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Der Autor steht - bekleidet mit einer violetten Schürze - in der Küche einer blista-Wohngruppe.

Heute: Schürzenjäger

Winfried Thiessen * | Das hast du sicher früher auch öfters zu hören bekommen: „Also junger Mann, Sie hatten wohl keine gute Kinderstube!?“ Da regt sich ein Pensionär über dich auf, nur weil du dich an der Fleischtheke versehentlich vorgedrängelt hast. Und sicher würde er nur allzu gerne – ganz Old School – bei der Nachjustierung deiner Kinderstube selbst Hand anlegen – jetzt ist ja deine Größe ein Vorteil. Mal ehrlich, so ganz unter uns: ein bissel herumerziehen – bei anderen – da juckt es doch selbst dem blutigsten Laien schon mal in den Fingern – und erst recht bei den Pubertären, die wecken doch bei fast jedem von uns so eine gewisse erzieherische Obsession.   

Und überhaupt, der Pubertäre, also das Objekt unserer Erziehungsleidenschaft, ist ja quasi eine Dauerbaustelle, so wie der Berliner Flughafen. Sowas wird natürlich oft nur hinter vorgehaltener Hand geäußert, aber die Pubertären – meine Meinung: Stuttgart 21 und Berliner Flughafen zum Quadrat. Sie selber sehen das natürlich nicht so. Kennst du ja, dass es da einen Unterschied gibt zwischen Eigenwahrnehmung und Fremdschämen. Nicht, dass du mich jetzt falsch verstehst, mein guter Bekannter, der Herr W, der täglich mit solchen Großbaustellen zu tun hat, der denkt da als pädagogischer Profi natürlich viel qualifizierter drüber – also, über diese jungen Menschen.

Der Autor steht - bekleidet mit einer schwarzen Schürze - in der Küche einer blista-Wohngruppe.

Jetzt gab es ja Zeiten in der Geschichte der Erziehung, von denen kann mein guter Bekannter, der Herr W, auch noch ein Lied singen. Damals verlief Erziehung, dank zahlreicher Hilfsmittel, nicht immer völlig schmerzfrei. Nehmen wir zum Beispiel den Rohrstock, mit dem hat damals auch der junge Herr W immer dann Bekanntschaft machen dürfen, wenn seine Mitwirkung an der Umsetzung der Erziehungsziele nicht zufriedenstellend verlief. Das machten die zur Führung eines Rohrstocks Berechtigten natürlich nicht gerne, obwohl, so sagte er einmal zu mir, es sich für ihn oft so angefühlt hat – wenn er die Liebe der sich für seine Erziehung verantwortlich Fühlenden wieder einmal zu spüren bekam. Kennst du ja auch, das Sprichwort: des einen Freud ist des anderen Leid. Gut, er zieht ja beim Erzählen, das wissen wir, meist ganz schön vom Leder, trägt gerne immer etwas dicker auf, aber es wird schon was Wahres dran sein, an seiner Geschichte.

Heute ist der Rohrstock nur noch ein Relikt aus der dunklen Vergangenheit der schwarzen Pädagogik – ein Museumsstück. Aktuell in der pädagogischen Debatte ist ja jetzt die Partizipation. Du siehst, kaum hast du dich an etwas gewöhnt und hast die Hilfsmittelerziehung ganz gut aushalten gelernt, ändert sich wieder alles – Fortschritt eben.

