Blind – und doch mobil
Mehr Selbstständigkeit ist ein Herzenswunsch - Blinde Schüler testen den autonomen Bus der R+V
Brigitte Römstedt * | Spontan ins Auto springen und zu einem Konzert fahren oder eine fremde Stadt erkunden: Für sehende Autofahrer sind solche Ausflüge selbstverständlich. Blinde Menschen hingegen sind dabei auf Helfer angewiesen oder müssen oft umständliche Fahrten mit Bussen und Bahnen in Kauf nehmen.
Kann fortschrittliche Automobiltechnik Blinden und Sehbehinderten in Zukunft das Leben erleichtern und ihnen zu mehr Selbstständigkeit verhelfen? Ein Team des Innovation Labs MO14 der R+V Versicherung wollte mehr über die Wünsche und Bedürfnisse dieser Menschen wissen und lud Schüler und Mitarbeiter der Deutschen Blindenstudienanstalt (blista) in Marburg zu einer Fahrt mit dem selbstfahrenden Kleinbus der R+V ein. In einem eigenen Forschungsprojekt beschäftigt sich das Wiesbadener Versicherungsunternehmen derzeit mit den Chancen und Risiken des autonomen Fahrens.
Leise Elektroautos sind für Blinde riskant
Der öffentliche Nahverkehr ist allen vertraut, die Fahrt mit einem selbstfahrenden Bus jedoch Premiere für die blinden Fahrgäste. Und so fallen der siebenköpfigen Gruppe von der blista auf der Teststrecke bei den Behringwerken sofort die Unterschiede zu konventionellen Fahrzeugen auf: „Wo ist bei dem Auto eigentlich vorne und hinten?“ „Gibt es hier kein Lenkrad?“ Stefan Häfner, Marcel Heinz und Verena Reuber vom InnoLab MO14 erklären ihren Gästen, dass das Fahrzeug ohne Fahrer in beide Richtungen fahren kann, lassen sie den Joystick ertasten, mit dem der Operator das Fahrzeug auch manuell steuern kann. Das sorgt für Lacher: Die Schüler kennen diese Geräte von Spielkonsolen und können kaum glauben, dass damit so ein großes Fahrzeug gesteuert werden soll.
Spannend finden die blinden Fahrgäste die Erklärungen zu den verschiedenen Sensorsystemen, die die Umgebung permanent scannen. Taucht ein Hindernis auf, stoppt das Fahrzeug sofort. Das begeistert alle, denn die Angst, angefahren zu werden, schwingt im Straßenverkehr immer mit. Besonders riskant sind für sie die nur leise surrenden Elektroautos. „Wenn die Autos langsam fahren, hören wir im belebten Stadtverkehr noch nicht einmal die Rollgeräusche der Räder und den Fahrtwind – das macht die Technik für uns leider unberechenbar“, erzählt Thorsten Büchner, der in der Kommunikationsabteilung der blista arbeitet und sich auch im Marburger Verkehrsausschuss für die Belange blinder und sehbehinderter Menschen einsetzt.
Operator vermittelt Sicherheit
Orientierungslinien am Boden, Beschriftungen in Blindenschrift, akustische Signale oder Automaten mit Vorlesefunktion: Obwohl sich in den vergangenen Jahren vieles für Blinde und Sehbehinderte getan hat, gibt es noch immer Verbesserungsbedarf. Auch im R+V-Bus fällt den blinden Fahrgästen einiges auf. So ist beispielsweise beim Einsteigen Hilfe notwendig, da der Fahrzeugboden relativ hoch ist. „Barrierefreiheit ist ein wichtiges Thema für uns. Stufen sind immer potenzielle Stolperfallen“, bemerkt Thorsten Büchner und denkt dabei auch an Gehbehinderte oder Rollstuhlfahrer. Das gleichmäßige Fahrgefühl empfinden jedoch alle als angenehm, „ein bisschen wie in einer Gondel“. Özgün Dogan fand die Fahrt auch „cool“ – nur deutlich schneller wäre sie liebend gern gefahren. Derzeit fährt der Shuttle aus Sicherheitsgründen nur mit etwa Tempo 20. Trotz der geringen Geschwindigkeit zucken dann doch einige zusammen, als das Fahrzeug plötzlich abrupt stoppt – ein Lkw hat unvermittelt den Weg des Shuttles gekreuzt. Wie gut, dass im Bus grundsätzlich alle sitzen müssen.
