Mehr als ein Hilfsmittel
Warum ein Blindenführhund?
Lara Reiser, Abi 2014 | 2015 stand ich zu Beginn meines Psychologiestudiums in Erlangen vor einer logistischen und sicherheitsrelevanten Herausforderung: Ich wohnte in Nürnberg, weil ich mit meiner Katze keine Wohnung im überteuerten Erlangen fand und das Studentenwohnheim für Haustiere nicht geeignet war. Die Wege zwischen Hörsaal, Seminarräumen und Bibliothek lagen zum Teil weit auseinander und die Veranstaltungen waren eng getaktet. Mit dem Blindenstock zu pendeln war oft nicht mehr praktikabel – erst recht nicht in einer Fahrradstadt wie Erlangen, in der ich mit dem Stock regelmäßig in Speichen, herumliegenden oder querstehenden Fahrrädern bzw. an deren Lenkern hängen blieb. Erschwerend kam hinzu, dass ich ständig ungefragt von fremden Menschen „übernommen“ wurde: Sie fassten mich kommentarlos an, führten mich in Züge, aus denen ich gerade ausgestiegen war, überquerten mit mir Straßen, die ich gar nicht überqueren wollte oder bugsierten mich wortlos Treppen hinunter – ohne überhaupt zu fragen, ob ich Hilfe brauche. All das war belastend, nagte an meinem Selbstwertgefühl (hatte ich doch gerade ein Jahr alleine in Afrika hinter mir und wurde nun von mir völlig Fremden als komplett unselbstständig abgestempelt) – und manchmal auch gefährlich.
Der Wendepunkt kam Ende 2015, als ich direkt vor meiner Haustür in einen U-Bahn-Schacht stürzte. Nach einem anstrengenden Tag mit mehreren Ortswechseln, einem gehaltenen Referat und langen Fahrten im öffentlichen Nahverkehr war ich schlichtweg zu erschöpft, um noch aufmerksam genug für meinen Heimweg zu sein. Ich brach mir den linken Arm und splitterte mir den rechten Daumen. Das war der Moment, in dem ich für mich entschied: Ich brauche mehr Sicherheit, mehr Autonomie – und damit einen Blindenführhund.
Der Weg zu Lincoln, meinem ersten Blindenführhund
Ich besuchte drei Führhundschulen, lief mit unterschiedlichen Hunden im Geschirr und entschied mich nach sorgfältiger Abwägung für eine Schule, die mit meinen Vorstellungen u. a. was Ausbildungsmethoden, aber auch Nachbetreuung anging, weitestgehend übereinstimmte. Die Auswahl von Lincoln, einem blonden Labrador aus deren eigener Zucht, erfolgte gemeinsam mit den Trainern – nach Kriterien wie Arbeitsfreude, Belastbarkeit, Souveränität im Alltag, einem freundlichen, aber nicht distanzlosen Wesen gegenüber anderen Menschen und einem stabilen Nervenkostüm. Im August 2016 starteten Lincoln und ich gemeinsam in unser neues Leben. Direkt nach der Einarbeitung legten wir die Gespannprüfung ab und lebten die ersten Monate zusammen in Nürnberg, legten den Weg zu den verschiedenen Veranstaltungsorten in Erlangen gemeinsam zurück und verliefen uns hin und wieder auch in diversen Parkanlagen oder im Wald am Stadtrand von Nürnberg.
Lincoln war nicht nur mein Führhund – er war mein Freund, mein Teampartner und mein Begleiter in allen Lebenslagen. Wir reisten durch Europa, besuchten Kongresse und Vorlesungen, erkundeten Städte und Wälder. Doch das Leben mit Führhund bringt nicht nur Vorteile.
