100 Jahre - 100 Talente

Rudi Ullrich. Ein unterhaltsamer Abend zum Auftakt des Louis Braille Festivals sollte es werden. Gleichermaßen interessant für Gäste, die die blista gut kannten, als auch für die, die zum ersten Mal in Marburg zu Besuch waren. Bei der Konzeption des Programms zeigte sich schnell, dass von den vielen Talenten der blista nur ein paar wenige in den zur Verfügung stehenden 90 Minuten ihr Können unter Beweis stellen können. Es galt also, eine bunte Mischung aus Musik der unterschiedlichsten Epochen und Stilrichtungen und interessanten Talkgästen zu finden. Bis zuletzt war nicht ganz sicher, welche Gäste die Moderatoren an diesem Abend begrüßen konnten, aber eins hatten alle Mitwirkenden gemeinsam: Sie alle waren oder sind Schülerinnen und Schüler der blista.

A-capella-Gruppe „Schlag 6” bei ihrem Auftritt in der Show am Freitag abend
A-cappella-Gruppe „Schlag 6” © Oliver Ziebe

Rainer Husel und Matthias Klaus mit Songs von Ray Charles und Stevie Wonder begeisterten ihr Publikum ebenso wie die Mitglieder der Theatergruppe „Nachtsicht“ mit ihrem Werbespot über einen sehr ungewöhnlichen Blindenstock namens „My Way“ oder dem Song „Blindfisch“ aus ihrer aktuellen Produktion „Blickfang“.

Ein besonderes Highlight war auch der Auftritt der A-cappella-Gruppe „Schlag 6“, die in den 90er Jahren in wechselnder Besetzung viele Konzerte gegeben und zwei erfolgreiche CDs aufgenommen hatten. Dank Olessja und Helmut Karges waren 13 Sängerinnen und Sänger aus ganz Deutschland und sogar aus der Schweiz nach mehr als 15 Jahren wieder zusammengekommen. Nach nur zwei Stunden Probe am Nachmittag und ohne Soundcheck, saß von Beginn an jeder Ton. Mit den Songs „Lollipop“, „The longest Time“, „Sentimental Journey“ und „It's my Party“ begeisterten sie die etwa 1.000 Gäste der blista-Show. Und dass die ehemaligen blistaner nicht nur auf der Bühne, sondern auch im Alltag eine gute Figur abgeben, zeigte ein kleiner Überblick über ihre heu­tigen beruflichen Tätigkeiten. Da standen zum Beispiel Juristinnen, Dolmetscher, Verwaltungsangestellte, Korrektorinnen, Call-manager oder ein Pfarrer auf der Bühne.

RainerHusel an der Gitarre und Matthias Klaus am Keybord
Rainer Husel und Matthias Klaus © Oliver Ziebe

Eine besondere Überraschung war der Auftritt des gerade wiedergewählten Präsidenten der Europäischen Blindenunion, Wolfgang Angermann. Mit Gitarre und Gesang erinnerte er mit einem Medley an die Aufbruch-Stimmung unter den blista-Schülern in den 60er Jahren, die mit einer Band, zum Leidwesen der Obrigkeit, im Marburger Raum Furore machten.

An Talente ganz anderer Art erinnerten Andreas Bethke und Rudi Ullrich in ihrer ­Moderation. Viele Ex-blistaner seien politisch und sozial engagiert und hätten in den letzten 100 Jahren die Blinden- und Sehbehindertenselbsthilfe in Bund und Ländern maßgeblich mit geprägt. Aktuell gehören sicherlich Verena Bentele, Ottmar Miles Paul und der Beauftragte für die Belange behinderter Menschen in Bremen, Dr. Joachim Steinbrück, zu den bekanntesten. Besonders freuten sie sich, Sabriye Tenberken begrüßen zu können, die sich mit ihrer Schulgründung in Tibet und dem Aufbau eines Ausbildungszentrums in Indien auch international großes Ansehen erworben hat. Tenberken betonte in ihrer gewohnt sympathischen und engagierten Art, wie wichtig es sei, dass sich gerade behinderte Menschen mit ihren besonderen Erfahrungen im politischen und sozialen Bereich engagieren. Der blista habe sie dabei viel zu verdanken und wolle sich daher mit all ihren Möglichkeiten dafür einsetzen, dass die blista auch zukünftigen Generationen diese Förderung angedeihen lassen kann.

Sabriye Tenberken hält ein Mikrofon in der Hand und spricht zu den Besuchern des blista-Abends
Sabriye Tenberken © Oliver Ziebe

Besonders gefördert wird an der blista schon seit Beginn der 70er Jahre der Leistungssport. Aktuell sind die Blindenfußballer Deutscher Meister und blinde und sehbehinderte Judoka machen sich auch im Kampf mit sehenden Sportlern einen Namen. Generationen von Sportlern haben im Schwimmen, in der Leichtathletik, im Judo und Goalball Medaillen bei den Paralympics, Welt- und Europameisterschaften errungen. Beispielhaft wurden Peter Brass und Uwe Duske, die 1976 in Toronto als Schwimmer die ersten blistaner bei Paralympics waren, sowie Michael Feistle und Oliver Hörauf, in Rio de Janeiro 2016 im Goalball für Deutschland am Start, interviewt. Dabei wurde deutlich, welch enormer Trainingsaufwand heutzutage notwendig ist, um an der Weltspitze mitzuspielen und dass sich Leistungssport oftmals auch im späteren beruflichen Leben positiv auswirkt.

Sophia Neises und Thorsten Büchner interviewen Mirko Melz, der in der Kluft eines Feuerwehrmannes Rede und Antwort steht
Sophia Neises und Thorsten Büchner interviewen Mirko Melz © Oliver Ziebe

Im Laufe des recht kurzweiligen Abends wurde auch an die vielen bereits verstorbenen Ex-blistaner erinnert. Als Hommage an sie und ihre Verdienste sang Matthias Klaus den Song des blinden Jazzpianisten und Schlägersängers Wolfgang Sauer, der 1940 im Alter von 12 Jahren an die blista kam, mit dem Titel "Warum leuchten heut Nacht die Sterne so hell".

Wie das mit dem Geheimnis der ewigen Jugend gemeint war, erschloss sich den Zuhörern übrigens fast beiläufig. Nicht nur, dass die im Laufe des Abends auftretenden Künstler und Talkgäste immer jünger wurden, der stetige Wandel und permanente Erneuerung spiegelte sich auch in der Moderation wieder: Nachdem Andreas Bethke und Rudi Ulrich sozusagen als „alte Haudegen“ den ersten Teil des Abends moderierten, wurden sie von Sophia Neises und Thorsten Büchner mit den Worten aufs Altenteil geschickt: „Nehmt es nicht persönlich. So ist das schon immer an der blista. Kaum hat man sich an was gewöhnt, ist es auch schon wieder vorbei, ein frischer Wind fegt durch die alten Mauern und neue Talente stehen im Rampenlicht.“

Doch nachdem die beiden den sehbehinderten blista-Mitarbeiter Mirko Melz zu seinem Engagement in der „Freiwilligen Feuerwehr Marburg interviewt hatten, ereilte sie das gleiche Schicksal wie zuvor Bethke und Ullrich. Aktuelle Schülerinnen und Schüler und Mitglieder der Theatergruppe „Nachtsicht“ stürmen die Bühne und drängten Büchner und Neises in den Hintergrund. Nach dem Motto: „Platz da, wir sind die Zukunft!“ stellten sie dar, mit welchen Fähigkeiten sie die Herausforderung der nächsten Jahre in Angriff nehmen wollen.