Zeitenwende - vom Leben nach der blista

Skyline

Florian Siebachmeyer, Abitur 2014

Ich mach‘ Urlaub!

Was sich im ersten Moment nach Sonnenbaden, Sandstrand, Meeresrauschen und Erholung anhört, gehört für mich seit Abschluss des Abiturs im Juni 2014 zum Berufsalltag. Ich mache keinen Urlaub, bei dem ich unter der Sonne über dem Mittelmeer brate. Nein. Ich mache den Urlaub, den der Erholungssuchende später im Reisebüro oder im Internet buchen kann. Zumindest trage ich zusammen mit meinem Team einen Teil dazu bei. Ich bin ausgebildeter Tourismuskaufmann bei einem mittelgroßen Reiseveranstalter in Frankfurt am Main. Doch ganz von vorn …

Studium – Ja? Nein? Vielleicht?

Irgendwie konnte ich mich während meiner Schulzeit an der blista nie wirklich mit dem Thema Studium anfreunden. Das lag nicht an meiner Sehbehinderung, sondern vielmehr daran, dass ich etwas lernen wollte, was mir ermöglicht, finanziell relativ schnell auf eigenen Beinen zu stehen und auch einen gewissen Praxisanteil enthielt. Ein Studium hätte viel Engagement und vor allem Zeit erfordert, die ich zu diesem Zeitpunkt nicht aufbringen wollte, auch wenn mich die Inhalte vielleicht brennend interessiert hätten. Das Thema „Studium“ liegt selbst jetzt noch in der Schublade: „Vielleicht später!“

Also befasste ich mich schon früh mit der klassischen Berufsausbildung. Hier kam es nun darauf an herauszufinden, was mich interessierte und was ich im Rahmen meiner visuellen Möglichkeiten überhaupt leisten kann. Das konnte ich in der 10. Klasse während eines zweiwöchigen Praktikums gleich mal testen. Ich probierte mich wegen meines Interesses für die Fliegerei, für Kulturen und für andere Länder im Reisebüro aus. Da mir der Umgang mit Kunden, mit den Kollegen und mit der erforderlichen Technik Spaß bereitete, entschloss ich mich bereits zu diesem Zeitpunkt, in die Tourismusbranche zu gehen.

Wer suchet, der findet.

Ich war noch mitten im Schulalltag der 12. Klasse, da durchforstete ich sämtliche Lehrstellenbörsen, Jobportale und Webseiten, die Suchenden Ausbildungsplätze aller Art nur so um die Ohren hauen. Ich schrieb schon verhältnismäßig früh eine ganze Reihe an Bewerbungen, da ich mir keinen Plan B in Form eines Studiums oder Auslandsjahrs zurechtgelegt hatte. Es dauerte nicht lange, da machte sich ein klein wenig Frust breit. Ich werde mit Abitur die Schule verlassen, die Noten waren zwar nicht die allerbesten, aber in den Bereichen, die meine gewünschte Branche größtenteils forderte, waren sie gut. Damals war im Tourismusbereich noch ein Realschulabschluss üblich. Trotzdem trudelten nach und nach nur Absagen herein. Soll ja alles ganz normal sein. Irgendwann fing ich dann an, branchenübergreifend eine Lehrstelle zu suchen: Industrie, Groß- und Außenhandel, Spedition und Personaldienstleistung. Die Bereiche hatten durchaus ihre inhaltlichen Highlights und man hätte schnell selbst verdientes Geld.

„Wir laden Sie herzlich ein…“

Im Januar 2014 war es dann soweit. Ein Spediteur aus dem Raum Frankfurt lud mich zum ersten Bewerbungsgespräch überhaupt ein. Spoiler: Es sollte nur noch ein weiteres folgen. Ich lieferte gar nicht so schlecht ab und wusste sogar, wie die Hauptstadt von Australien heißt. Fun Fact: Es ist nicht Sydney. Doch als man dann so ins Gespräch kam, ist beiden Seiten irgendwie klar geworden: „Nein, das klappt nicht, kein Führerschein vorhanden.“ Die durchaus ausführliche Information, dass ich von Geburt an sehbehindert bin, an einem Nystagmus und grauem Star leide, der meine Sehkraft um ein Wesentliches reduziert, ich aber – abgesehen von einer Lupe – ohne weitere Hilfsmittel zurechtkäme und sich der Krankheitsverlauf stabil verhält und nicht von einer Verschlechterung in den kommenden Jahren auszugehen ist – wurde  von meinem potentiellen Arbeitgeber schlichtweg überlesen. Einen Führerschein ließ selbst die Stellenanzeige vermissen. Aber was soll’s, ich war bereit für weitere Gespräche.

Im April 2014, wenige Wochen nach Abschluss der schriftlichen Abiturprüfungen erhielt ich eine Antwort eines Reiseveranstalters, der sich seinerzeit auf Reisen nach Ägypten spezialisierte, mit einer Einladung zum Vorstellungsgespräch.

