„Wenn ich den Kopf in den Sand stecke, werde ich verrückt“

Wie Frau Bärwald ihre Schulung in Orientierung und Mobilität erlebt hat

Isabella Brawata | Das Leben hält viele Überraschungen bereit – leider nicht nur Schöne. An einem Dienstag im September 2017 stellte Frau Bärwald plötzlich fest, dass sie vor dem linken Auge nur noch Schleier sehen konnte. Sie war beunruhigt und vereinbarte für den nächsten Tag einen Termin bei ihrem Augenarzt. Und das war gut so, denn plötzlich auftretende Sehstörungen sollte man sehr ernst nehmen. Der Augenarzt diagnostizierte ein Papillen-Ödem, eine Schwellung des Sehnervenkopfes. Da, wo die Sehnerven sich bündeln und die Augenhöhle verlassen, ist eine „Engstelle“ im Auge. Füllen sich die Sehnervenzellen und Blutgefäße des Sehnervenkopfes mit Flüssigkeit, schwillt er an. Eine starke Ausdehnung des Sehnervenkopfes hat im engen Austrittsloch, wo der Sehnerv die Augenhöhle verlässt, verheerende Folgen.

Der Augenarzt verwies Frau Bärwald umgehend an eine Augenklinik. Die Ärzte versuchten, durch hohe Cortison-Gaben und durch eine Immuntherapie die Entzündung, die das Papillen-Ödem ausgelöst hatte, in den Griff zu bekommen. Auf dem rechten Auge bemerkte sie zunächst keine Sehverschlechterung. Doch nach drei Tagen wachte sie am Morgen auf und die Welt um sie herum war grau. Über Nacht sah sie nichts mehr. Die Augenärzte machten ihr Hoffnung, dass es wieder werden würde. Sie ließ zahlreiche für sie sehr anstrengende Untersuchungen und Behandlungen über sich ergehen, doch es wurde nicht besser.

Du musst!

Die erste Zeit nach der Erblindung war für Frau Bärwald sehr schlimm. Sie lag im Krankenhaus und konnte nichts tun. Zunächst bekam sie auch keinen Rat, wie es für sie nach der Erblindung weitergehen könnte. Doch schon in der Klinik hat sie sich gesagt: „Du kannst nicht dein ganzes Leben lang wie ein Strauß den Kopf in den Sand stecken, das funktioniert nicht! sonst wirst du verrückt! Du musst mit der Situation klarkommen und etwas tun, damit du nicht in Depressionen verfällst!“

Sie wollte so schnell wie möglich entlassen werden, um den Geburtstag ihres Enkels im November feiern zu können.

Nach fünf Wochen Krankenhausaufenthalt konnte sie nicht mehr. Keine der Behandlungen schlug an. Bis heute ist die Ursache für ihre Erblindung unklar. Sie gelangte zu der Erkenntnis, dass weitere Therapien zwecklos seien und auch die Augenärzte gaben zu, dass sie nicht mehr weiterwüssten. In der Klinik in Gießen bekam Frau Bärwald die Auflage, dass sie nur dann entlassen werden würde, wenn sie sich an das Beratungs- und Schulungszentrum der Deutschen Blindenstudienanstalt e.V. (blista) wenden würde.

Im Beratungs- und Schulungszentrum der blista wurde Frau Bärwald aufgezeigt, welche Rehabilitationsmöglichkeiten es für Menschen mit Blindheit oder Sehbehinderung gibt. Um wieder mobiler zu werden, beschloss sie eine Schulung in Orientierung und Mobilität zu machen.

Eine Mutprobe der besonderen Art

Sie besorgte sich eine augenärztliche Verordnung für zwei Blindenlangstöcke sowie für eine Schulung im Gebrauch des Hilfsmittels. Das Rezept enthielt außerdem die Augenerkrankung (Diagnose), Sehschärfe (Visus) und weitere Faktoren, die zu einer Sehbeeinträchtigung führen, wie zum Beispiel hohe Blendempfindlichkeit, Nachtblindheit oder stark eingeschränktes Gesichtsfeld. Anschließend vereinbarte sie einen Termin für ein Evaluationsgespräch. Es wurde von Herrn Jungmann, einem Rehabilitationslehrer für blinde und sehbehinderte Menschen durchgeführt. Zunächst besprach Herr Jungmann mit Frau Bärwald, welche Voraussetzungen sie mitbringt und welche Ziele und Wünsche sie für die Schulung hat. Herr Jungmann ermittelte anhand des Gesprächs den Stundenbedarf und erstellte einen Schulungsplan, der zusammen mit der Verordnung an ihre Krankenkasse geschickt wurde.

Das Evaluationsgespräch war Frau Bärwald, wie sie selbst sagt, sehr wichtig. „Mir hat geholfen, dass ich durch das Gespräch erfahren habe, was eine Schulung in Orientierung und Mobilität ist und was ich in der Schulung alles lernen kann.“

Außerdem zeigte Herr Jungmann ihr unterschiedliche weiße Langstöcke sowie Stockspitzen und brachte verschiedene kleine Hilfsmittel für blinde und sehbehinderte Menschen mit. Am meisten war sie von den Sockenringen begeistert, die verhindern, dass die Socken in der Waschmaschine durcheinandergeraten, von den bunten Markierungspunkten, die man auf Haushaltsgeräte kleben kann, um diese leichter bedienen zu können und von der Unterschriftsschablone, die verhindert, dass man beim Unterschreiben in der Zeile verrutscht.

