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Coladosen und ein Strumpf mit aufgebrachten Gesichtern

Heute: Servus ist ein lieber letzter Gruß, wenn man Abschied nehmen muss*

Über den Umzug in eine Selbststän­digen-Wohngruppe

Die lieben Mitbewohner

Winfried Thiessen**. Achtung! Vorsicht! Ich setzte zur Landung an!“ „Leute, schnell die Köpfe runter, da kommt ‘ne Coladose geflogen! Hoffentlich ist sie auch leer! – Upps, das wird ‘ne dicke Beule geben!“ „Hallo zusammen! Sagt mal, geht der immer so robust mit uns um!?“ „Willkommen, werte Coladose! Darf ich mich vorstellen: Zahnpastatube, halb ausgepresst. Neben mir, das ist die leere Shampooflasche, dahinter der Hügel muffelnder Socken.“ „Hey Tube, nicht alle über einen Kamm scheren, von uns sind einige auch frisch gewaschen! Wir liegen nur mit diesen Mufflern zusammen auf einem Haufen!“ „Was sollen wir denn sagen? Nicht, dass ihr uns jetzt falsch versteht, wir haben nichts gegen euch Pullis. Wir, die Bücher, liegen sogar recht bequem auf euch, aber ganz frisch unter den Achseln seid ihr auch nicht alle.“ „Hallo dann, nett euch alle kennenzulernen. Liegt ihr hier schon länger rum?“ „Ach frag‘ nicht nach Sonnenschein, verehrte Coladose! Ich war mal ein junger edler Cremetopf. Jetzt bin ich alt und ranzig. Mein Besitzer scheint gar nicht mehr zu wissen, dass es mich noch gibt.“ „Hör doch auf zu heulen, du willst gar nicht wissen, wie die Pralinen in meiner Geschenkverpackung ausschauen. Ich sag nur: außen hui, innen pfui!“ „Wenn ihr schon alle auf Mitleid macht: wir CDs lagern hier schon am längsten, völlig verklebt sind wir zudem auch noch. Und wir hatten noch gehofft, als die Ice-Tea-Packung hier reingeflogen kam, dass sie auch ordentlich zugedreht ist. War sie natürlich nicht.“ „Und wer ist das da hinten in der Ecke, liebe Tube?“ „Meinst du die beiden Joghurtbecher, liebste Dose? Ach, die reden nicht mit uns, die glauben an Recycling. Sie meinen, dass sie irgendwann als etwas Bedeutenderes wiedergeboren werden! Dahinten ist noch so ein unangenehmer, hochnäsiger Zeitgenosse, das alte Handy. Es glaubt doch tatsächlich, dass es einmal für Ebay gecastet wird. Aber das lungert hier schon genauso lange auf dem Boden rum, wie wir anderen auch.“

Kraut und Rüben

Unaufgeräumtes Allerlei

„Hey Tube, was sind das denn für alte Schachteln da drüben?“ „Meinst du die platten Flundern, die da an der Wand lehnen? – Die warten. Das sind Umzugskartons, die ­stehen da schon mindestens drei Wochen. Einer von ihnen musste schon ins Altpapier, weil unser Besitzer drüber gestolpert ist, als er beinahe auf seinen Laptop getreten wäre. Der Karton war sofort hinüber, hat wohl nichts davon gemerkt.“ „Umzugskartons? Für was brauchen wir die denn, teuerste Tube?“ „Unser Besitzer wird bald in eine Selbstständigen-Wohngruppe ziehen. Muss nur noch seine Sachen packen, deshalb die ganzen Kisten da drüben, verehrte Dose.“ „Da ist ja noch ganz schön was zu tun. Wo ist eigentlich unser Besitzer? Ich kann ihn nirgends entdecken!“ „ Der liegt dort drüben auf dem Bett und hört Musik! Aufgepasst, es hat geklopft!“ „Er reagiert ja gar nicht, vielleicht schläft er ja. Wer ist das, Tube?“ „Das ist Herr W, der Erzieher von unserem Besitzer!“ „Sieht nicht sehr fröhlich aus. Er schimpft mit unserem Besitzer. Du Shampooflasche, was ist ein Pascha?!“ „Ich glaub, das ist jemand, der viele Bedienstete hat, die er für sich arbeiten lässt!“ „Unser Besitzer ist also ein Pascha?! Aber Kraut und Rüben gibt es doch gar keine im Zimmer!“ „Oh Dose! Er meint, dass es hier chaotisch aussieht und dass unser Besitzer keinen Finger rührt!“ „Junge, mit welcher Wucht der Erzieher die CDs in die Kiste feuert! Hoffentlich geht er mit uns sanfter um! Was macht denn unser Besitzer da, Shampoo?“ „Das nennt man in der Nase bohren! Oh, er ist fündig geworden! – Zumindest hält er in seinem Riechkolben Ordnung!“ „Na Kinners, für euch geht’s wohl gleich in den gelben Sack! Wünsche euch dann mal eine gute Reise!“ „Hör nicht auf ihn, Dose. Der alte Turnschuh hat seinen Bruder verloren, seitdem ist er etwas merkwürdig drauf!“ „Hast du gehört, was Herr W zu unserem Besitzer gesagt hat? Den Rest müsse er selber einräumen, seine Zeit als Diener sei nun abgelaufen. Unser Besitzer müsse endlich lernen, auf eigenen Füßen zu stehen. In der SWG hätte er auch niemanden, der ihm ständig seine Sachen hinterher räumt. – Du Tube? An Herrn W ist ja ein Prediger verloren gegangen.“ „Psst, liebe Dose, jetzt habe ich nicht verstanden, was unser Besitzer geantwortet hat.“ „Sorry, er hat gesagt: ja, ja – und er hätte doch noch zwei Tage Zeit.“