Damit du das verstehst, das mit der Partizipation, das ist quasi so eine Art Methode zur Selbsterziehung. Der Pubertäre erleidet die Erziehung nicht mehr passiv, so wie einst mein guter Bekannter, sondern er darf jetzt an seinem Erziehungsprozess aktiv mitwirken, denn die Pubertären sollen ja die Dinge, die sie sollen, letztlich ja auch wollen, ist doch auch irgendwie logisch. Der Vorteil, so jedenfalls in der Theorie, das Ganze soll nachhaltiger sein – weil Partizipation, das bedeutet Mitbestimmung und nicht mehr bloße Unterordnung unter fremdbestimmte Erziehungsziele, so wie früher. Aber lass dir eins gesagt sein, da läuft es im Leben letztlich immer drauf hinaus – ich meine Unterordnung – kennst du ja bei dir selber: Frau, Schwiegereltern, Kinder, Chef … die Liste wäre noch länger – aber du hast ja keinen Hund. Jetzt versteh das nicht falsch. Du weißt das doch selbst am besten: Das Leben ist kein Ponyhof. Regeln und Pflichten, irgendjemand muss den Müll schließlich runterbringen oder den Abwasch machen – ja, und nicht jeder ist verheiratet. Häusliche Pflichten erledigen, das läuft ja selten freiwillig ab, da musst du, gerade als gestandenes Mannsbild, meist erst hinerzogen werden – und da soll Partizipation wirklich Wunder wirken, so wird jedenfalls behauptet.     

Aber wie alles, so hat auch Partizipation so seine Tücken, denn erstens kommt es anders und zweitens … hatte mein Bekannter Herr W einen absolut schlechten Tag erwischt: nicht gut geschlafen, das Wetter schwül, Kopfschmerzen – und gerade an solchen Tagen, an denen du dein Bett besser nicht hättest verlassen sollen, solltest du als Pädagoge die Finger von Partizipation lassen. Das hat dann auch mein guter Bekannter, der Herr W gemerkt –  aber wie heißt es so schön, nachher ist man immer schlauer …

An einem anderen Tag hätte es ihn vielleicht auch gar nicht gestört, dass sich auf der Geschirrspülmaschine das dreckige Geschirr türmte, der Einkaufsdienst für den Wochenendeinkauf um 16 Uhr immer noch nicht da war und sich bis dahin noch nicht mal bei ihm gemeldet hatte und und und … und warten macht bekanntlich mürbe und die Geduld … am Ende war mein guter Bekannter, der Herr W, von seinem Pflichten­optimierungstrip einfach nicht mehr runterzuholen. Also, Aufruf zur dringlichen Gruppensitzung zum Thema: Pflichten!

Du musst wissen, eine Gruppensitzung ist auch so ein beliebtes pädagogisches Instrument: alle zusammentrommeln und miteinander reden lassen, was so jeder denkt, was nicht gut läuft, was geändert werden müsste und und und – da wusste Herr W ja dann so einiges zu berichten, da war das Abendessen noch nicht ganz die Speiseröhre runter.

Wenn du jetzt mal genauer nachdenkst – so als gesunder Mensch mit Verstand: Pflichten – Partizipation – Gruppensitzung, wie soll das anders laufen als ein Verkaufsgespräch bei einem Gebrauchtwagenhändler, der eine alte Schleuder an den Mann bringen muss – die Pflichten eben. In diesem Fall darf ein Kratzer oder ein Beule natürlich kein Makel sein, sonst hast du da schnell einen Ladenhüter stehen. Da bist du als Pädagoge quasi ein Verkäufer, der seinem Kunden etwas aufschwatzen will, was dieser in seiner ersten Regung im Grunde gerne verschrottet gesehen hätte. In dieser Situation, unheimlich wichtig für den Pädagogen, der richtige Beginn des Verkaufsgesprächs. Aber wie gesagt, es war kein guter Tag für meinen Bekannten. Jetzt ist es ja so, dass sich Pubertäre selbst oft überschätzen, aber das darf auf keinen Fall dazu führen, dass du sie unterschätzt, schwerer Fehler. Vor allem wenn man eine Vergangenheit hat wie Herr W, die dafür bekannt ist, dass sie ihn ständig wieder einholt.

