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heute: Herr W unterwegs auf dünnem Eis
von Winfried Thiessen
Prolog:
“Wer kraft Gesetzes zur Führung der Aufsicht über eine Person verpflichtet ist, die wegen Minderjährigkeit oder wegen ihres geistigen oder körperlichen Zustands der Beaufsichtigung bedarf, ist zum Ersatz des Schadens verpflichtet, den diese Person einem Dritten widerrechtlich zufügt. Die Ersatzpflicht tritt nicht ein, wenn er seiner Aufsichtspflicht genügt oder wenn der Schaden auch bei gehöriger Aufsichtsführung entstanden sein würde.“ § 832 Nr.1 BGB
„Wo ist Ihre Begleitung?“ – Beschützerinstinkte, die keiner braucht*
Da stand er nun, der Herr W, mit seinen Pubertären im Fort Fun und inspizierte das riesige Riesenrad und freute sich insgeheim schon auf den Kaffee im Westernsaloon - soll die junge Generation ruhig ohne ihn in dem großen Laufrad ihre Runden drehen, dachte er sich. So einfach und schön hätte es werden können - er wäre fort und sie hätten ihren Fun. Den heißen Kaffee im Sinn, aber noch nichts Konkretes in der Hand, hörte er plötzlich jemanden ermahnend fragen: „Wo ist denn eure Begleitung?!!“
Herr W musste sich eingestehen, dass er damit gemeint sein könnte, da er ja quasi von Berufs wegen das personifizierte "B" im Schwerbehindertenausweis seiner Zöglinge war, die aber mittlerweile wohl alt genug sein mussten, um alleine Riesenrad fahren zu können. So jedenfalls war seine, wie sich schnell herausstellen sollte, etwas naive Meinung, die er auch sofort kundtat, aber nicht von allen geteilt wurde, jedenfalls nicht vom Einlassbevollmächtigten dieses Fahrgeräts. Vorschrift sei Vorschrift, entgegnete der ihm, als Herr W zu erklären versuchte, dass das "B" im Schwerbehindertenausweis nur besagt, dass der blinde Mensch ein Recht auf eine Begleitung hat – aber keinesfalls verpflichtet ist, immer eine dabei zu haben. Und, so Herr W belehrend weiter, auch wenn er als pädagogisches Personal eine gewisse Verantwortung für seine Schützlinge trüge, so denke er doch im Traum nicht daran, 16-Jährigen beim Riesenrad-Fahren das Händchen zu halten.
Und dann wollte er noch empört von dem Herrn wissen, ob man im tiefsten Sauerland denn noch nie etwas von Inklusion, von Teilhabe und Teilnahme, gehört habe. Inklusion - oder was auch immer - hin oder her, selbst wenn alle hier volljährig wären, wäre es ihm egal, so die Aufsicht energisch, ein blinder Mensch nur mit sehender Begleitung, sonst bräuchten sie sich erst gar nicht anzustellen in die Schlange vor dem Riesenrad, bekam Herr W um die Ohren gehauen. Er, also Herr W, wäre vollumfänglich verantwortlich für die Pubertären, falls es, was man ja nicht hoffe, zu einer Störung im Betriebsablauf käme. Auf den Einwand von Herrn W, was denn schon bei einem Riesenrad groß passieren könne, wurde nur mit der Schulter gezuckt und grinsend erwidert: „Mitgegangen, mitgehangen! Vorschrift ist Vorschrift! Gesetz ist Gesetz, und wir wollen keine schlechte Presse.“
Augenblicklich wurden die Beine von Herrn W weich, das lag zuvörderst daran, dass er von seinem gegenwärtigen Standort einen guten Überblick über die Fahrgeschäfte des Freizeitparks hatte. Das nächstgelegene Gerät war ein Kettenkarussell, also so eine Art Salatschleuder, in der man den Fliehkräften wehrlos ausgeliefert war und das Innere nach außen drängt. Aber hatte er eine Wahl?
