Zeitenwende – vom Leben nach der blista
Schullaufbahn
Felix Steindorff | Mit fünf Jahren, im September 2001, begann meine schulische Laufbahn an der Berliner Carl-Sonnenschein-Grundschule. Eine Zeit, an die ich mich bis heute gerne zurückerinnere, da es ein großartiges Team aus Lehrer*innen gab, die sich bereit erklärt hatten, mich die nächsten sechs Jahre bis zum Übergang ins Gymnasium zu begleiten, was bei einem vollständig blinden Schüler absolut keine Selbstverständlichkeit ist. In den Jahren meiner Grundschulzeit hatte ich durchgehend eine Assistenzkraft, die mich in allen Belangen unterstützte und mir immer weitergeholfen hat, wenn ich mal an der einen oder anderen Stelle hängen geblieben bin.
Ab der 7. Klasse besuchte ich das Fichtenberg-Gymnasium in Berlin Steglitz bis zur 11. Klasse der Oberstufe. In dieser Zeit hatte ich keine Assistenzkraft mehr. Das Gymnasium kooperierte aber mit der Berliner Blindenschule und ich wurde weiterhin von dem Ambulanzlehrer unterstützt, der mich in meiner Grundschulzeit in Braille und anderen technischen Dingen ausgebildet hatte. Er hat auch für die Lehrer*innen meiner Klasse des Öfteren Schulungen angeboten, z.B. wie man Dokumente am besten barrierefrei aufbereitet und formatiert. Das hat die ganzen Jahre über ganz gut funktioniert, aber selbstverständlich gab es an meinem Gymnasium auch Lehrer*innen, denen es weniger wichtig war, auf Barrierefreiheit der Materialien und des Unterrichtes zu achten. Da meine Noten mit den Jahren immer schlechter und schlechter wurden, was, wenn ich ganz ehrlich bin, nicht nur an diesen Lehrer*innen lag, auch ich hatte da so meinen Anteil, und ich mich generell nicht mehr wirklich an der Schule wohlfühlte, stellte sich die Frage nach einer Alternative. Viele gab es für mich ja nicht. Ich hätte an ein anderes Berliner Gymnasium wechseln können, aber das hätte die grundlegende Situation wahrscheinlich nicht verändert. Deshalb entschloss ich mich, nach Marburg zu gehen und dort zu versuchen, mein Abitur abzuschließen.
Es war für mich zu dieser Zeit ein gewagter Schritt, meinen Freundeskreis von zu Hause hinter mir zu lassen und von der Großstadt in das aus Berliner Sicht provinzielle Marburg zu ziehen. Es sollte sich allerdings als die richtige Wahl herausstellen. Ich landete in einer elften Klasse mit vielen anderen Quereinsteiger*innen wie mir. Ich merkte sehr schnell, mit welch tollen Leuten ich die nächsten drei Jahre zusammen verbringen durfte. Aber auch hier wurde es mit dem Abitur schlussendlich nichts, da meine Noten in der 13. Klasse und die Ergebnisse der schriftlichen Prüfungen leider nicht den Anforderungen entsprachen. Also stellte sich mir wieder die Frage nach einer Alternative.
Bufdi, Studium & Ausbildung
Ich entschied mich für ein Jahr im Bundesfreiwilligendienst in Berlin, um das für das Fachabitur nötige Praktikum zu absolvieren. Also wieder zurück nach Hause. Ein Jahr lang als Bufdi an der Johann-August-Zeune Schule arbeiten, einer Förderschule für blinde und sehbehinderte Schüler*innen, dort werden ebenfalls auch geistig und/oder körperbehinderte Schüler*innen unterrichtet. Mein neues Tätigkeitsfeld lag direkt neben meinem alten Berliner Gymnasium. In diesem Jahr war es meine Aufgabe, die Lehrer*innen im Unterricht zu unterstützen. Zusammen mit einem anderen „Bufdi“ gründeten wir eine Torball-AG und wir entwickelten unser gemeinsames Projekt über das Schuljahr hinweg immer weiter. Im September 2017 hatte ich damit endgültig mein Fachabitur in Händen. Von Schule hatte ich nun erstmal genug. Ich wollte mal etwas anderes erleben und so ging ich für drei Monate an die EF (Education First) Sprachschule in San Diego, ein Unternehmen, welches weltweit Sprachschulen unterhält und diverse Sprachen im Programm hat, um meine Englischkenntnisse weiter auszubauen. Ich hatte mich damals für San Diego entschieden, da ich schon mal vorher in Kalifornien gewesen war und mir die Gegend super gut gefallen hatte. Allerdings musste ich die drei Monate aus eigener Tasche finanzieren bzw. die meiner Eltern. Man braucht schon einiges an Eigeninitiative, um sich als blinder Mensch komplett allein auf so eine Reise zu begeben. Und manchmal braucht man auch etwas Glück.
Für meinen Aufenthalt in den USA war ein extra Visum nötig. Ein normales Besuchervisum genügte nicht. Also ging es, bevor ich den Flieger besteigen konnte, erstmal für mich zur amerikanischen Botschaft in Berlin, um meine Einreiseerlaubnis dort persönlich abzuholen. Dann ab in den Flieger und wieder raus aus dem Flieger. Das freundliche Flughafenpersonal brachte mich nach der Landung zur Grenzkontrolle. Aber was hatte ich zuhause liegen gelassen – genau, meinen Aufenthaltstitel. Nun füllte mein Herz die Hose – wohin es eben gerade gerutscht war. Ich wurde also von einem sehr freundlichen Officer der US Border Control in einen Raum geführt und befragt, man wollte von mir den Zweck des Aufenthaltes wissen und gleichzeitig wurde das Computersystem befragt, ob dies auch so seine Richtigkeit habe. Nach einer Viertelstunde durfte der junge blinde Mann auch ohne gültigen Aufenthaltstitel einreisen. Ohne Papiere fielen für mich allerdings die Partys im nicht weit entfernten Mexiko flach. Aber nach Hörensagen von meinen Mitschüler*innen an der Sprachschule habe ich nicht wirklich etwas versäumt.
