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Ein Stoffhase liegt ohne seinen Besitzer in einem Bett

Heute: Vorbilder – Mit Chuck Norris* durch den müden Morgen

Im Frühtau zu Berge wir ziehn, fallera  

Winfried Thiessen* | Ein alles durchdringendes, rhythmisches Piepen trommelte gegen die Pforte zu seinem Bewusstsein und verlangte nach sofortigem Einlass. Im Dunkeln tastete er umständlich nach seinem Handy und brachte es schließlich zum Schweigen.

6 Uhr 35. Die Sekunden verstrichen. Ein weiteres Mal schob sich seine Hand unter der Bettdecke hervor, vorbei an seinem linken Ohr, Richtung Stehlampe am Kopfende des Bettes. Gefunden. Sofort durchbohrte ein greller Lichtstrahl seine Augenlider und ­folterte seine Netzhaut. Wieder verstrichen die Sekunden. Unter dem Flutlicht lag sein Körper immer noch völlig apathisch in der Matratze versunken und wollte nicht befolgen, was Herr W  ihm befahl. Nur noch eine Minute, dann würde er aufstehen, schwor er sich. In der Verlängerung der Nachspielzeit dieser Minute begann sein Kopf den Abstand zum Kissen behutsam zu vergrößern, doch seine Beine verweigerten ihm immer noch ihren Dienst, wollten einfach nicht aus der wohligen Wärme des Bettes in das februarkalte Betreuerzimmer. Am Vorabend musste einer seiner Zöglinge unbedingt noch spät ein Problem bei ihm abladen. Herr W hatte es mit ins Bett genommen und hin und her gewälzt. Gegen eins fiel die Küchentür laut ins Schloss. Als er das letzte Mal auf die Uhr schaute, war es gegen halb zwei gewesen. Chuck Norris braucht keinen Schlaf – der Schlaf braucht ihn!

 Endlich geschafft! Ein letzter sehnsüchtiger Blick: Sein Bett lag verlassen und zerwühlt da. Er wankte schlaftrunken durch Flur und Küche ins Bad. In das Bad mit der den Bedürfnissen seiner Zöglinge entsprechend guten Ausleuchtung. Chuck Norris schaut nicht in den Spiegel, denn selbst Chuck Norris hat Angst vor Chuck Norris. Herr W fuhr mit dem Deoroller unter seinen Achseln entlang, einmal hoch einmal runter – französische Wäsche – keine Kraft und keine Zeit für mehr, denn der Kaffee sollte gekocht sein, bevor die ersten Frühstücker in der Küche eintrafen. Im Halbschlaf räumte er noch schnell die Überreste einer nächtlichen Fress­attacke zur Seite, dann ergriff er mit traumwandlerischer Sicherheit die Box mit dem Kaffeepulver im Hängeschrank über der Spüle. Nach Filtertüten suchte er jedoch vergeblich, auch im Vorratsschrank herrschte gähnende Leere. Chuck Norris trinkt den Kaffee schwarz – ohne Wasser. Seine müden Hirnwindungen arbeiteten an einer Alter­native – aber Küchenrolle war aus und das Toilettenpapier der Wohngruppe löste sich für gewöhnlich schon beim Abrollen in den Händen auf. Er öffnete den Kühlschrank. Gestern Abend hatten dort noch zwei an­gebrochene Milchtüten gestanden, die sich nun im Gelben Sack befanden. Cappuccino fiel also auch aus. „Schei­ …!“ knurrte er und kochte für sich einen Tee, schwarz, kurz gezogen mit viel Zucker – der Nerven wegen. So gewappnet konnte er das nun folgende Genöhle der Müslifraktion – Schei … keine Milch mehr da – besser über sich ergehen lassen, in das kurz darauf lautstark auch die Kaffeetrinker – Schei… keine Filtertüten mehr da – einfielen. Das weitere allmorgendliche Gemurre ließ er kommentarlos an sich vorüberziehen. Hier eine ungefähre inhaltliche Zusammenfassung: Ich habe heute keine Lust auf Schule (allgemein), oder: Ich habe heute keine Lust auf … (In das freie Feld bitte ein Schulfach oder wahlweise einen Lehrernamen einsetzen). Chuck Norris ging immer gerne zur Schule – denn die Schule hatte viel zu viel Respekt vor Chuck Norris, um keine Lust zu haben.