Die Schattenseiten
Gerade in der Anfangszeit mit Lincoln, und später auch mit seinem Nachfolger Tucker, war ich immer wieder mit Unwissen und Ignoranz konfrontiert. Von außenstehenden Passant*innen hörte ich Kommentare wie „Ist der schon richtig ausgebildet?“ oder „Klappt’s noch nicht so ganz?“ – warum völlig unwissende Menschen zur Arbeit meiner Hunde ihren Senf dazu geben müssen, ist und bleibt mir wohl auf ewig ein Rätsel. In Supermärkten oder Restaurants musste ich mitunter um den Zutritt kämpfen, obwohl Führhunde in Deutschland rechtlich als medizinische Hilfsmittel anerkannt sind. Immer wieder kam es vor, dass fremde Menschen Lincoln im Freilauf, trotz mehrfacher Bitten um Unterlassung, fütterten und belästigten. Aus diesem Grund zog ich im Juni 2017 aufs Land: weniger Müll, weniger Reize, mehr Freilaufmöglichkeiten – und mehr Ruhe für uns beide.
Auch im Alltag bleibt nicht alles rosig. Wenn ein Hund Durchfall hat oder sich übergibt, ist das für niemanden schön – wenn man aber blind ist und alleine wohnt, kann die Suche nach dem Ort, aber vor allem das Entfernen des meist sehr großflächig verteilten Malheurs zur echten Herausforderung werden. Und dennoch: Kein Vergleich zum Leben davor.
Kein Navi – sondern ein Teampartner
Ein Blindenführhund ist keine Maschine. Er ist kein Navigationssystem, das jeden Weg sofort und auf Anhieb findet. Gerade auf neuen Wegen braucht er klare Kommandos von mir: Wo genau wir langgehen. Was ich von ihm möchte. Die Verantwortung für uns als Team liegt also zu 100 % bei mir als Teamleader. Ein Führhund kann nur so gut arbeiten, wie der Mensch, der am Führbügel an ihm hängt, ihn anleitet, unterstützt und führt. Nur durch diese Teamarbeit entsteht eine verlässliche, funktionierende Partnerschaft.
Mehr Freiheit, mehr Selbstbestimmung
Seit ich mit Führhund unterwegs bin, wurde ich nur noch sehr selten ungefragt angefasst oder irgendwohin gezerrt. Ich bleibe nicht mehr an Fahrrädern hängen, muss mich, wenn mein Hund im Geschirr ist, nicht mehr bei anderen einhaken, sondern kann mich mithilfe des Kommandos „Folgen“ ganz natürlich und autonom neben anderen Menschen bewegen.
Die tägliche Arbeit mit meinem Hund ist mehr als ein Mittel zum Zweck – sie ist mein Hobby, meine Leidenschaft. Ich trainiere viel mit ihm, bringe ihm neue Dinge bei, fördere und fordere ihn. Dadurch habe ich einen zuverlässigen, meist sehr wohlerzogenen und ausgeglichenen Begleiter.
Abschied von Lincoln
2023 dann der Schock: Lincoln bekam, für mich völlig aus dem Nichts, im Alter von nur acht Jahren die Diagnose Lungenkrebs. Drei Lungenlappen wurden entfernt, es folgte eine Erhaltungstherapie mit Chemotherapie. Trotz aller Bemühungen hatte der Krebs bereits gestreut. Im Februar 2024 starb Lincoln in meinen Armen. Sein Tod war nicht nur ein emotionaler Verlust – er entzog mir einen großen Teil meiner Mobilität, meiner Autonomie und meiner Freiheit.
Ein neues Kapitel mit Tucker
Tucker kam im November 2024 zu mir – ein junger, unfassbar freundlicher Labrador mit enormem Will-to-please. Von Anfang an zeigte er eine bemerkenswerte Führigkeit und Begeisterung für die Arbeit. Gleichzeitig ist Tucker deutlich sensibler als Lincoln es war. Lincoln war souverän, unerschütterlich – der Fels in der Brandung. Aber seine Distanziertheit und Unerschrockenheit bedeutete auch mehr Arbeit: Heißt „nein“ wirklich „nein“, oder wie sieht es da mit dem Ermessensspielraum aus? Er war sich seiner Sache so sicher, dass er mich auf völlig unbekannten Wegen und in fremden Ländern ohne Probleme wieder an den Ausgangspunkt zurückführte.