Meine kleine Odyssee
Nach dem dreimonatigen Sprachkurs stand nun aber doch die Entscheidung an, welche berufliche Richtung ich einzuschlagen gedenke. Dass ich studieren wollte, stand für mich außer Frage, dafür hatte ich schließlich das Fachabitur gemacht. Meine Wahl fiel auf BWL, rein nach dem Motto: „Das was jeder studieren will“. Ich ging dann Anfang 2018 nach Karlsruhe, da sich „International Management“ zum einen für mich inhaltlich spannend anhörte und auch grundsätzlich cooler klang als BWL. Aber so „cool“ wie gedacht war es dann aber doch nicht. Auch wurde ich mit der Stadt und den Leuten einfach nicht warm und so wechselte ich bereits zum Wintersemester 2018 nach Gießen, um dort BWL zu studieren. Hier fühlte ich mich weitaus besser aufgehoben, die alte Heimat Marburg war auch nicht weit und ich hatte nette Kommiliton*innen, die mich freundlicherweise zu jeder Vorlesung mitschleppten. Aber während drei Semestern reifte in mir die Erkenntnis, dass Betriebswirtschaft wohl doch nicht zu meinen Steckenpferden gehörte. Es gab für mich zwar vereinzelt interessante Fachrichtungen, aber auf Dauer war mir die gesamte Materie einfach zu trocken. Also hieß es wieder überlegen, was ich sonst noch machen könnte. Damals wurde mir oft erzählt, dass Informatik etwas sei, wofür man besonders gut Mathe können müsse. Das machte die Entscheidungsfindung für mich nicht einfacher. Heute weiß ich aus Erfahrung, dass das ein Märchen ist, zumindest, wenn man das Fach nicht an einer Universität studieren will.
Fachinformatik
Letztlich entschied ich mich dafür, zurück zur blista zu gehen, um dort eine Ausbildung zum Fachinformatiker zu machen. Die Kosten für diese Ausbildung wurden von der Agentur für Arbeit übernommen und wir Auszubildenden wohnten in einer Wohngemeinschaft im Marburger Südviertel. Mit Computern habe ich seit meiner frühsten Kindheit zu tun und es war schon immer mein Hobby, damit auf jede erdenkliche Weise herumzuspielen. Und ich muss sagen, es fühlte sich von Anfang an wie der richtige Schritt an. Das zur Ausbildung gehörende viermonatige Praktikum absolvierte ich in Hamburg in einem Marketing-Tech Unternehmen, welches Gutscheine und Kundenkarten herstellt. Da das Unternehmen knapp 100 Mitarbeiter*innen und unterschiedliche Abteilungen besaß, bekam ich die Möglichkeit, mir während der 16 Wochen Praktikum ein Bild von der Arbeit in den unterschiedlichsten Bereichen der Firma zu machen. Nach drei Jahren Ausbildung hatte ich dann endlich meinen Abschluss in der Tasche.
Auf meine jetzige Arbeitsstelle beim Regierungspräsidium in Gießen hat mich mein Ausbildungsleiter in Marburg aufmerksam gemacht. Das Bewerbungsgespräch verlief in einer angenehmen Atmosphäre, obwohl mir sechs Personen gegenübersaßen. Und ich kann sagen, dass ich mich von Beginn an an meiner neuen Arbeitsstelle, die ich Mitte 2023 angetreten habe, wohl und aufgehoben fühle. Ich arbeite in einer Abteilung, die sich ausschließlich mit der Barrierefreiheit von Webseiten des Landes Hessen beschäftigt. Dabei werden stichprobenartige Tests durchgeführt und die Seiten mittels eines Prüfkatalogs auf diverse Barrieren getestet. Dazu gehören Farb- und Kontrastprüfungen, Bildbeschreibungen und Alternativtexte für Bilder und Grafiken, sowie verschiedenste Formatierungen für Überschriften, Listen und andere Inhalte.
Fazit
Es war ein längerer und nicht wirklich geradliniger Weg bis hier hin, aber ich bereue keine der Zwischenstationen, denn ich habe immer etwas daraus für die Zukunft mitnehmen können und außerdem tolle und inspirierende Menschen kennengelernt.
Ich bin außerordentlich froh, an diesem Punkt meines Lebens angekommen zu sein, denn natürlich stellt man sich über die Jahre immer wieder Fragen wie: „Was wäre, wenn ich diese oder jene Entscheidung anders getroffen hätte und wo würde ich dann heute stehen?“
Am Ende sind alle diese Fragen hinfällig, da man es nicht ansatzweise seriös beantworten kann und es einen nicht weiterbringt, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Ich kann mit absoluter Sicherheit sagen, dass ich ohne meine Eltern nicht dort wäre, wo ich heute bin. Sie haben mir seit meiner Kindheit immer viele Freiheiten gelassen, um mich selber auszutesten und herauszufinden, wie man als blinder Mensch alleine in der Welt zu recht kommt. Aber immer, wenn ich Sie gebraucht habe, waren sie da und haben mich in allen Belangen unterstützt