir Grenzen setzt. Eigene Erfahrungen zu sammeln ist enorm wichtig für mich. Nur so kann ich auch den Umgang mit Rückschlägen, mit Frustration, lernen und nach neuen Wegen suchen, wie etwas doch noch gelingen kann.