Winnies wunderbare Welt
Heute: Nestbau – come as you are
Winfried Thiessen, pädagogischer Mitarbeiter im Internat
Eins
Im Augenblick passierte gerade mal wieder nicht so viel in seiner Wohngruppe.
Deshalb arbeitete Herr W passiv, schaute bei einem großen Cappuccino aus dem Küchenfenster und beobachtete zwei Elstern dabei, wie sie trotz Nieselregens fleißig Zweige für den Bau eines Nestes hoch oben in einer Birke im Garten sammelten. Doch plötzlich galt etwas ganz anderem seine Aufmerksamkeit.
Ein Schlüssel, der unbeholfen das Schloss suchte. Eine Wohnungstür, die sich knarrend öffnete. Ein junger Mann, der die Küche betrat. Die feuchte Kapuze eines Hoodies wurde heruntergerissen und legte einen blonden, lockigen Schopf frei – gefärbt, das sah Herr W sofort.
Einer der begnadetsten Animateure der Wohngruppe stand vor ihm. Ein kurzer Dialog entwickelte sich: „Schon Schule aus?“ – „Nee, Mittagspause. Ich habe Hunger!“ – „Es gibt einen Speisesaal da oben!“ - „Gehe ich nie hin! Mache mir ein paar Sandwichtoasts und dann muss ich wieder hoch.“ Gebannt starrte Herr W in Richtung Sandwichmaker, auf dem gerade vier Scheiben Sandwichtoast sorgfältig platziert wurden.
Auf ihnen landeten kurz darauf jeweils vier Scheiben Sucuk, gefolgt von einer Lage Mozzarella, die sofort mit einer Schicht Paprikahähnchenbrustfilet abgedeckt und gleich darauf mit einer Scheibe Gouda garniert wurden. Der blonde Schopf öffnete den Kühlschrank erneut. Lugte suchend hinein, griff nach dem Géramont und wollte ihn gerade auspacken, als erneut ein Dialog einsetzte, der recht schnell zu einem Monolog wurde: „Was hast du mit dem Camembert vor?!!!“ – „Mach ich mir auf die Sandwichtoasts, habe Hunger!“ – „Wage es nicht!!!“ Vorbei war es mit seiner Gemütlichkeit. Herr W tat, was von ihm erwartet wurde - er regte sich auf, vollumfänglich. Er war kein Sniper, was sowas anging, feuerte lieber Streusalven aus allen Rohren: Er solle mittags gefälligst im Speisesaal essen! Das Essensgeld sei sowieso knapp bemessen! Er solle auch mal an die Verteilungsgerechtigkeit in der WG denken! Herr W machte eine kurze Pause um nachzuladen. Und wieder Feuer frei: Er appellierte an irgendwelche christlichen Werte und beschwor den Untergang des Abendlandes durch derartigen Egoismus, Verschwendung und Gier. Er stoppte, hatte sein Magazin leer geschossen.
Ihm fiel einfach nichts mehr ein, was er hätte noch heraufbeschwören können.
Die blonden Locken grinsten. Der Camembert wanderte zurück in den Kühlschrank. Die vier belegten Türme bekamen ihre finale Toastscheibenabdeckung.
Klappe zu. Kurz darauf wurden zwei von den noch dampfenden Presstoasts von den blonden Locken sofort verschlungen - Formel 1 ein Schneckenrennen dagegen - die beiden anderen als Wegzehrung eingetütet. Die Kapuze des Hoodies wurde hochgezogen. Und tschüss wurde gesagt! Die Wohnungstür fiel ins Schloss. Draußen nieselte es noch immer. Stille.
Herr W wechselte wieder in den Passivmodus.
Der Nebel in der Küche lichtete sich nur langsam, schwer hangen die verbrannten Fette in der Luft. Er hätte lüften können, aber dazu hätte er aufstehen müssen. Er suchte nach den beiden Elstern. Die blieben aber verschwunden. Stattdessen fielen ihm die plündernden Horden im 30-jährigen Krieg ein. Gegen den Blondschopf waren das doch nur Kaffeekränzchen, dachte er und begann zu rechnen: mal locker ein eher zwei Euro passten zwischen zwei Sandwichtoastscheiben. Er fragte sich, was wohl in so einem jungen Magen vor sich ging? Runter zur WG, wieder hoch zur blista, das sind drei-, viertausend Schritte und knapp zweihundert verbrannte Kalorien. An die verbrannten Euros weigerte er sich zu denken.