Sollten seine Pubertären von Teilnahme und Teilhabe ausgeschlossen bleiben, den Weg ins Sauerland umsonst angetreten sein? Herr W fürchtete ihre Reaktion, bestieg mit ihnen die Gondel und schon ging es los. Zunächst langsam immer ein Stückchen höher hinauf, während unten weitere Unternehmungslustige die Gondeln bestückten. Ziemlich langweilig im Grunde, aber das kam Herrn W entgegen und er begann sogar die Aussicht, die sich ihm bot, ein klein wenig zu genießen – ja, bis einer der Pubertären entdeckte, dass man die Gondel drehen konnte.
Jetzt ist es ja oft so, dass, wenn einer seine Bedenken äußert, damit sein Gegenüber etwas unterlässt, das er gerade im Begriff war zu tun, dass dann sein Gegenüber - vor allem wenn es sich um eine Gruppe handelt - sich gerade erst dann so richtig dazu angespornt fühlt, das eigentlich zu Unterlassende erst recht zu tun. Auch Herr Ws Warnung, dass es das mit der Fahrerei im Funpark für sie für heute gewesen sein könnte, führte zu keiner Einsicht, sondern im Gegenteil nur dazu, dass sich die Drehung der Gondel immer weiter beschleunigte und das Gelächter der Spießgesellen immer lauter wurde. So übel war es Herrn W schon seit einer Butterfahrt auf der Nordsee bei hohem Wellengang nicht mehr gewesen. „Sie schauen ja gar nicht gut aus“, sagte die Aufsicht zu ihm, als Herr W dem Inferno entstieg. „So, das war‘s dann wohl! Ihr seid selbst schuld! Ich habe euch gewarnt! Ich steige aus und nirgends mehr wo ein – und ohne mich geht hier ja anscheinend nichts,“ sprach das Bleichgesicht zu den Übeltätern.
Jetzt waren ja seine Pubertären nicht auf den Kopf gefallen und auch nicht alle blind. Man sondierte also die Lage, schnappte sich die Blindschleiche, erklärte ihr worauf es ankam, drückte Herrn W den Blindenstock in die Hand, ließ ihn mit gehörigem Abstand zurück, nahm die starke Seheinschränkung in die Mitte und schob sich langsam bis zum Eingang des ausgewählten Fahrgeschäfts vor und an der abgelenkten Aufsicht vorbei, die gerade im Begriff war, Herrn W freundlich darüber Auskunft zu geben, wo er im Freizeitpark den besten Kaffee erstehen konnte.
Was ist, wenn etwas passiert? *
Herr W konnte gerade noch rechtzeitig einer Bratwurst mit Senf ausweichen. Die Dippemess in Frankfurt war an diesem Donnerstag brechend voll – Familientag, der Tag der erträglichen Preise und nicht enden wollenden Menschenmassen. Langsam quetschte er sich mit seinem 15-jährigen Begleiter durch die Menge. Herr W klopfte sich innerlich selbst auf die Schulter. Die Idee, sich erstmal eine Runde durchzuwühlen, um einen Überblick über die Angebote zu bekommen, war so was von genial von ihm gewesen. Drei Fahrgeschäfte und eine Würstchenbude durfte sich sein junger Weggefährte auswählen. Damit vermied Herr W, wie sonst nicht unüblich, lange Diskussionen nach dem altbekannten Muster: Hätte ich gewusst, dass es da hinten noch einen Autoscooter gibt …
Und gleichzeitig blieb ihm – im Falle fehlender Standhaftigkeit - die Aufstellung eines Nachtragshaushaltes erspart. Akribisch achtete er darauf, einen weiten Bogen um die Gokartbahn zu machen, der aber letztlich dann doch nicht groß genug gewesen war. Das junge Adlerauge hatte sofort die verbotene Frucht erspäht. Mit den Worten: „Lass uns mal da rübergehen,“ drängt er Herrn W nach links in Richtung No-Go-Area. „Das da!! Drei Mal!“ Herr W schluckte. „Ich weiß nicht.“ „Da steht doch ab 12,“ bekam er um die Ohren gehauen. „Du bist sehbehindert, die Teile sind motorisiert, es geht über mehrere Ebenen und du fährst mit anderen Rowdies.“
Herr W zögerte. Klar traute er es ihm zu, vorausgesetzt kein anderer Fahrer würde Mist bauen, denn dann würde sicher sofort alles auf seinen Schützling geschoben. Gerne hätte er die Verantwortung delegiert, aber an wen? „Was ist, wenn etwas passiert?“ hallte es immer wieder durch seinen angespannten Schädel. Gäbe er sein O.K., dann wäre er, wenn auch nur für einige Minuten, der Größte für den Bub und der Tag wäre sooo was von gerettet. Andererseits war er nicht gerade scharf darauf, als tragische Figur zu enden. „Pass, auf…,“ es folgte eine lange Reihe von Belehrungen, beginnend mit: „Es wird nicht überholt…“ und endet mit: „Egal was passiert, du sagst niemandem, dass du eine Sehbehinderung hast, verstanden!?“ Aber sie wollten nicht verstummen, die Stimmen: Wie konntest du nur? Unverantwortlich, einen blinden Menschen … – alle hätten es hinterher besser gewusst und natürlich auch besser oder anders gemacht. Und los ging die Fahrt.