Tucker dagegen ist ein Clown. Er braucht nur sehr selten einmal eine Korrektur meinerseits und war für mich von Anfang an, auch im Freilauf, in Hotels und auf fremden Wegen, sehr leicht händelbar. Dafür verlangt die Arbeit mit ihm mehr Rücksicht, mehr gegenseitige Abstimmung – aber es lohnt sich, weil Tucker mit seinem Herzen mitarbeitet. Beide Hunde waren auf ihre Weise perfekt für mich – zu ihrer Zeit.
Cabin Crew, ready for takeoff
Vielleicht ist ja auch noch ein wenig mehr drin? Mit Tucker erarbeite ich mir jetzt gerade das, was ich mit Lincoln bereits erreicht hatte – auf neuen Wegen, mit frischem Wind, aber mit denselben Prinzipien: Vertrauen, Motivation, Teamarbeit, Respekt und jeder Menge Spaß.
Wir entdecken jetzt gemeinsam neue Wege – auch ganz konkret. In diesem Sommer habe ich, neben einigen Kurztrips durch Deutschland, zwei besondere Reisen gemacht: ein verlängertes Wochenende in Paris, auf Lincolns Spuren, und eine Woche in Livorno und Umgebung, weil ich auch Italien mit Blindenführhund erkunden wollte. In beiden Fällen bin ich alleine mit Tucker hingeflogen und habe mich vor Ort mit meinen Reisebegleiter*innen getroffen.
In Paris zeigte sich, wie wertvoll Tuckers Arbeit wirklich ist. Menschenmengen, hupende Autos, unübersichtliche Kreuzungen und enge Treppenabgänge in die Metro wurden unser erstes gemeinsames Abenteuer in einem fremden Land. Er führte mich durch das Labyrinth aus Gassen, Menschen und Sehenswürdigkeiten, blieb konzentriert, freudig und motiviert, selbst im touristischen Trubel am Eiffelturm, auf den breiten Boulevards und inmitten der überfüllten Champs-Élysées.
In Italien hatte Tucker am Flughafen von Florenz, im Marktgedränge und am Hafen von Livorno, aber auch in den kleinen wuseligen Gässchen von Volterra genug Herausforderungen zu meistern. Er wird mit jeder Aufgabe und jedem Abenteuer, das wir gemeinsam erleben, erwachsener, sicherer und souveräner. Fliegen mit Führhund war für mich selbst auch eine ganz neue Erfahrung und vor allem war es etwas, dass ich mit Lincoln nie erlebt habe, also etwas, das nur Tucker und mir gehört.
Die Reisen selbst verliefen überraschend reibungslos. Tucker meisterte den Trubel an den Flughäfen, die Sicherheitskontrollen, das Einsteigen und die Enge im Flieger mit einer Ruhe, als wäre er schon hundertmal geflogen. Er lag während des gesamten Flugs entspannt zu meinen Füßen, beobachtete anfangs neugierig, was um uns herum geschah und döste nach wenigen Minuten entspannt auf der Seite durch den Flug. Beide Reisen habe ich als essenziell für die Stärkung der Bindung zwischen Tucker und mir empfunden. Lea und Tucker in Italien
Ich habe das Glück, mit einem sehr belastbaren Hund unterwegs zu sein, der mit ganzem Herzen arbeitet und freue mich auf die Herausforderung, auf das Abenteuer sowie auf das Vertrauen, das uns als Gespann von Tag zu Tag, auf jedem Weg und mit jeder gemeinsamen Erfahrung immer enger zusammenschweißen wird. Tucker tritt in große Fußstapfen und füllt sie mit seiner ganz eigenen Energie, mit seiner unbändigen Lebenslust und mit seinem sonnigen Wesen.
Fazit
Ein Blindenführhund ist kein einfacher Begleiter – er ist kein Werkzeug, kein Haustier im klassischen Sinne. Er ist ein Teampartner, ein Freund und er bedeutet Arbeit. Und zwar exakt so lange, bis er aufhört zu atmen. Es gibt Rückschläge, Herausforderungen und viel Verantwortung. Aber die Freiheit, die ein guter Führhund mir schenkt, ist unbezahlbar. Durch sie kann ich selbstbestimmt leben, arbeiten, reisen – und an den Herausforderungen wachsen, die uns in unserem Alltag begegnen.