Also dann: „Herzlich willkommen!“

„Bingo!“, dachte ich mir. Tourismus, Reiseveranstaltung, Frankfurt. Ich habe eine Chance auf eine Ausbildung in der gewünschten Branche, zudem in einem Bereich, der mich mehr reizt als nur die Vermittlung von Reisen im direkten Kundenkontakt. Das Aufgabenfeld bei Reiseveranstalter ist dagegen vielseitiger. Ich würde lernen, wie ein Reisekatalog entsteht, wie sich einzelne Leistungen zu einer Reise zusammenfügen, welche Partner dabei eine Rolle spielen und wie das Produkt letztlich an den Urlauber kommt. Alles klar.

Also fuhr ich in die Frankfurter Innenstadt und stellte mich vor. Ich bekundete mein Interesse an der Branche und man stellte mir die einzelnen Aufgaben während meiner Ausbildung vor. Ich würde während meiner Ausbildung alle relevanten Stationen eines Reiseveranstalters kennenlernen können. Die Atmosphäre während des Gesprächs war locker und sehr freundlich. Als meine Sehbehinderung angesprochen wurde, hat man sogar den Kollegen aus der IT in den Konferenzraum geholt, um sicherzustellen, dass jeder einzelne Arbeitsplatz, egal in welcher künftigen Abteilung, auf meine Bedürfnisse angepasst werden kann. Ein sehr positives Signal. Ich schien überzeugt zu haben, da man mir am Ende per Handschlag den Ausbildungsplatz anbot, den ich dankend annahm. Ein Glücksgefühl! Wenig später habe ich den Vertrag dazu unterschrieben und konnte mich auf meine Zukunft in Frankfurt vorbereiten.

Leben und Arbeiten „Im Herzen von Europa“

So klangvoll die erste Zeile der Vereinshymne von Eintracht Frankfurt klingt, so hartnäckig halten sich die Klischees von Kriminalität, Rotlicht und trister Bankenmetropole, in welche es mich nun verschlagen hat. Ich begann mit der Wohnungssuche und wollte so nah wie möglich an der Innenstadt und an meinem Arbeitsplatz wohnen. Ich fand schnell eine kleine Wohnung am Stadtrand mit guter Anbindung ins Zentrum von Mainhatten, sodass ich einen unerwartet angenehmen Start in die Zeit nach der blista hatte, denn wichtig für mich als Mensch mit Behinderung ist es, sich immer selbstständig von A nach B, weiter nach C, zurück nach A und anschließend nach D zu bewegen. Ich wollte auf niemanden angewiesen sein, weder im Alltag noch dann, wenn ich liebgewonnene Freunde aus blista-Tagen in ganz Deutschland oder meine Familie in Nürnberg besuchen wollte. In Frankfurt bin ich mittlerweile rund um die Uhr mobil. Das Netz aus U-, S-, und Straßenbahn erreicht fast jeden Winkel der Stadt und sogar des Umlands. Ich komme sogar raus ins Grüne ohne Auto. Hinzu kommt, dass hier immer irgendwas los ist, und mich die Stadt bis heute nicht langweilt.

Lehrjahre

Etwa vier Wochen nach dem Abi begann meine zweieinhalb Jahre dauernde Ausbildung zum Tourismuskaufmann. Ich arbeitete das erste halbe Jahr in der Buchhaltung des Unternehmens, dort hatte ich erstmals schriftlichen und telefonischen Kontakt mit Kunden, musste mich auch mit zahlungsunwilligen Kunden auseinanderzusetzen und den Schriftverkehr für unsere Rechtsabteilung vorbereiteten. Weitere sechs Monate verbrachte ich mit der Betreuung der treuesten Kunden, die Mitglied des hauseigenen Stammkundenprogramms sind. Dort lernte ich viel über den Stellenwert und die Vermarktung der eigenen Hotelkette am Roten Meer kennen und bearbeitete die Wünsche und Anfragen unserer Stammkunden per E-⁠Mail. Die nächste Station war die Flugdisposition, ein wesentliches Kernstück eines Reiseveranstalters. Jeder Flug, den der Kunde pauschal oder ohne Hotelleistung bucht, wird hier eingekauft, im Reservierungssystem angelegt, für den Verkauf kalkuliert und über technische Schnittstellen für Kunden über jegliche Vertriebskanäle buchbar gemacht. Ich lernte die Eigenheiten des Chartergeschäfts, die Arbeitsweisen sämtlicher Airlines und den Preiskampf auf dem Markt so richtig kennen und konnte aktiv am Geschehen in den verschiedensten Aufgabenbereichen teilnehmen und wurde trotz meiner Sehbeeinträchtigung gut in alle Teams, die ich während meiner Ausbildungszeit unterstützen durfte, integriert. Von Berührungsängsten, die meine Einschränkung betrafen, keine Spur. Jeder wusste allmählich, dass, wenn ich zuschaue, nur die Excel-Tabelle größer gestellt, der Bildschirm näher herangezogen oder einfach nur die Farben auf dem Schirm umgekehrt werden müssen. Und entgegen meiner Befürchtungen oder Zweifel, hatten sowohl Kollegen als auch die Vorgesetzten keine Bedenken, dass ich ihnen durch falsch gelesene Zahlen die Arbeit verhagele. Ich habe mir angewöhnt, jedes Ergebnis, jede Eingabe und jeden Euro noch mal zu überprüfen, um sicherzugehen, dass ich alles genauso bearbeitet habe, wie meine sehenden Kollegen auch. Bisher ist mir das sehr gut gelungen und habe mit den Jahren so viel Routine entwickelt, dass die Handgriffe viel lockerer und sicherer sitzen.

