Zeitenwende - vom Leben nach der blista

Neue Herausforderungen

Karina Schaude, Abitur 2014 | Von 2011 bis 2014 habe ich als Schülerin die Oberstufe der Carl-Strehl-Schule be­sucht und meine blista-Zeit im Sommer 2014 mit dem allgemeinen Abitur abge­schlossen.

Bis zur 12. Klasse war ich mir noch unsi­cher, welche Richtung ich beruflich nach meiner Schulzeit einschlagen wollte, kurzzeitig liebäugelte ich mit einem Lehr­amtsstudium. Aber im Abschlussjahr war ich mir dann sicher, dass ich Psychologie studieren werde. Also habe ich mich nach dem Abitur an mehreren Universitäten beworben. Zusagen bekam ich von Ulm, Marburg, Bochum und Tübingen. Ich bin jetzt 29 Jahre und studiere im zweiten Master-Semester Schulpsychologie an der Eberhard Karls Universität in Tübin­gen.

Psychologie ist, wie Informatik oder Jura, ein Studiengang, den viele Schul­abgänger*innen der blista wählen – aus Interesse, aber vor allem auch, weil es sich hierbei um Studienfächer handelt, in denen hochgradig seheingeschränkte Menschen wie ich sehr gute Berufsaus­sichten haben. Da ich bereits mehrere Sehrestverschlechterungen hinter mir hatte, wollte ich auf keinen Fall ein Fach studieren, in dem ich später womöglich gar nicht arbeiten kann. Psychologie war für mich also eine naheliegende Wahl, die ich bisher keine Sekunde bereut habe.

Foto von einer Neckarbrücke aus auf die bunten Fachwerkhäuser, die den Fluss in Tübingen säumen.

Die Wahl meines Studienortes

Warum Tübingen? Mein ursprünglicher Plan war, nach dem Abitur in Marburg zu bleiben, so wie viele meiner Mitschü­ler*innen. Andererseits habe ich mein ganzes Leben lang ausschließlich Förder­schulen für Menschen mit Seheinschrän­kung besucht, weshalb ich unbedingt einmal die „reale Welt“ außerhalb der Schutzglocke erkunden wollte. Bliebe ich in Marburg, so kamen mir damals Bedenken, würde ich wahrscheinlich nur schwer neue Kontakte zu sehenden Kommilitonen knüpfen, denn ich wusste schon von einigen Klassenkamerad*in­nen, die ebenfalls Psychologie in Mar­burg studieren wollten und schneller als einem lieb ist, wäre man wieder unter sich.

Um also ein bisschen frische Luft zu schnuppern und meine eigenen Grenzen auszuloten, nahm ich den Studienplatz in Tübingen an. Da ich aus Süddeutsch­land komme, spielte die Nähe zu meinem Heimatort natürlich bei der Wahl der Uni auch eine Rolle. Für eine Zusage wäre ei­gentlich ein Abi-Schnitt von mindestens 1,2 nötig gewesen, aber dank eines Här­tefallantrags bekam ich trotzdem einen Studienplatz.

Das Studium in Tübingen ist extrem methodenlastig und naturwissenschaft­lich ausgerichtet. Das heißt, viel Statistik, Forschungsmethoden und Diagnostik. Sogar eine Programmiersprache musste ich lernen. Sigmund Freud findet hier nur Erwähnung, wenn meine Dozent*in­nen ein Beispiel vorbringen, wie wissen­schaftliches Arbeiten eben NICHT funkti­oniert.

Foto eines riesigen alten Baums in einem Tübinger Park. Im Hintergrund sind die typischen buntent Fachwerkhäuser zu sehen.

Aller Anfang ist schwer

In Tübingen galt es für mich zunächst erst einmal die sogenannten "Aussie­be-Semester" zu überstehen, so nennt man die ersten zwei bis drei Semester im Bachelor. In dieser Zeit muss man be­stimmte Prüfungen ablegen und beste­hen, um weiter studieren zu dürfen. Für jede Prüfung hat man nur zwei Versu­che. Das führt dazu, dass für einen nicht unerheblichen Teil der Studierenden nach diesen ersten Semestern Schluss ist. Nach diesen Prüfungen kommen die ei­gentlich interessanten Sachen, wie etwa klinische Psychologie. Auch darf man nun gezielt Seminarthemen auswählen, die man ansprechend findet, und auch ein Praxissemester wartet bereits.