Alles verlief zum Glück reibungslos. Aber an diesem Nachmittag bekam Herr W eine praktische Einführung in Einsteins Relativitätstheorie. Für seinen Zögling waren es wohl die kürzesten 15 Minuten seines Lebens gewesen, während Herr W in dieser Zeit um Jahre gealtert war.
Wenn ich mir immer die Frage stellen würde „Was wäre, wenn …?“, würde ich doch viele Dinge gar nicht mehr machen.*
Nicht jeder war mit 31 noch niemals nie in Holland gewesen, so wie Herr W. Jetzt ist es ja so, dass Holland so was von flach ist, da kann man schon ein Hundehäuflein als mittlere Erhebung ansehen. Und Fahrräder und Fahrradwege, so was von Unmengen, da kommst du dir als Autofahrer ziemlich diskriminiert vor. Die Gruppenfahrt ging also in einen Centerpark in Holland. Riesiges Gelände, die Autos mussten draußen bleiben, nur Be- und Entladen waren erlaubt.
Natürlich haben die Pubertären beim Rundgang, sofern sie mehr als nur die Hand vor Augen erkennen konnten, gleich den Fahrradverleih mit den Mountainbikes und den Tandems entdeckt. Aber glaub jetzt nur nicht, dass die an den Tandems Interesse gezeigt hätten. Nach längerem hin und her erlaubte Herr W, dass sie sich Mountainbikes ausleihen durften, um damit auf den weitläufigen Wegen im Centerpark zu fahren. Klar, dass sich alle, bevor es losging, eine Litanei von Ermahnungen anhören mussten: „Im Centerpark und nur im Centerpark, verstanden?!“
Doch schon am nächsten Tag war ihnen das große Gelände zu klein geworden. Sie verlangten nach mehr. Das Wetter war ja auch megageil – Sonne satt, kaum Wind. Herr W stellte sich natürlich die Frage: „Was wäre, wenn etwas passiert?“ Aber er war damals noch relativ frisch im Betreuungsbusiness, die Zeit war Anfang der 90er auch noch eine etwas andere, aber vor allem hatte er einfach noch mehr Wagniskapital im Gepäck. Dennoch, das Schild mit der Aufschrift „Betreten der Eisflächen verboten“ hatte er immer vor Augen. Seine Kollegin also mit Tandem vorne weg. Er mit seinem Tandem und dem zweiten Blindfisch hintendran und dazwischen auf fünf Mountainbikes das Restsehvermögen, so ging es im gemütlichen Tempo auf Entdeckungstour über Hollands Fahrradwege.
An der Geschwindigkeit hat es dann auch nicht gelegen, dass Herr W auf der Fahrt hin und wieder in Atemnot geriet - vielleicht hätte er bei Gegenverkehr einfach nicht die Luft so lange anhalten dürfen? Die Gruppenfahrt wurde jedenfalls ein voller Erfolg – denn das Eis hatte wieder einmal gehalten.
*Zitate und Überschriften aus dem Buch Blind Dance von Christian Ohrens. Ohrens setzt sich konsequent und kompromissarm für Teilhabe und Teilnahme von behinderten Menschen im Freizeitbereich ein.