Dazu musst du wissen, dass er sich in seinem Studium viel mit antiautoritärer und ­libertärer Pädagogik befasst hat – im Hintergrund wirkte da vielleicht doch noch der Rohrstock nach – und dass mein Bekannter eher so ein weichgespülter ist, der gerne auch mal den kleinen Finger reicht … Ich spreche jetzt von dem Finger, an dem auch der Rest der Hand hängt. Jedenfalls damals an der Uni war er ja selber gerade so aus dem Erziehungsobjektstatus herausgewachsen, deshalb sehr empfänglich für den freien, selbstbestimmten Erziehungsgedanken und für Emanzipation, alles sollte mit den Kindern diskutiert werden, ohne Druck und Machtausübung, sonst verbiegen die kleinen Rückgrate und es kommt zur Buckelbildung – du musst nur mal in den Spiegel schauen. Aber heute steht mein guter Bekannter, der Herr W, ja auf der anderen Seite der Barrikade, und da denkt er natürlich ein wenig differenzierter über die ganze Sache.

Vielleicht ist er die Partizipation dieses Mal zu undiplomatisch angegangen, hat zu viel auf einmal gewollt. Es dauerte keine fünf Minuten da wurde er auch schon diktatorischer Maßnahmen gescholten und 16 Augen, abzüglich einiger Glasaugen, waren auf ihn gerichtet – Empörung pur. So leidenschaftlich hatte er die Pubertären noch nie erlebt, angestachelt von einem der ihren, der sich im Politikwissenschaftsunterricht anscheinend nicht nur mit seinem Smartphone beschäftigt hatte. Jedenfalls, das musste mein guter Bekannter, der Herr W, später selbst zugeben, besaß jener ein gewisses Agitationstalent, wusste die Massen für sich und seine Ideen zu begeistern, sie in den Bann zu ziehen. Da half es auch nichts, dass mein Bekannter diesen kleinen Ideologen billigen Populismus bezichtigte. Die Stimmung war eindeutig gegen ihn - und aufgeheizt. Als Anführer eines sich schnell herausbildenden dreiköpfigen Revolutionskomitees stellte der Lümmel immer wieder die Sinnhaftigkeit von Regeln und Pflichten an sich in Frage und verband seine Argumentation gekonnt mit der tausendjährigen Geschichte von Unterdrückung und Benachteiligung von Menschen mit Behinderung und pochte auf eine demokratische Mehrheitsentscheidung: one man one vote. An einem guten Tag hätte Herr W ihm da was erzählt, wäre ihm der Gedanke gekommen, dass er eine Vetomacht sei, so wie die USA im UN-Sicherheitsrat, und dass sie alles diskutieren könnten, er aber letztlich entscheidet – basta! Und er hätte auch etwas auf den Vorwurf erwidern können, dass er sich am Tisch gerade wie der Sonnenkönig geriere – aber sein Kopf war leer und brummte leise vor sich hin – und so kam es, dass er durch Partizipation heute da steht, wo seine Mutter schon vor 50 Jahren stand – und nun für ­Kochen, den Abwasch und die Küchen­hygiene verantwortlich zeichnete. Und jetzt kannst du auch gut verstehen, dass es sich meinem guten Bekannten, dem Herrn W, nicht so richtig erschließt, worin jetzt genau der Fortschritt durch Partizipation bestehen soll. Aber immerhin – die Pubertären sind seitdem ganz angetan von der Partizipation und wollen die Sache auch in Zukunft weiterverfolgen, aber erstmal haben sie dafür gesorgt, dass der Küchenmaestro auch ordentlich gekleidet rumläuft und ihn mit einem Set Schürzen ausgestattet.

Ich sag nur, als er mir das erzählte, wollte ich es erst gar nicht glauben. Klar, mein Bekannter, der Herr W, nimmt es mit Wahrheit und Dichtung nicht immer ganz so genau – aber da wird schon was dran sein an seiner Geschichte – vermute ich jedenfalls.

[*Pädagogischer Mitarbeiter im Internat; Fotos: Daniela Junge]