LPF-Elternseminar bei der blista-Rehabilitation in Marburg

Knapp 20 Personen sitzen in der Runde an Tischen

Caroline Breysach und Jonas Heese­ * | Einer nach dem anderen setzt die Augenbinde auf und wird in einen Nebenraum geführt. Am Ende sitzen alle Eltern in zwei Gruppen am Frühstückstisch. Mitarbeiter der blista stehen im Hintergrund bereit, um größere Unfälle zu verhindern, halten sich aber sonst zurück. Am Tisch wird derweil geschäftig getastet und lautstark berichtet, welche Dinge man in der näheren Umgebung gefunden hat. Riechen an Gläsern mit Honig und Marmelade, Käse- und Wurstplatten identifizieren, Kaffee, Tee und Milch, alles gibt es irgendwo.

Meine erste Aufgabe: Kaffee! Mit dem Finger in der Tasse versuche ich zu fühlen, wann genug Kaffee drin ist. Die Wärme, die der Kaffee ausstrahlt müsste ja reichen, um die Tasse nicht zu überfüllen und sich trotzdem die Finger nicht zu verbrennen.
Dann noch einen guten Schuss Kondensmilch hinterher. Am Ende war auf dem später gezeigten Video gut erkennbar, dass zu einer kleinen Pfütze Kaffee nochmal genauso viel Kondensmilch kam – so hat es dann auch geschmeckt.

Knapp 20 Personen sitzen in der Runde an Tischen

Benötigt jemand etwas, sagt er dies einfach in den Raum. Brötchen, Aufschnitt und anderes wird dann von demjenigen, der eine Ahnung hat, wo das gewünschte Ding steht, angereicht. Natürlich, wie bei Sehenden üblich, einfach über den Tisch. Der Empfänger rührt darunter in der Luft, auf der Suche nach der Käseplatte. Auch dies sehr gut eingefangen von der Videokamera im Hintergrund.

Die Nachbesprechung ist deutlich geprägt von unseren Eindrücken und viel Gelächter. Alles gar nicht so einfach. Zwar wird jeder satt, aber der Aufwand ist deutlich höher. Viele haben sich auch zurückgenommen und aufwändige Frühstücksprojekte nicht gestartet.

Nachdem wir nun alle herzlich über uns selbst im entstandenen Video gelacht haben, werden in einer Tabelle die unterschiedlichen Herausforderungen erfasst. Frau Burghof beginnt dann mit einer praktischen Präsentation von LPF-Techniken am Esstisch. Ziemlich knackig zeigt sie bewährte Techniken: Wie halte ich die Hände, wenn ich am Tisch nach den vorhandenen Gegenständen schaue? Wie halte ich Ordnung? Wie arbeite ich mit Messer und Gabel, wie kommt die Butter auf das Messer und dann aufs Brot? Wie bekomme ich Käse von einer Käseplatte ohne ein Hygienerisiko für den Rest der Mitessenden zu werden? Kurzum: es wird klar, wie wenig wir als Eltern blinder Kinder selbstständig in der Lage waren, unsere angewöhnten Sehenden-Techniken anzupassen. Erfahrene Reha-Lehrer bringen hier einen immensen Erfahrungsschatz mit. Ich hätte nun gerne ein zweites Frühstück veranstaltet, einfach um den Unterschied zu erleben. Dies war aber leider zeitlich nicht möglich.

Eine junge Frau versucht, sich unter der Augenbinde mit dem Würfeln vertraut zu machen.

Im folgenden Verlauf hat uns Herr Dr. Hecker in einem schönen Vortrag näher gebracht, wie wir unseren Kindern am besten in die Selbstständigkeit helfen können. Wichtige Stichwörter waren hier z. B. das „Prinzip der kleinen Schritte“ – Einzelschritte üben, bevor man die Teilschritte zur komplexen Tätigkeit zusammensetzen kann, und vor allem die „Handlungsanalyse“. Diese sieht vor, dass man sich – unter der Augenbinde – erstmal selbst klar macht, welche Handgriffe für gewisse Tätigkeiten in welcher Reihenfolge nötig sind. Wir waren erstaunt zu hören, dass selbst die erfahrenen LPF-Lehrer der blista immer wieder die Augenbinde verwenden, um rauszufinden, wie man als blinder Mensch eine Tätigkeit am besten und ohne Unfall leisten kann. Als Eltern blinder Kinder, so sagt Dr. Hecker, sollten wir ebenfalls immer wieder Eigenerfahrungen sammeln, um am eigenen Leib erfahren zu können, was genau eine bestimmte Tätigkeit von unseren Kindern abverlangt.

In Kleingruppen wurde dieses auch gleich ausprobiert. So entstanden Handlungsanalysen für die Tätigkeiten Pullover anziehen, Knopf schließen, Schuhe binden und mit dem Löffel essen. In allen Kleingruppen ist hierbei aufgefallen, dass
1.    jeder es ein wenig anders macht, und vor allem, dass
2.    man es meistens anders machen würde, wenn man sehen könnte.

Wir haben also sehr eindrücklich gelernt, dass wir, obwohl wir natürlich alle selbstständig unseren Pullover an- und ausziehen konnten, es deswegen noch lange nicht unseren Kindern beibringen konnten.

Im dritten Block ging es um die Erleichterung des Alltags mit blindem Kind. Welche Markierungen können meinem Kind helfen, gewisse Tätigkeiten alleine ausführen zu können? Wie kann ich die Küche gestalten, damit mein Kind unfallfrei beim Kochen helfen kann? Wie kann man Geldstücke/ Scheine unterscheiden und welche Hilfsmittel erleichtern das Leisten einer Unterschrift?

Unter Anleitung machen 2 Teilnehmende Erfahrungen mit dem Spiel Mensch-ärgere-Dich-nicht

Zum Schluss durften wir alle noch ein paar Spiele unter der Augenbinde testen und so selbst erfahren, auf was man achten sollte, und haben gelernt, wie man mit einfachen Mitteln Spiele für unsere Kinder adaptieren kann.

Den Abschluss des Seminars bildete Dr. Michael Richter von der RBM. Er gab uns – wie immer sehr versiert – Tipps zur Beantragung von LPF- und Mobilitätstraining und beantwortete auch sonst so manche Frage rund um das Recht unserer Kinder.

Die blista plant, dieses Seminar nun alle zwei Jahre abzuhalten und wir anwesenden Eltern waren uns einig, dass es äußerst hilfreich und unbedingt empfehlenswert für alle Menschen ist, die in irgendeiner Art mit blinden Kindern zu tun haben.

Herzlichen Dank an die Rehabilitationseinrichtung für Blinde und Sehbehinderte (RES) Marburg sowie an Herrn Dr. Richter von der RBM für diese schön gestaltete und lehrreiche Fortbildung.
[* Fortbildungsteilnehmer]