Erste Schritte im Dunkeln
Von Sophie Sommer | Wie soll man sich zurechtfinden, wenn auf einmal der wichtigste Sinn fehlt? Nina Junge steht mitten im Leben, als sie erblindet. Jetzt lernt sie, damit zurechtzukommen.
Rauschen. Ein Brummen, das immer lauter wird. Es riecht nach Abgasen und frittiertem Fett. Vielleicht wird in der „Taverna Korfu“ schon gekocht? Irgendwo in der Ferne ein Knallen. Wahrscheinlich eine Autotür. Plötzlich kalte Tropfen im Gesicht. Schneeflocken.
Das ist die neue Welt von Nina Junge. Diese Welt ist dunkel. Und sie ist laut. „Das Wetter heute ist grausam. Bei Schneeregen ist alles noch viel lauter als sonst“, sagt Junge. Gleichmäßig schwingt sie ihren Blindenstock vor sich her. Links, rechts. Links, rechts. Bis der Stab sich zwischen Mauer und Straßenlaterne verfängt. „Der Vorführeffekt“, sagt sie und lacht. Elmar Brathe, der wenige Meter hinter ihr geht, eilt zu ihr, befreit den Stock und spannt einen Schirm über Junge. Zweimal in der Woche sind die beiden zusammen in Marburg unterwegs. Brathe ist Mobilitätslehrer der Deutschen Blindenstudienanstalt (blista), Junge seit diesem Sommer seine Schülerin. Heute soll sie alleine den Weg zu einer Bushaltestelle finden. Die Orientierung fällt ihr nicht leicht. Als Späterblindete muss ihr Gehör sich noch sensibilisieren.
Junge arbeitete als Arzthelferin in einer Praxis bei Mainz, wo sie mit ihrer Tochter lebte, als sie merkte, dass mit ihren Augen etwas nicht stimmte. „Auf einmal habe ich alles bläulich gesehen“, sagt sie. Trotz zahlreicher Arztbesuche erblindete vor knapp 20 Jahren ihr linkes Auge. „Wenn man schon so oft wie ich einen Sehtest gemacht hat, weiß man, wann man den Punkt erkennen sollte. Aber shit, da kam einfach nichts“, erinnert sie sich. Nach jahrelangem Hin und Her schwindet auch die Sehkraft des rechten Auges. Seit einem Dreivierteljahr ist die heute 44-Jährige blind.
Das zentrale Nervensystem löste bei ihr die Entzündungen am Sehnerv aus. Die häufigsten Gründe für eine späte Erblindung sind Augenkrankheiten, chronische Krankheiten und Unfälle. In Marburg, Deutschlands „Blindenhauptstadt“, bietet die blista mit der blindentechnischen Grundrehabilitation (BtG) ein Programm an, in dem zurzeit zehn Menschen betreut werden. Sie sind zwischen 15 und 59 Jahre alt. „Es geht nicht darum, dass sie ihre Situation vollkommen akzeptieren“, sagt BtG-Leiterin Annette Stelker.
Junge lernt die Blindenschrift und viele alltägliche Dinge – etwa den Haushalt zu machen. „Das strengt unglaublich an, weil alles über das Fühlen geht. Besonders beim Putzen habe ich Probleme, von den vielen Drehungen wird mir schwindelig“, sagt sie. Im Sportunterricht soll sie sich frei bewegen. Sie streckt die Arme Richtung Decke und macht einige Schritte fort von der Turnhallenwand. „Wo seid ihr denn alle?“, ruft sie nach wenigen Metern. Gelächter mischt sich mit „You’re a sex bomb“, das aus dem CD-Player tönt. „Du musst noch mindestens 20 Schritte gehen“, antwortet der Sportlehrer. Junge streicht sich eine Strähne ihrer kurzen, dunkelbraunen Haare aus dem Gesicht. „Rennen traue ich mich einfach nicht. Die Angst, irgendwo gegen zu laufen, ist zu groß.“ Diese Angst hindere sie auch daran, öfter ihre Freunde zu treffen, die gerne wandern gehen oder Fahrrad fahren. „Ich will nicht sagen, dass ich meine Freunde verloren habe, aber ich suche eher den Kontakt zu Blinden.“
Am Nachmittag sitzt sie erschöpft am Holztisch ihres Einzimmerapartments, in dem sie während der BtG lebt. Sie hält Ordnung, damit sie immer alles findet. Heute Morgen musste sie ihre Sportschuhe suchen, die Putzfrau hatte diese umgestellt. Fast wäre Junge zu spät zum Unterricht gekommen. Im Wandregal steht ein Bild mit bunten Farbtupfern, das sie selbst gemalt hat. „Ich weiß zwar noch, wie Farben aussehen, aber es wird immer verschwommener. Wenn mir jemand sagt, wie toll das Bild aussieht, ist das sehr frustrierend.“ Sie hält inne, redet nur stockend weiter: „Das sind so Situationen, in denen ich denke: Scheiße. Ich werde ja zum Beispiel auch meine Tochter nie im jugendlichen Alter sehen.“
Darüber, wie ihre gemeinsame Zukunft aussehen soll, macht Junge sich viele Gedanken. Fest steht: Wenn die BtG in einem halben Jahr endet, will sie unbedingt wieder arbeiten – am liebsten für „discovering hands“. Das Unternehmen bildet blinde Frauen aus, die Arztpraxen bei der Brustkrebsvorsorge unterstützen. Junge holt eine Schnur, an die Kugeln gebunden sind, aus ihrer Jackentasche. „Die Kugeln zeigen Tumore in verschiedenen Stadien. Wir können schon die kleinste Kugel erfühlen, lange vor den Ärzten. Unser Tastsinn ist halt viel ausgeprägter. Man muss die Erblindung eben zur Stärke machen.“
Foto: Monika Scholz-Prieler