Gegen 7 Uhr 30 begann das Telefon ausdauernd zu läuten. Herr W hatte den Anruf aus der unteren Etage schon früher erwartet und ließ sich Zeit. Chuck Norris kann schneller sitzen als du laufen kannst. Keiner aus der Smartphone-Generation würde sich vom Klingeln eines Festnetzapparates angesprochen fühlen und ihm in die Quere kommen. Er tippte auf Halsschmerzen mit einer tootaal verstopften Nase, nahm noch schnell einen Schluck Tee und schleppte sich dann in den Flur. Irgendwie kam ihm der Hörer heute Morgen viel schwerer als sonst vor. „So, dein Auge tut dir weh?! Und du willst heute in der Wohngruppe bleiben, bis es besser wird“, wiederholte er. „Du weißt, beim Auge hört der Spaß bei mir auf! Und für wie dämlich hältst du mich eigentlich? Du schreibst heute Mathe, los verschwinde in die Schule oder soll ich runter kommen?!“ 

Kurz darauf klingelte das Telefon erneut – wieder von unten. Sein erschöpfter Geist ging seine Zöglinge durch. Wen könnte die Verzweiflung, zur Schule zu müssen, noch spontan dahingerafft haben? Aber es war diesmal nur die gute Reinigungsfee der Wohngruppe. Herr W hatte ein abgeklärtes Verhältnis zur Reinigungsfee. Nach 25 Jahren waren die Verhältnisse geklärt. Chuck Norris spielt nicht den Helden. Spielen ist für Kinder.

Für die Reinigungsfee gab es zwei Dinge im Leben, die auch für Chuck Norris nicht verhandelbar waren: Sauberkeit und Ordnung im Wohngruppenwunderland Punkt, Ausrufezeichen. Allerdings ein fast unmögliches Unterfangen, denn im Wohngruppenwunderland hausen – in quasi symbiotischer Polarität – ihre pubertären Kontrahenten. Nur gut, dass Stift und Papier schon parat lagen, um schriftlich festhalten zu können, was es benötigte, um die Lücke zwischen Feen-Anspruch und pubertärer Wirklichkeit zu schließen und so den kleinen Kosmos der Wohngruppe wieder in Einklang zu bringen – wenn auch nur für kurze Zeit. Herr W notierte sich die Beschwerden der Yang-Seite gewissenhaft und würde sie zu gegebener Zeit der Yin-Seite mitteilen, denn wer, wenn nicht er, könnte es sonst schaffen, These und Antithese zur Synthese zusammenzuführen und aus Dissonanz Harmonie werden zu lassen. Herr W war von seinen intellektuellen Betrachtungen richtiggehend begeistert – und das in seinem Zustand! Chuck Norris liest keine großen Philosophen – Kant, Hegel und Kollegen lesen Chuck Norris.   

Das Foto zeigt eine Lok im Marburger Hauptbahnhof

Der Rest des Morgens war zum Glück nur noch Formsache. Als er um kurz nach neun die Wohngruppe Richtung Marburger Hauptbahnhof verließ, war es noch frostig. Gut für sein mattes Hirn. Auf der Zugfahrt ins heimatliche Frankfurt würde er gleich ein kleines Powernäppchen machen, sonst würde man ihn den Rest des Tages in der Pfeife rauchen können.

Eintraacht, Eintraacht! Berlin! Berlin! Wir fahren nach Berlin! Rhythmisches Klatschen, Bierflaschengeklirre … Verdammt, er hatte das DFB-Pokalspiel am späteren Nachmittag vergessen! Alle Wagons war gerammelt voll, so als hätte sich das gesamte Stadion hier auf dem Bahnhof in Marburg versammelt. Chuck Norris betritt nicht das Zugabteil – er erscheint! Er bahnte sich seinen Weg durch grölende Jungmänner, kletterte über herumstehende Bierkästen und quetschte sich schließlich im Fahrradabteil auf einen un­bequemen freien Platz zwischen zwei berauschte Fans, froh darüber, überhaupt einen Sitzplatz bekommen zu haben. Chuck Norris hat schon mehr Eintrachtfans vermöbelt als IKEA – aber Chuck Norris verliert nie die Nerven – die Nerven verlieren Chuck Norris. Berlin! Berlin! Wir fahren nach Berlin! Berlin! Berlin…

Der Abspann

Szenen, die aus Jugendschutzgründen der Zensur zum Opfer gefallen sind: Was geht einem Eintracht-Fan durch den Kopf, wenn er auf Chuck Norris trifft? – Der Fuß von Chuck Norris. Fin. Ende. The End. Endlich Ruhe!

 * Du weißt nicht wer Chuck Norris ist?! Alder, hat dich deine Mami immer nur Bildungsfernsehen gucken lassen?
[*Pädagogischer Mitarbeiter im Internat]