Uni und Sehbehinderung

Anders als in Marburg, wo die Uni auf Menschen mit Sehbehinderung bestens vorbereitet ist, gibt es in Tübingen nur sehr wenige Studierende mit Behinde­rung. Im Moment bin ich die Einzige an meinem Fachbereich, die eine Sehein­schränkung hat. Auch die Stadt ist alles andere als behindertengerecht gestaltet. Leitlinien sind Mangelware, viele Gebäu­de sind alt und nicht barrierefrei zugäng­lich, akustische Ampeln gibt es vielleicht drei oder vier in der ganzen Stadt. Trotz­dem fühle ich mich an der Uni sehr wohl. Meine Dozent*innen sind alle sehr nett und ermöglichen mir meine Nachteilsausgleiche für Prüfungen oder Haus­arbeiten. Was man bei einem Studium natürlich nicht unterschätzen darf - und ich habe am Anfang diesen Fehler auch gemacht - ist, dass man selbst Experte bzw. Expertin für die eigene Behinde­rung und Bedürfnisse sein muss. Es gibt zwar an allen Unis Behindertenbeauf­tragte, diese fungieren aber eher als eine Art Mediator*in und unterstützen einen bei auftretenden Problemen, z. B. bei der Formulierung von Anträgen usw. Das Studium zu organisieren, Arbeitsmaterial zu beschaffen und aufzubereiten, seine Bedürfnisse zu kennen, zu äußern und zu vertreten, muss man aber schon selbst in die Hand nehmen – klar, dass gerade am Beginn des Studiums nicht alles gleich reibungslos läuft.

Ich hatte mir ein supertolles Hilfsmittel organisiert: eine Kamera, die Texte z. B. aus Lehrbüchern gleich in ein Word-For­mat einscannt. Klingt erst mal prima, in der Praxis stellte sich diese Kamera aber als vollkommen ungeeignet her­aus, wenn man mit wissenschaftlichen Texten arbeitet, die mehr Sonderzeichen haben als auf eine Tastatur passen. Ich verschwendete anfangs leider viel Zeit und Aufwand mit diesem „Hilfsmittel“, das mein Leben nicht erleichterte, son­dern das genaue Gegenteil bewirkte – es passte einfach nicht zu den Texten, die ich im Studium bearbeiten musste. Wie ich sonst an die für mich unabdingba­ren Informationen rankommen sollte, hatte ich aber nie richtig gelernt. Denn in der Schule gab es ja alle Texte immer im Word-Format, aber diesen Luxus gibt es an der Uni nicht. Zwar gibt es digita­le Bücher, aber leider nicht immer. Also musste ich mir etwas einfallen lassen. Für mich lag die naheliegendste Lösung, um weiter mit dem Stoff voranzukommen - denn die Prüfungen mussten ja zu einem bestimmten Zeitpunkt geschafft sein - darin, erst einmal alles selbst zu lesen, mit einer Lupe, was mir einen Kranken­hausaufenthalt einbrachte, weil meine Augen nach ein paar Monaten exzessi­vem Lesen und zu wenig Schlaf vollkom­men überarbeitet waren. In der Schule wurde uns Schüler*innen immer nahege­legt, dass man seine Hilfsmittel benutzen soll. Mir war aber damals noch nicht klar, dass Hilfsmittel auch ihre Grenzen haben und nicht für jede Art von Text geeignet sind – und wenn doch, dass der Faktor Zeit dabei eine wichtige Rolle spielt. Eine Seite fehlerfrei einzuscannen darf eben nicht zu lange dauern. In diesen Tagen habe ich mir gewünscht, dass mich die blista besser auf das Arbeiten unter suboptimalen Bedingungen vorbereitet hätte.

Nach meinem zweiten Semester wurde mir dann aber klar, dass ich unbedingt eine Assistenz brauchte, wenn ich das Studium nicht aufgeben wollte, und dass ich mich von dem Gedanken an eine Regelstudienzeit verabschieden musste. Seither nutze ich immer Assistenzkräfte, gerade für die Arbeit mit wissenschaftli­chen Texten, was eine enorme Zeit- und Energieersparnis für mich bedeutet.

Was ich zukünftigen Studierenden mit Seheinschränkung mit auf den Weg geben möchte

Hört auf euren Körper und lernt vor eurem Studium schon Arbeitstechniken zur Informationsbeschaffung. Wenn ihr bereits wisst, was ihr studieren wollt, leiht euch einfach mal Schwarzschriftbü­cher (am besten Fachliteratur) zu diesen Themen aus und versucht euch die Infor­mationen selbstständig zugänglich zu machen. Fordert auch im Unterricht ein, Texte nicht immer aufbereitet zu bekom­men, sondern es auch einmal selbst zu machen. Das ist zwar in dem Moment mühsam, erspart euch aber später eine Menge Frust und ihr freut euch dann umso mehr, wenn euch im Studium dann doch mal ein perfekt barrierefreier Text begegnet. So merkt ihr nicht nur, welche Hilfsmittel für euch in Frage kommen könnten und welche nutzlos für euch sind, sondern vor allem auch, wie lange ihr für das Aufbereiten von Informatio­nen braucht. Dauert es zu lange oder ist es für euch zu anstrengend, wäre eine Assistenz vielleicht das Richtige für euch.

Selbst bereits eingescannte Texte kön­nen eine Herausforderung sein, denn die Texte, die man an der Uni von Dozenten bekommt, sind meist sehr schlecht auf­bereitet und müssen ebenfalls von euch angepasst werden. Ich glaube, die Textar­beit war für mich die größte Herausfor­derung im Studium. Durch die Assistenz, die mir die Texte dann vorgelesen oder für mich eingescannt hat, ging es aber wesentlich leichter und vor allem schneller.