Auch Frau Bärwalds Mann hat die Unterstützung des BSZ sehr positiv wahrgenommen. „Als wir in Marburg waren, hatte ich das Gefühl, dass wir mit unserem Problem nicht allein sind, dass es Menschen gibt, die sich mit dem Handicap meiner Frau auskennen“, berichtet er.

Dinge, von denen Frau Bärwald und ihre Familie glaubten, dass sie aufgrund der Blindheit nicht mehr möglich sind, wie Karten-, oder Mensch-ärger-Dich-nicht!-spielen oder einen Kuchen backen, werden durch entsprechende Hilfsmittel (adaptierte Gesellschaftsspiele sowie sprechende Waagen und Messbecher) wieder möglich.

Die erste Unterrichtsstunde in Orientierung und Mobilität hat Frau Bärwald als „aufregend neu“ und beängstigend zugleich erlebt. Sie schildert, dass sie sich vor jeder Unterrichtsstunde vor Angst verrückt gemacht hat. Sie ängstigte sich davor, an der Bordsteinkante entlangzulaufen, um sie als Leit­linie zu nutzen, weil sie fürchtete, auf die Fahrbahn zu geraten und überfahren zu werden. Die vorbeibrausenden Autos waren ihr Anfangs unheimlich.

Zwar muss sie sich auch heute noch jedes Mal überwinden, sich auf den Weg zu machen, aber mittlerweile dient die Bordsteinkante ihr als gute Orientierungshilfe und auch ihre Furcht vor dem Straßenverkehr hat sich gelegt. „Wenn ich meine Angst niedergekämpft habe, dann läuft es“, berichtet sie. „als mich eine Nachbarin beobachtet hat, rief sie voller Bewunderung aus: Mein lieber Mann! Das hast Du aber gut gemacht! Du gehst aber ab!“

In die Stadt geht Frau Bärwald allerdings nie ohne sehende Begleitung, weil der Weg auch für geübte blinde Menschen recht schwierig und unsicher ist. Doch sie hat es geschafft, den Weg von ihrem Zuhause bis zum Gemeindehaus mit Restaurant zu lernen und geht ihn regelmäßig.

Um sich besser in die Situation seiner Frau hineinversetzen zu können, setzte sich Herr Bärwald eine Augenbinde auf und lernte Begleit- und Führtechniken und probierte aus, wie es ist, mit dem weißen Langstock Treppen zu laufen.

Mein Handicap ist etwas ganz Normales

Viele Menschen, die eine so schwerwiegende Sehverschlechterung erfahren haben, dass Sie auf einen weißen Langstock angewiesen sind, schämen sich, eine Sehbehinderung zu haben. Ihnen ist es peinlich und unangenehm, mit dem weißen Langstock gesehen zu werden. Sie möchten ihren Sehverlust vor den Mitmenschen geheimhalten.

Doch Frau Bärwald steht zu ihrem Handicap. Sie geht ganz selbstverständlich mit ihrer Seheinschränkung um, weil sie der Überzeugung ist, dass wir alle verschieden sind und dass ein Handicap zu haben genauso normal ist, wie groß oder klein, dick oder dünn zu sein. Deshalb geht sie offen mit ihrem Handicap um. Ihre Familie sieht es genauso. Darum haben ihre Angehörigen das Umfeld schon sehr früh über Frau Bärwalds Sehverlust informiert. Ihr Mann berichtet, dass Einige schockiert reagieren. „Die Leute sehen meine Frau, trauen sich aber nicht, zu ihr hinzugehen, weil sie nicht wissen, was sie machen sollen“, erzählt er, „Ich versuche den Leuten die Scheu zu nehmen, indem ich locker-flockig sage: Du musst zu meiner Frau hingehen, sie sieht Dich nicht, musst sagen, wer Du bist, musst guten –Tag-sagen, wenn Du willst. Aber ich weiß, dass das schwierig ist.“

Andere Menschen haben weniger Probleme mit Frau Bärwalds Sehverlust. Ein Bekannter feierte in dem Gemeindehaus mit Restaurant, zu dem Frau Bärwald den Weg in der Orientierungs- und Mobilitätsschulung geübt hat, seinen sechzigsten Geburtstag. Er bestand darauf, dass Frau Bärwald seine Einladung annehmen solle. Anfangs sträubte sie sich, denn die Vorstellung, nach dem Sehverlust wieder unter Leute zu gehen, behagte ihr nicht. Aber es wurde eine tolle Feier. Auch ihre beste Freundin hat nach dem Sehverlust zu ihr gehalten. Die beiden treffen sich regelmäßig.

Indem sie sich bemüht, ihren Sehverlust zu akzeptieren, macht Frau Bärwald es ihren Mitmenschen leichter, auf sie zuzugehen. Sie betrachtet Krisen nicht als Katastrophen, sondern als Veränderungen, an die man sich anpassen muss.

Trotz ihrer positiven Lebenseinstellung gibt es auch immer wieder Rückschläge. Die Zusammenarbeit mit den Ämtern hat Frau Bärwald in ihrer Situation als nervenaufreibend und zermürbend erlebt, weil die Beantragung der Schulung in Orientierung und Mobilität, des Schwerbehindertenausweises und des Landesblindengeldes sich hinzog, weil es nicht einfach war, die verlangten Unterlagen einzureichen.

„Ich kann nicht immer von mir behaupten, dass es mir gut geht“, stellt sie klar, „aber das Leben wird unerträglich, wenn man sich nach einer großen Sehverschlechterung keine Hilfe holt und nicht versucht, die eigene Situation zu verbessern.“

Kontakt:

Deutsche Blindenstudienanstalt e.V. (blista)
Beratungs- und Schulungszentrum
06421 606-500
rehaberatung@blista.de