Zwo
Im Augenblick passierte gerade wieder einmal nicht so viel in der Wohngruppe.
Herr W arbeitet, bei einem Cappuccino, mal wieder passiv, schaute aus dem Fenster und beobachtete seine beiden Elstern bei dem Versuch, im Wipfel einer der drei Birken ihr Nest endlich zu vollenden. Eine steife Brise ließ die Baumkronen heftig hin und her schwanken, aber selbst unter diesen ungünstigen Bedingungen bauten sie unermüdlich weiter. Er sah schon die jungen Baby-Elstern vor sich, wie sie sich die Seele aus dem Leib kotzten, wenn ihre Eltern mit dem Nestbau Erfolg haben sollten. Du siehst, im Kopf von Herrn W da geht es aktiv zu, auch wenn es von außen gerade nicht so ausschaut. Doch plötzlich galt etwas ganz anderem seine volle Aufmerksamkeit.
Ein Schlüssel, der unbeholfen das Schloss suchte. Eine Wohnungstür, die sich knarrend öffnete. Ein Jüngling, der die Küche betrat. Die Kapuze eines Hoodies, die 49 2/2025 heruntergerissen wurde. Ein blonder, lockiger Schopf, der freigelegt wurde. Ein Herr W, der glaubte gerade ein Déja-vu zu haben. Aus die Maus, sein Animationsprogramm war wieder zugegen.
„Du schon wieder?!“ – „Du auch schon wieder!? Ich habe Hunger!“ Die Packung mit dem Sandwichtoast wurde geschnappt. Sechs Scheiben Toastbrot wanderten auf ein Schneidebrettchen.
Ein weiterer kurzer Dialog. „Was machst du da?!“ – „Siehst du doch! Ich schneide den Rand vom Toastbrot ab, der ist so hart, schmeckt ohne besser!“ Herr W hüllte sich in eisiges Schweigen. Konnte nichts sagen. War erstarrt. Die Krusten wanderten in die Biomülltonne. Am liebsten wäre er hinterher gesprungen.
Er erinnerte sich aber gerade noch rechtzeitig, dass Containern verboten war. Der nächste Dialog, kurz und knapp: „Was glaubst du, was du da im Begriff bist zu machen?“ – „Siehst du doch! Oder willst du die Kruste essen?“ Herr W zögerte, versuchte seine Gedanken zu sortieren.
„In Afrika hungern die Kinder und du?!“ platzte es aus ihm heraus. Hatte er das gerade eben wirklich gesagt? Durfte man so etwas überhaupt noch sagen? Er war kein begnadeter Tänzer, aber diesmal wuchs er über sich hinaus, der Blondschopf hatte für die nötige Motivation gesorgt. Was für eine Choreografie Let´s dance eine Reha-Veranstaltung dagegen. Durch die Küche gehoppelt ist er wie Rumpelstilzchen und dabei geschimpft hat er vielleicht, aber sowas von. Der Blondschopf grinste sich einen. Stopfte die fertigen Toasts in sich rein, Geschwindigkeit – affenartig. Und tschüss wurde gesagt. Seine Kollegin hatte Herrn W ja vorgewarnt: So was macht er nur bei dir. Als sich der Fettnebel gelegt hatte – irgendwann muss der Sandwichtoaster wohl doch mal saubergemacht werden - und das Espressokännchen die Grundlage für seinen Cappuccino ausgespuckt hatte, widmete Herr W sich wieder den beiden Elstern, die unermüdlich an ihrem Nest weiterarbeiteten, auch unter schwierigsten Bedingungen. Woher wussten sie nur, ob sie dabei alles richtigmachten? Klar hatte er sich aufgeregt. Er musste ja die Erwartungshaltung, die man an ihn stellte, erfüllen und authentisch rüberkommen – einfach so einen alten Mann verarschen, die Jugend - ohne Skrupel. Die beiden Elstern würden bald ihren Nachwuchs durchfüttern müssen und würden sicher viel zu tun haben, die kleinen Schreihälse satt zu bekommen. Herr W dachte darüber nach, wie er wohl den Antrag für einen Zuschuss zum Lebensmitteletat am besten formulieren sollte - oder sollte er doch lieber den Sandwichmaker aus dem Fenster schmeißen?