"Den goldenen Kern meines Kindes (wieder) sehen (lernen)"

Ein Online-Dialog-Abend mit Eltern aus der Frühförderung

von Paula Anne Valentin, Mitarbeiterin der blista-Frühförderung

„Draußen, vor der Vorstellung von richtig und falsch, ist ein Land. Lass uns dort treffen.“  Rumi

Eltern sehen sich in der heutigen Zeit stetig steigenden Anforderungen an sie als Mutter, Vater, Partner*in, Arbeitneh­mer*in usw. ausgesetzt. Insbesondere das Verständnis von Erziehung und da­mit zusammenhängend die Rolle von El­tern und Kindern haben sich im Laufe der letzten Jahrzehnte stark verändert. Erzie­hung „steht unter starker Beobachtung durch die Umwelt und durch die Eltern selbst, die alles möglichst richtig machen wollen, der Erziehungs- und Leistungs­druck ist insgesamt gestiegen“ (1). Ist die Familienrealität hinzukommend durch Aspekte wie Armut, Migrationserfah­rungen, Arbeitslosigkeit, Krankheit oder Behinderung gekennzeichnet, kann sich das Herausforderungspotential multipli­zieren. Die Anspruchshaltung und die Bil­dungs- und Erziehungserwartungen an Eltern wachsen insgesamt stetig, wozu mitunter auch die im öffentlichen Diskurs suggerierten Leitbilder von ‚guten Eltern‘ und ‚richtiger Erziehung‘ beitragen; sie erzeugen und begünstigen eine patho­logische Sichtweise auf sich als Elternteil. Defizitgefühle erscheinen vorherrschend, die wiederum nicht selten in eine neue Art der Abhängigkeit, in eine passive Ob­jektrolle führen können: „Eltern werden vielmehr auf eine neue Weise von ande­ren abhängig gemacht, deren ‚Ratschlag‘ [der der vermeintlichen Experten, Anm. d. Vf.] nun befolgt werden soll“ (3). Da­durch wird den Eltern Selbstwirksamkeit und Elternkompetenz aberkannt.

Kennen Sie die Pinguin-Geschichte von Dr. Eckart von Hirschhausen? Nein?

Grob zusammengefasst berichtet der Mediziner und Kabarettist in dieser Erzählung – auch in Videoformat auf Youtube anschaubar – von seiner Be­gegnung mit einem Pinguin in einem norwegischen Zoo. Anfänglich betrach­tete von Hirschhausen das Tier noch voller Mitleid, schmunzelte über dessen dickliche Statur und bemängelte die fehlenden Knie. Sein Urteil stand vor­erst fest: „Fehlkonstruktion!“ Doch dann beobachtete er das Tier im Wasser und erlebte es in seinem Element, denn Pin­guine sind hervorragende Schwimmer. Der Kabarettist revidierte seine Meinung über Pinguine und zog seine Lehren aus dieser Begegnung: zum einen wie schnell man doch (falsch) urteilt und zum ande­ren wie wichtig die Umwelt ist, die einen umgibt, und ob die eigenen Fähigkeiten dort zum Tragen kommen können. Von Hirschhausen (2) kommt zu dem Schluss: „Menschen ändern sich nur selten kom­plett und grundsätzlich. Wenn du als Pinguin geboren wurdest, machen auch sieben Jahre Psychotherapie aus dir keine Giraffe. Also nicht lange hadern: Bleib als Pinguin nicht in der Steppe. Mach klei­ne Schritte und finde dein Wasser. Und dann: Spring! Und Schwimm!“

Foto eines Eselspinguins der den Strand hinauf auf den Betrachter zuwatschelt.

Warum erzähle ich von dieser Geschichte?