Noch dreieinhalb Stunden – Der Countdown läuft

Donnerstag 13 Uhr. Noch dreieinhalb Stunden bis der Umzugswagen kommen würde, und noch war keine Kiste gepackt. Herr W saß in sich gekehrt auf seinem Stammplatz am Küchentisch und verfolgte den Zeiger der Wanduhr dabei, wie er unaufhaltsam eine Sekunde nach der anderen verschlang. In der Kaffeemaschine gluckerte das Wasser so vor sich hin, als hätte es alle Zeit der Welt

– Verkalkung. Aus dem Umzugszimmer hämmerte Rammstein. Herr W erwischte sein Oberstübchen dabei, wie es unmerklich vor und zurück wippte. Die Zimmertür öffnete sich so plötzlich wie unerwartet und eine Kiste wurde in den Flur geschoben. Die Tür schloss sich wieder. Der Zeiger fraß sich weiter durch die Zeit. Endlich war der Kaffee durch. Und wieder öffnete sich die Tür, wieder wurde eine Kiste vor die Tür geschoben. „Wer zu Lebzeit gut auf Erden, wird nach dem Tod ein Engel werden“ – wummerte es in die Küche herüber. Tür zu. Herr W gab sich einen Ruck, schlurfte beflügelt vom Beat in den Flur, begutachtete die beiden Umzugskartons und musste ungläubig feststellen: bis zum Rand gefüllt, sogar irgendwie sortiert. Er schlappte zurück zu seinem Stammplatz am Küchentisch. Tür auf. Kiste raus. Rammstein. „Ohne dich kann ich nicht sein – Ohne dich – Mit dir bin ich auch allein – Ohne dich – Ohne dich zähle ich die Stunden…“ Tür zu. Herr W schaute auf die Wanduhr. Halb zwei. Der Kaffee schmeckte heute irgendwie fade. Durch die geschlossene Tür rief jetzt Marius Müller-W. nach „Freiheit, Freiheit ist das einzige, was zählt. Freiheit …“ Tür auf. Kiste raus. Tür zu. Der Aktionismus seines Zöglings irritierte. Tür auf. Kiste raus. Tür zu. So kannte er ihn gar nicht. „Freiheit, Freiheit ist das …“ Herr W schlurfe wieder in den Flur. Vor ihm eine Mauer aus Umzugskartons. „Freiheit, Freiheit ist das einzige was fehlt.“ Er skandierte: „Die Mauer muss weg! Die Mauer muss weg!“ Niemand hörte ihn.

Er war allein.

Punkt 16 Uhr stapelten sich 18 gutgefüllte Kartons und Taschen im Flur. Das Zimmer war leer. Nur in der Mitte des Raumes stand noch ein prallgefüllter Mülleimer, daneben lag ein gelber Sack voller Cremedosen, Zahnpastatuben, Jogurtbecher … „Auf die Coladose gibt es Pfand!“ merkte Herr W leidenschaftslos an. Vier Jahre Chaos in nur wenigen Stunden einfach verschwunden! Seine Brust zog sich zusammen, als sein Blick über die kahlen Wände und die leeren Regale wanderte. Er öffnete das Fenster, um besser atmen zu können. Es ist ein Kommen und Gehen, schoss es ihm ins Herz, schon wieder vier Jahre wie im Flug vorbeigerauscht und mal eben schnell in ein paar Kartons verpackt.