Trotz anfänglicher Bedenken fühlen sich die blinden Fahrgäste bei ihrer ersten Fahrt mit einem selbstfahrenden Fahrzeug sicher. Dazu trägt ganz wesentlich der Operator bei, der im Notfall manuell eingreifen kann. Maurice Diegel würde heute ohne menschlichen Ansprechpartner auf keinen Fall in ein selbstfahrendes Shuttle einsteigen: „Was soll ich denn machen, wenn das Auto auf freier Strecke hält und nicht weiterfährt? Ich weiß ja gar nicht, wo ich bin.“ Beruhigend ist auch, dass sich die Türen automatisch öffnen, wenn sich der Computer, der das Fahrzeug steuert, einmal „verschluckt“ – so kann niemand bei Gefahr im Auto eingesperrt werden.
Wünsche an die Mobilität der Zukunft
Hochautomatisierte Autos wie der R+V-Bus, die auf einer einprogrammierten Strecke quasi auf virtuellen Schienen fahren, sind erst der Anfang. Die Vorstellung, dass Fahrzeuge eines Tages komplett selbstständig fahren und für individuelle Touren bestellt werden können, ist für die Blinden sehr reizvoll: „Wenn die Technik eines Tages so weit ist, kommen auch wir problemlos überall hin – ganz selbstständig. Ich würde gerne auf dem Land leben. Aber gerade in abgelegenen Dörfern fahren heute oft nur zwei oder drei Busse am Tag. Ohne Auto ist man da verloren“, bedauert Maurice Diegel.
Jalea Warten hingegen träumt davon, alleine Auto fahren zu können. Sie hatte schon einmal die Chance, selbst am Steuer zu sitzen – dirigiert von einem Fahrlehrer als Beifahrer. Bei der Erinnerung an das einzigartige Gefühl von Freiheit strahlt sie noch immer: „Ich wünsche mir ein Fahrzeug für Blinde, dass dem Fahrer beispielsweise über Töne und Vibrationen alle Informationen liefert, die er zum Lenken, Beschleunigen und Bremsen braucht.“
Levin Scharmberg, der seit Jahren mit dem Zug zwischen seiner Heimatstadt München und Marburg pendelt, möchte mehr über seine Umgebung erfahren. Zwar kann er jede Station auf der Strecke aufzählen – was dazwischen ist, bleibt ihm bisher jedoch leider verborgen. Deshalb wünscht er sich in den öffentlichen Verkehrsmitteln der Zukunft einen GPS-gesteuerten Audioguide, der ihm interessante Informationen zur Umgebung als Hörtext liefert.
Ob selbst fahren oder gefahren werden: Wenn die Technik eines Tages ausgereift ist, können autonome Autos in Zukunft blinden Menschen das Leben erleichtern, so das einhellige Fazit der blista-Schüler nach ihrer ersten Testfahrt mit dem hochautomatisierten Bus der R+V. Und auch für das Team vom InnoLab MO14 war der Besuch der blista-Schüler eine Bereicherung, sagt Stefan Häfner: „Wir haben im offenen Austausch einen tollen Einblick in die Welt blinder Menschen bekommen und werden versuchen, die Wünsche und Anregungen unserer blinden Gäste in unserem Forschungsprojekt aufzugreifen“.
