Ein Mitmachmuseum für Alle …

Inklusive Experimente im Mathematikum

Schülerinnen und Schüler der blista testen den noch nicht angepassten Turm von Ionah
Schülerinnen und Schüler der blista testen den noch nicht angepassten Turm von Ionah

Rosina Weber* | Die schönsten Ideen entstehen oft durch glückliche Zufälle. Einer dieser Zufälle war der Besuch des Mathe­matikgrundkurses 13  von Herrn Kalina von der Carl-Strehl-Schule im Mai 2015, den ich zu betreuen hatte. Das Mathematikum ist ein Mitmachmuseum, das Mathematik „begreifbar“ macht. Mathematische Phänomene können durch eigenes aktives Handeln erfahren und erlebt werden. Dieser Ansatz funktioniert für alle Menschen, vom Kindergartenkind, über die Berufsschulklasse bis zu Senioren. Über 170 Exponate finden sich in der Ausstellung, die meisten davon interaktive Experimente, also „Mathematik zum Anfassen“.

Beste Voraussetzungen also auch für eine Klasse mit sehbehinderten und blinden Schülerinnen und Schülern. Und trotzdem kostete uns der Besuch der blista-Klasse in der Vorbereitung ein wenig Denkarbeit. Welche Experimente funktionieren? Wo braucht es zusätzliche Erklärungen?

Mit dem Thema Barrierefreiheit hatten wir uns vorher schon beschäftigt und uns Mühe gegeben, regelmäßig durch kleine Optimierungen das Mathematikum für alle Menschen bequem nutzbar zu machen. Deshalb startete ich neugierig und voller Fragen in den Besuch der blista-Klasse. Statt der üblichen 20 Minuten zu Beginn, verbrachte ich den gesamten zweistündigen Besuch mit den Schülerinnen und Schülern und konnte beobachten, wie sie auf die Experimente ­reagierten.

Der Besuch brachte nicht nur wertvolle Anregungen, er legte auch den Grundstein für ein tolles Projekt, das im Jahr 2016 begann. Die blista fördert die „Umrüstung“ von zehn Mathematikum-Experimenten. Blinde und sehbehinderte Menschen sollen daran ohne fremde Hilfe experimentieren können. Dabei geht es nicht um Ergänzungen zur Ausstellung, die nur für bestimmte Besuchergruppen hervorgeholt werden, sondern Experimente, die für alle funktionieren. Sie sollen für blinde wie für sehende Menschen kniffelig, aber lösbar und gleichzeitig ästhetisch ansprechend sein.

Einige der Experimente im Mathematikum waren dabei schon „fast fertig“, da sie die gestellten Anforderungen bereits erfüllten. Was fehlte, war eine barrierefreie Bereitstellung der Texte, die in der Ausstellung jedes Experiment ergänzen und anleiten. Andere Experimente waren schon komplizierter. Was genau braucht man, wenn man dieses Experiment lösen möchte, ohne es zu sehen? Wo bekommt man taktile Nicht-transitive-Würfel her? Wie kriegt man Punktschrift auf Holz? Und vor allem, wie kriegt man sie so aufs Holz, dass tausende Besucherinnen und Besucher im Monat sie nicht innerhalb kürzester Zeit wieder abnutzen?

Eine unschätzbare Hilfe waren dabei Schülerinnen und Schüler, so wie Lehrkräfte der blista, allen voran unsere Ansprechpartnerin Frau Duncker, die mit Fachwissen und mit ihren eigenen Erfahrungen und Vorstellungen zur Entscheidungshilfe beitrugen. Eines der Experimente wurde schon aus­getauscht und es ist genau das passiert, was wir gehofft haben, Sehenden ist nichts auf­gefallen.

Der „Turm von Ionah“ besteht aus fünf verschieden großen Scheiben und drei kegel­förmigen Löchern. Die Scheiben fügen sich passgenau in die Löcher ein, und zwar so, dass sie der Größe nach sortiert liegen. (Die kleinste Scheibe liegt unten.) Die Aufgabe ist es, die Scheiben so zu versetzen, dass am Ende alle fünf in einem anderen Loch liegen. Dabei darf man jedoch nie mehr als eine Scheibe auf einmal bewegen und nie eine kleine Scheibe auf eine große legen. Sollte das doch passieren, bemerkt man den Fehler sofort, denn dann passt die Scheibe nicht mehr bündig ins Loch, sondern rutscht auf der größeren hin und her.

Weil die Aufgabe gar nicht so einfach ist, gibt es einen Trick. Die kleinste, größte und mittlere Scheibe sind rot, die beiden dazwischen blau. Wenn man nie zwei gleichfarbige Scheiben aufeinander legt, funktioniert das Umräumen fast von allein.

Zwei Scheiben mit jeweils drei Ausstanzungen. Dabei sind die Oberflächen an den Rändern unterschiedlich ausgearbeitet.
Nur wenn man ganz genau hinsieht, kann man die Unterschiede an den Rändern und in den Grifflöchern sehen. Zu spüren sind sie jedoch eindeutig.

Wie kann man diese subtile Unterscheidung der Scheiben auch für Blinde und Sehbehinderte erfassbar machen? Nach vielen Gesprächen und Abwägung zahlreicher Möglichkeiten ergab sich eine überraschend einfache Lösung: Die Kanten der Grifflöcher der Scheiben wurden unterschiedlich gestaltet. Wenn man nun eine rote und eine blaue Scheibe in die Hände nimmt, spürt man an der einen weich abgerundete Ränder, an der anderen eine eckige Kante. Eine kleine Veränderung, die einen großen Unterschied macht.

Die anderen Experimente sind in unterschiedlichen Stadien des Werdens begriffen und werden in die Ausstellung eingefügt, sobald sie fertig sind. Schon vorher ist natürlich jeder willkommen, der das Mathematikum besuchen möchte. Unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter helfen mit allen Anliegen weiter und gerne bereiten wir uns auf jede Klasse genauso sorgfältig vor, wie auf den 13er Kurs, damals im Frühling 2015.
[*Mathematikum Gießen e.V.]