Buchtipp Roman: Anne Richter – Sendezeit

Cover Anne Richter: Schwarzweißfoto einer jungen Frau, sie hat den Kopf geneigt und scheint einem Gerät in ihrer Hand zu lauschen.

DDR 1952, die neue Blindenanstalt in W. wird bezogen. Einer der Lehrer und Hauptprotagonist des Romans ist Hinrich Matuschek, ehemaliger Funker in der Wehrmacht. Hinrich unterstützt seine Schüler*innen bei ihrem Vorhaben, eine Radiosendung zu produzieren und damit auf Sendung zu gehen, ohne sich die Inhalte ihres Programms von oben absegnen zu lassen. Völlig unerwartet stehen sie nun alle, trotz unverfänglicher, harmloser Radiobeiträge, am Pranger. Der Vorwurf: Gefährdung der sozialistischen Ordnung. Nicht alle sehbeeinträchtigten Schüler*innen sind bereit kleinbeizugeben, gehen in Konfrontation – mit Konsequenzen für sie. Hinrich laviert sich durch das Gestrüpp der Vorwürfe, bezieht alles, nur keine eindeutige Stellung. Ganz anders sein Vorgesetzter, der Direktor der Einrichtung – er übernimmt Verantwortung, stellt sich vor die Betroffenen. Für seine Standhaftigkeit landet er im Gefängnis. Hinrich wird hingegen informeller Mitarbeiter der Stasi, verfasst Berichte über seine Schüler* innen. Dabei ist er davon überzeugt, dass er seine Berichte so verfasst, dass sie seinen Schüler*innen nicht zum Nachteil gereichen, meint sie so beschützen zu können, ihnen eine gute Zukunft zu sichern. Dafür darf er weiter Lehrer bleiben und richtet sich im System ein.

1952. Der Kalte Krieg hat an Fahrt aufgenommen. Die sozialistische Gesellschaftsordnung im Osten Deutschlands, geplant als Gegenentwurf zum bürgerlichen Kapitalismus im Westen, der eben noch mit dem Faschismus paktiert hatte, um seine Ziele zu erreichen, befindet sich noch im Aufbau. Die wirtschaftliche Lage ist angespannt. Die Angst vor dem kapitalistischen Klassenfeind allgegenwärtig. Der Weg in eine bessere Zukunft muss noch gegangen werden, dazu müssen die Reihen geschlossen werden, nicht nur im Osten. Eine eigene Meinung, wie gut sie auch gemeint ist, die nicht deckungsgleich mit dem jeweiligen Gesellschaftssystem war, kostete sowohl im Westen, dafür steht u. a. die McCarthy-Ära in den USA, als auch im Osten, ihren Preis. Das ist die große Weltbühne, auf die Anne Richter ihre unbedeutenden Protagonisten im Roman Sendezeit stellt. Unfreiwillig im Rampenlicht: die Schüler*innen einer Blindenanstalt.

Ich bin ja kein Fan von ahistorischem DDR-Bashing, aber Anne Richter hält sich angenehm zurück, wertet nicht, beschreibt. Sie zeigt, wie Menschen auf völlig unterschiedliche Art und Weise auf eine für sie unübersichtliche und bedrohliche Situation reagieren, basierend auf ihren Vorerfahrungen, ihren persönlichen Werten, ihrer gesellschaftlichen Position. Die einen begehren auf, die anderen taktieren, suchen einen wie auch immer gearteten (Aus)Weg: So werden manche zu Mitläufern, andere zu Karrieristen, wieder andere hauen einfach in den Westen ab. Sendezeit von Anne Richter ist ein unaufgeregt geschriebener, gut zu lesender Roman.

Das Buch von Anne Richter ist als Hörbuch in der Leselust-App der „Deutschen Blinden-Bibliothek“ zu finden.