Mit der Zeit in der Produktabteilung, wo ich in die Verwaltung unseres Hotelportfolios im Reservierungssystem, in die Verwaltung von Text- und Bildmaterial für die Webseite und Online-Buchungsportale eingearbeitet wurde, endete das muntere Abteilungsschnuppern. Dann nach rund zwei Jahren, im Schlussspurt der Ausbildung, kam man auf mich zu und bot mir an, auch nach meiner Ausbildung im Unternehmen zu bleiben und eine Stelle in der Flugdisposition anzutreten. Da ich die Aufgaben, das Team und die Herausforderungen bereits kannte und die Zeit als besonders lehrreich und interessant empfunden hatte, war ich gern bereit, mich in diesem Bereich weiterzuentwickeln.

Schulbankdrücken

Die Entscheidung gegen ein Studium und für eine Ausbildung in dualer Form, wie sie in Deutschland üblich ist, ist auch eine Entscheidung für das Schulbankdrücken in der Berufsschule. Es dauerte ein wenig, bis ich mich an die Klassenstärke von 30 Schülern gewöhnt hatte, denn bis dahin saß ich mit maximal 8 weiteren Schülern und einer Lehrkraft im Raum. Ich merkte schnell, wie behütet man in Marburg war und bekam nun einen Einblick in die Welt „da draußen“, außerhalb der blista. Unterrichtsmaterial in kleiner Schrift auf Recycling-Papier, kein Laptop, keine Individualität, wenig Engagement auf Seiten der Lehrer und meiner Meinung nach eine niedrige Unterrichtsqualität gehörten zum Schulalltag. Ich konnte mich glücklich schätzen, dass ich mit meinem Sehvermögen und mit nur wenigen Hilfsmitteln noch ganz gut zurechtkam. In der Schule brauchte ich nur meine Lupe. Ich saß vorne und konnte am Overhead-Projektor und an der Tafel noch halbwegs folgen, aber man bewegte sich hier weit weg von blista-Standards. Umso wichtiger empfinde ich es heute, dass man sich nicht in seiner Komfortzone verliert und auch die Gegebenheiten kennenlernt, in denen man sich auf eigene Faust durchboxen muss.

Schließlich rückte die Abschlussprüfung der IHK näher. Da ich meine Sehschwäche gut einschätzen konnte, verzichtete ich auf Schreibzeitverlängerung und andere Hilfen, meldete meinen Freund, die Lupe, zur Prüfung an und bestand mit ganz passablem Ergebnis im Winter 2016 meine schriftlichen und im Januar 2017 schließlich noch die mündliche Prüfung.

Ready for Takeoff

Seit dem Ende der Ausbildung arbeite ich als einer von sieben Flugdisponenten, die dafür sorgen, dass unser Reisegast zu dem Sonnenziel seiner Wahl fliegen kann. Ich schaue mir an, wie gut oder wie schlecht einzelne Strecken in der Saison ausgelastet sind, ich beobachte den Flugmarkt und prüfe, was die Konkurrenz macht, kommuniziere mit Airlines und versuche, an buchungsstarken Terminen mehr Kontingent zu bekommen und ein risikobehaftetes Kontingent möglichst ertragreich im Zusammenspiel mit unserem Hotelprodukt an den Mann, an die Frau und an das Kind zu bringen. Kein Tag ist wie der andere.

Fluglotsenstreiks, Insolvenzen, politische Unruhen, Unwetter, Vulkanausbrüche, verspätet gelieferte Flugzeuge, Flughafenschließungen, und, und, und … All das kann unseren Tag beeinflussen und erfordert oft Geduld und starke Nerven. Es wird einfach nicht langweilig. Heute bin ich im Berufsleben angekommen, aber die Zeit in Marburg, in der ich den Umgang mit meiner Sehbehinderung weiterentwickeln konnte und sich mir durch die Schule und im WG-Leben neue Wege eröffnet haben, möchte ich nicht missen – und natürlich bin ich stolz darauf, in einer so schnelllebigen Arbeitswelt mit meiner nicht unwesentlichen Einschränkung bestehen zu können.