Satz und Sieg? – Ein letztes Duell

Noch ein halbe Stunde. Sein Auszügler hatte sogar noch Zeit, sich zu ihm an den Küchentisch zu setzen und sich nach seinem Wohlbefinden zu erkundigen. Ob er – Herr W – noch viel zu erledigen hätte, erkundigte er sich höflich. Er konnte ihn beruhigen. Vielleicht würde er die Kaffeemaschine heute noch entkalken, entgegnete er ihm. Ob er – Herr W – denn dann nicht Lust hätte, ihm beim Runtertragen der Kartons behilflich zu sein. Es hätte da gewisse Probleme mit der Organisation seiner Umzugshelfer gegeben, fügte er hinzu. Faszinierend, dachte Herr W, so konnte man es natürlich auch ausdrücken, dass man sich die ganzen Wochen über um nichts wirklich gekümmert hatte. Das hatte wirklich Klasse. Herr W begann ihn schon jetzt zu vermissen. Doch der Spielball war noch in seinem Feld. Er gab seinem Auszügler umgehend zu verstehen, dass ihm durch eine Wette um die Ehre leider die Hände total gebunden seien. Sein Kollege hätte genau diese Situation kommen sehen und kannte seinen – Herr Ws – Kleinmut, deshalb auch der hohe Einsatz, erklärte er und dann legte er noch nach, wie er denn dastehen würde, wenn herauskäme, dass er – Herr W – anstelle kräftiger junger Männer die ganzen Kisten aus dem 3. Stock gehievt hätte, das müsse er doch verstehen! Dieser angeschnittene Return mit extra Speed landet satt im Feld seines Auszüglers. Herr W hatte mit dessen unwirscher Reaktion gerechnet und auch damit, dass er sich schimpfend trollen würde, um die Kisten allein hinunter zu schleppen, eine Option, die Herr W zur eigenen Entlastung mit ins Spiel gebracht hatte. Der Auszügler blieb aber einfach schweigsam sitzen und erhöhte so den Druck auf ihn. Der Ball war wieder zurück in seinem Feld. Jetzt nur nicht ins Netz hauen. „Auf was wartest du eigentlich? Du hast noch 20 Minuten! Hier ist nur noch Tommy, sonst sind alle ausgeflogen. Und der ist nur da, weil er starke Schmerzen im Knie hat, sonst wäre er im Leichtathletiktraining!“ Ein mieser Return, aber irgendwie schwurbelte sich der Ball über das Netz und tropfte ins gegnerische Feld. Kurz darauf war sein Auszügler verschwunden. Satz und Sieg für Herrn W?

„Hey, nimm‘ doch erstmal die kleinen Kisten, ich nehme die großen! Und dann machen wir: wer zu erst wieder oben ist, …“ schallte es bald darauf aus dem Treppenhaus. Sportler sind doch mit den einfachsten Mitteln zu knacken, musste Herr W kopfschüttelnd feststellen. Er würde sich mit seinem Auszügler wohl auf ein Unentschieden einigen müssen.

Der Umzugswagen wurde bepackt. Herr W schaute dem VW-Bus noch nach, bis er hinter einer Kurve verschwunden war. Ohne Dich – Ohne Dich kann ich nicht sein – Ohne Dich. Vier Jahre seines Lebens. Vier gemeinsam gelebte und verlebte Jahre. Wo war nur die Zeit geblieben? Da stand er nun mit seinen Erinnerungen. Neue Schüler würden kommen, auch sie würden wieder Geschichten schreiben. Aber jetzt standen erst einmal die Sommerferien vor der Tür. Danach würde er mit den Neuen die ersten Trainingseinheiten absolvieren, gute Stories basieren auf langer, harter Erziehungsarbeit.

Wichtiger Hinweis:

Diese Geschichte enthält einige fiktive Elemente, aber sie ist nicht frei erfunden! Die sprechenden Zahnpastatuben und Coladosen entspringen allerdings meiner blühenden Fantasie.

Epilog

„Du, Herr W?!“ „Ja, Dose!“ „Danke, dass du mich aus dem gelben Sack befreit hast! Aber das mit der Fantasie hättest du nicht schreiben müssen!“ „Liebe Dose, glaube mir, es ist besser so, die Leser sind einfach noch nicht so weit!“

* Liedzeile von Peter Alexander
** pädagogischer Mitarbeiter im Internat
Fotos: Daniela Junge