Foto vom Blick in die Uni-Bibliothek in Tübingen von einer offenen Galerie aus. Es sind viele Bücherregale mit sehr großen Lücken zu sehen.

Das Studentenleben

Das Studium besteht natürlich nicht nur aus Lernen und durchwachten Nächten. Auch das Sozialleben ist ein nicht un­erheblicher Teil davon. Gerade ist das wegen der Pandemie natürlich etwas schwierig, denn die meisten Veranstal­tungen finden online statt, und deshalb sehe ich meine Kommiliton*innen nur über den Bildschirm oder wenn wir im Praktikum in der Kinderpsychiatrie miteinander zu tun haben. Vor Corona war das natürlich anders. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass meine Kommi­liton*innen sehr gut mit meiner Sehbe­hinderung umgehen. Sie machen meine Behinderung nicht zum Thema und behandeln mich wie alle anderen Stu­dierenden auch. Brauche ich dann doch mal Hilfe bei etwas, ist das kein Problem. Über die Jahre haben sich gute Freund­schaften entwickelt, die heute noch Bestand haben. Natürlich muss man sich auch damit abfinden, dass gerade am Anfang des Studiums viele Bekannte, die man ins Herz geschlossen hat, das Studi­um abbrechen oder einen anderen Weg einschlagen, aber das gehört leider auch dazu. Ich habe viele schöne Momente mit meinen Freund*innen in Cafés oder unserem Lieblingsrestaurant verbracht, um eine bestandene Prüfung zu feiern oder einfach mal die Seele baumeln zu lassen.

Aber nicht nur soziale Kontakte zu den Studierenden sind wichtig: Ich habe auch viele tolle Erlebnisse mit meinen Mitbe­wohner*innen aus dem Studentenwohn­heim sammeln können. Seit dem Beginn meines Studiums habe ich in Sechser-WGs gewohnt - mit einer einjährigen Unterbrechung wegen meines Praxisse­mesters. Im Studentenwohnheim kann man sich seine Mitbewohner*innen nicht aussuchen. Man bekommt ein Zimmer, das grade frei ist und trifft über die Zeit hinweg sehr viele unterschiedliche Leu­te. Ich hatte schon Mitbewohner*innen aus der französischen Schweiz, Kanada, den USA, Brasilien, Italien, Taiwan, Japan, Spanien, Afrika, Bulgarien und natür­lich Deutschland. Auch hier war meine Sehbehinderung nie ein Problem und ich kann auf viele schöne Erinnerungen zurückblicken. Natürlich sind diese WGs anders als die an der blista. Manchmal sehe ich meine Mitbewohner*innen ein oder zwei Wochen am Stück nicht, weil sie im Zimmer oder der Bibliothek lernen und wir zu verschiedenen Zeiten kochen. Trotzdem haben wir auch ab und zu Zeit zusammen verbracht, z. B. im Sommer auf dem Balkon oder beim Grillen, bei ei­nem gemeinsamen Filmabend, der einen oder anderen Putzaktion, einem Abend­essen oder bei Monopoly. Zu manchen meiner Mitbewohner*innen habe ich heute noch Kontakt, auch wenn sie mitt­lerweile am anderen Ende von Deutsch­land wohnen oder wieder zurück in ihre Heimat auf der anderen Seite der Welt sind. Falls ihr also die Möglichkeit habt, in einem Studentenwohnheim in einer WG zu wohnen, macht das unbedingt, es lohnt sich sehr.

Wie geht es weiter?

Mittlerweile steht für mich die letzte Etappe im Studium an, die Masterarbeit. So sehr ich das Studentenleben auch zu schätzen gelernt habe mit all seinen Hö­hen und Tiefen, freue ich mich mittlerwei­le auch darauf, dass es endlich geschafft ist und ich finanziell unabhängig werden kann. Da ich mich ja auf die Fachrichtung Schulpsychologie spezialisiert habe, ist für mich auch schon relativ klar, wo es mich später hinzieht. Wenn alles so läuft wie geplant, werde ich vielleicht wieder an die Nikolauspflege in Stuttgart zurück­kehren und dort den Psychologischen Dienst unterstützen.

In Stuttgart habe ich bereits während meines Praxissemesters ein halbes Jahr gearbeitet und sehr viel Spaß dort ge­habt. Wo ich aber letzten Endes landen werde, sehe ich ja dann, wenn es soweit ist. Ich habe nicht nur die Möglichkeit, direkt an einer Schule zu arbeiten, son­dern könnte auch an eine Beratungsstelle gehen. Auch die Ausbildung zur Kinder- und Jugendpsychotherapeutin wäre möglich.

Allerdings bin ich nicht ganz sicher, ob ich nochmal fünf mögliche Berufsjahre für eine teure Ausbildung aufwenden will … Egal wo die Reise am Ende hingeht, fest steht für mich, dass ich dann eine Menge neuer und nützlicher Erfahrungen mit im Gepäck habe, die ich für nichts eintau­schen will.