Können Sie vielleicht die Verbindung zum ersten Absatz dieses Artikels sehen? Dieser Wink aus dem Leben eines Arztes, der sein Glück auf der Bühne gefunden hat und lernt, in der anfänglich durch die defizitorientierte Brille wahrgenommene Fehlerhaftigkeit eines Pinguins dessen beeindruckenden Potenziale und Stär­ken zu erkennen, regt auch Lesende an, die eigene Umwelt und sich selbst durch eine positive, die goldene Brille zu be­trachten, was im Alltag und u. a. durch die oben benannten Gegebenheiten so oft so schwer fällt. Wer in seine Stärken investiert und lernt, diese überhaupt sehen zu können und den Fokus weniger auf all das zu legen, was wir vermeintlich nicht können, wozu wir uns nicht in der Lage sehen, der wird sich als kompetent und selbstwirksam erleben.
Gleichzeitig steht diese Geschichte sehr eindrücklich für das Akzeptieren, Be­stätigen und vielleicht auch Feiern des Andersseins, die Haltung, dass es viele Möglichkeiten gibt, die Dinge zu sehen, die Bewusstheit über eigene Vorurtei­le, diese aber in der Schwebe halten zu können, um so einen unverbrauchten Blick voller Offenheit auf vielleicht Uner­wartetes richten zu können und sich so von eigenen Überzeugungen zu lösen, oder dass die eigene Wahrnehmung die eigene Wirklichkeit und nicht die ganze Wahrheit ist.

Genau unter der Prämisse dieser Haltung habe ich im Rahmen meines Qualifizie­rungsprozesses zur „Elternbegleiterin“ (4) Ende Februar 2021 einen Online-El­tern-Dialog-Abend zu dem Thema „Den goldenen Kern meines Kindes (wieder) sehen (lernen)“ für Eltern aus unserer Frühförderstelle angeboten. Die Grundintention meines Praxisprojektes war es, für und mit den Eltern einen Raum zu schaffen, in dem sie – wie der Pinguin im Wasser – Zugang zu den Schätzen in den eigenen Kindern und vielleicht auch in sich zu finden. Insbesondere für Eltern aus dem Frühförderkontext halte ich eine solche Begegnungsmöglichkeit für passend, weil sie sich ja ganz oft nochmal im besonderen Maße Normativita¨tsvor­stellungen ausgesetzt sehen und dabei die Erfahrung machen, dass ihre Kinder dort vermeintlich nicht reinpassen.

Es sollte keine pädagogische Lehrstunde werden und nicht um Bewertung von Erziehungshandeln gehen, sondern um Begegnung und Austausch von Gleich­gesinnten, um Dialog und einfach dar­um, einen schönen Abend miteinander zu verbringen. Warum das Ganze online stattfand, brauche ich glaube ich unter der momentanen Situation nicht zu er­klären. Wobei das Ganze auch seine Vor­teile mit sich brachte: Wir konnten es uns alle zuhause bequem machen, niemand musste noch ins Auto steigen oder sich um eine Betreuung der Kinder sorgen.

Die Gruppe der Teilnehmenden bestand aus vier Müttern – eine kleine Gruppe, was auch so gewollt war. Denn: je mehr Teilnehmer*innen, desto kleiner die Kamerabilder und dadurch erschwerter der Dialog. Die Mütter untereinander kannten sich noch nicht. Im Vordergrund sollten die Erfahrungen, das Experten*in­nenwissen und die Geschichten der Fami­lien, kurzum der Dialog stehen.

Bereits in der Vorstellungsrunde mit der Methode der Namensanalyse (Name, Wer hat mir Namen gegeben?, Warum heiße ich so/Bedeutung Name?, Wie heißt mein Kind und warum heißt es so?) nahm der Austausch eine ganz beson­dere Intensität und auch Intimität an. Wir ließen uns gegenseitig an unseren Geschichten teilhaben. Diese besonde­re Stimmung zog sich weiter durch den Abend, auch oder insbesondere als wir mit den Fotos der Kinder arbeiteten (ich bat die teilnehmenden Eltern im Vorhin­ein, mir ein Foto ihres Kindes zukommen zu lassen). Per Bildschirmfreigabe schau­ten wir uns nach und nach die Kinder an und dann durften alle Mütter (bis auf die Mutter des gezeigten Kindes) und ich sich das Foto anschauen und darüber nachdenken, wie das Kind auf uns wirkt, was wir in dem Kind sehen, was wir an dem Kind bewundern. Die Gedanken wurden mir per SMS oder Privatchat ge­schickt, sodass ich dann die gesammelten Antworten für das jeweilige Kind vor­lesen konnte, während das Foto dieses Kindes noch für alle sichtbar war.