[* Pressesprecherin R+V Konzernkommunikation, Fotos: Brigitte Römstedt]
Stimmen von den Testfahrern
Levin: „Meine Eindrücke vom autonomen Autofahren sind von gemischten Gefühlen geprägt. Ich fand das autonome Fahren eine sehr spannende und interessante Erfahrung, vor allem mit dem Hintergedanken, irgendwann einmal selbst eigenständig Autofahren zu können ohne einen sehenden Fahrer. Ein autonomes Auto fährt im Prinzip nur noch Computergesteuert. Daher gibt es weder ein Lenkrad, noch ein Brems-, Gas- oder Kupplungspedal. Das Fahrzeug, welches wir testen durften, wies noch einige technische Schwierigkeiten auf, z. B. kann es nicht selbstständig ausweichen, wenn ein Hindernis vor ihm auftaucht. Damit ist es noch verkehrsuntüchtig. Ich war sehr beruhigt darüber, dass noch ein Operator, so nennt man die Person die im Notfall die Kontrolle über das Fahrzeug übernehmen kann, im Fahrzeug anwesend war. Andernfalls wäre mir, glaube ich, ein bisschen mulmig zumute gewesen. Der Operator erklärte uns viele technische Details und übernahm die Kontrolle, wenn das autonome Auto nicht richtig reagierte.
Alles in allem ist das autonome Fahren eine spannende Angelegenheit, die mich begeistert. Ich würde mich freuen, wenn die Technik in 10 oder 20 Jahren soweit ist, dass auch sehbehinderte und blinde Menschen alleine Autofahren können.“
(Levin Scharmberg FOG 12)
Jalea: „Zu Anfang muss ich sagen, dass ich mich sehr gefreut habe, an diesem Projekt teilnehmen zu dürfen. Ich hatte das Glück, aufgrund eines Angebotes der blista, schon mal selber Auto fahren zu dürfen. Auch dieses Erlebnis hat mich nachhaltig beeindruckt. Umso mehr habe ich mich gefreut, dass es jetzt für mich die Möglichkeit gibt, ein selbstfahrendes Auto zu testen. Wenn diese Technologie weiterentwickelt wird, ergeben sich ja ganz andere Möglichkeiten. Und ich kann nur sagen, ich fand es sehr faszinierend und würde es jederzeit wieder tun. Ich wünsche allen Blinden und Sehbehinderten, dass es bald ein selbstfahrendes Auto für den Privatgebrauch geben wird. Dies wäre nämlich ein Hilfsmittel, das eine Mobilität gewährleisten könnte, die es so noch nicht geben kann.“
(Jalea, BG 11)
Özgün: „Der Tag war für mich sehr spannend. Auch wenn es am Anfang ein wenig holprig losging, weil irgendetwas nicht funktionierte und ausgetauscht werden musste, ging es danach flott zur Sache. Wir durften das Gefährt rundherum erstmal anfassen, damit wir auch wussten, wie der autonome Bus aussieht. Während der Fahrt war ich sehr erstaunt, dass es doch tatsächlich funktioniert hatte. Nach der Fahrt war ich ein wenig enttäuscht, ich hätte mir mehr Schnelligkeit erhofft, aber vielleicht kommt das noch in der Zukunft.“
(Özgün, FOG 12)
Ilayda: „Da ich sehr viel von selbstfahrenden Autos gehört hatte, war ich sehr begeistert, dass ich beim autonomen Autofahren dabei sein durfte. Anfangs durften wir uns das Auto von außen anschauen und ich fand es seltsam, dass dieses Auto vorne und hinten gleich aussah. Ebenso seltsam fand ich, dass wir im Auto in einem Halbkreis saßen. Am Ende war ich etwas enttäuscht, denn das Auto konnte bei Hindernissen nicht selbstständig ausweichen und außerdem war es langsam unterwegs. Außerdem fand ich es irgendwie seltsam, eigentlich fast lustig, dass dieser Kleinbus mit einer Play Station-Konsole gesteuert/gelenkt wurde. Trotzdem würde ich mir wünschen, dass es irgendwann in der Zukunft Autos gibt, die selber fahren können.“