Und das war echt wahnsinnig beeindru­ckend: Wir waren alle zum einen sehr verblüfft, wie sehr die Aussagen den Wesenskern der Kinder trafen – und das obwohl ja keine der Mütter die Kinder der anderen kannte –, und zum anderen waren wir total berührt, welche Stärken sie in den Kindern sahen. Nachdem wir alle Kinderfotos so betrachtet hatten und diese teilweise auch schon kom­mentiert wurden, entstand nahezu au­tomatisch ein Dialog in der Gruppe – der Austausch war direkt im Flow: Wir ka­men beispielsweise ins Gespräch darüber, welchen Einfluss der Alltag mit all seinen Herausforderungen sowie die Leistungs­gesellschaft und der doch sehr präsente Vergleich (insbesondere oftmals unter Müttern) auf diesen positiven Blick auf die eigenen Kinder, aber auch auf sich selbst haben und diesen erschweren kön­nen, wie gut es daher tat, in dieser Runde genau diesen Fokus einzunehmen und wie sehr so ein Blick das eigene Wohl­ergehen und das Familienleben positiv verändert.
Wir tauschten uns zudem über Metho­den und Anker aus, die dabei helfen könnten, diesen positiven Blick in den ei­genen Alltag einzubauen. Auch in dieser Phase des Abends erlebte ich die Mütter als unglaublich offen und bereitwillig, von sich, ihren Erfahrungen und aus ih­rem Leben zu erzählen.

In einer Schlusswortrunde konnte noch­mal jede die anderen daran teilhaben lassen, wie es ihr nun ging und was sie für sich mitnahm. Eine Mutter sagte bei­spielsweise: „Ich habe mich vorher noch nie in einer fremden Gruppe so geöffnet und Selbsthilfegruppen bisher eher nicht als Option für mich gesehen. Ich trage selbst so viel Schmerz durch unsere Geschichte in mir, dass ich mich immer ge­fragt habe, warum ich mir den Schmerz anderer auch noch anhören soll. Aber heute habe ich total die Erfahrung von ‚man ist nicht allein‘ gemacht, was mir to­tal gut getan hat.“ Und eine andere: „Ich finde, wir machen alle als Mamas einen ziemlich guten Job. Wir können stolz auf uns und unsere Kinder sein.“
Als kleine Erinnerung an den Abend be­kamen alle Teilnehmerinnen einen Brief, in dem ich die Kommentare zu ihren Kin­dern zusammengeschrieben hatte.

Literatur und Hinweise:

(1)Tschöpe-Scheffler, S. (2014). Entwicklungslinien, neue Herausfor­derungen und Paradigmenwechsel in der Zusammenarbeit mit Familien. In S. Tschöpe-Scheffler (Hrsg.), Gute Zusammenarbeit mit Eltern in Kitas, Familienzentren und Jugendhilfe. Qualitätsfragen, pädagogische Hal­tung und Umsetzung (S. 15-28). Opla­den, Berlin, Toronto: Barbara Budrich.

(2) von Hirschhausen, E. (2012). Die Pinguin-Geschichte Oder: Wie man sich in seinem Element fühlt. Aufruf 09.02.2021, hirschhausen.com/glueck/die pinguingeschichte.php.

(3) Wolff, R. & Stork, R. (2013). Dialogisches ElternCoaching und Konfliktmanagement – ein Metho­denbuch für eine partnerschaftliche Bildungsarbeit (nicht nur) in den Hilfen zur Erziehung (2. Aufl.). Frankfurt a. M.: IGfH-Eigenverlag.

(4) Hinter der o.g. Weiterbildung zur „Elternbegleiterin“ steht das Bundes­programm „Elternchance II – Familien früh für Bildung gewinnen“, www.elternchance.de.