„Mehr als eine Addition aus schlecht sehen und schlecht hören“

Hörsehbeeinträchtigte Schülerinnen und Schüler an der blista

11 Schülerinnen und Schüler sitzen auf den Stufen der blista-Aula, daneben Klassenlehrer Florian Ott
Florian Ott mit seiner Klasse

Thorsten Büchner* Für Klassenlehrerin Jutta Duncker und ihre Schüler aus der Jahrgangsstufe 8 waren es „sehr intensive und beeindruckende Eigenerfahrungen“, die sie zu Beginn des vergangenen Schuljahres ­sammeln konnten. Eine Mitarbeiterin des „Förderzentrum Hören“ aus Friedberg nahm sich einen Vormittag Zeit, um den blista-Schülerinnen und -Schülern die Erfahrungs- und Wahrnehmungswelt eines ihrer Mitschüler näher zu bringen. Während des mehrstündigen Workshops ging es darum, besser zu verstehen, wie es sich anfühlt, zusätzlich zur Seheinschränkung auch noch schwer mit Hörtechnik oder wenig bis gar nicht ohne Hörtechnik hören zu können. Mit Hilfe von Schallsimulationen, die die Schüler über den Kopf ziehen mussten, konnte nachvollzogen werden, welcher „undefinierbare Geräuschteppich“ auf die hörsehbeein­trächtigten Mitschüler einprasselt. Zusätzlich wurden die Funktionsweisen von Hörgeräten und – für die gehörlosen Schüler – ­Cochlea-Implantaten anschaulich erläutert. „Für das Miteinander innerhalb der Klasse war dieser Workshop eine absolute Bereicherung“, sagt Duncker.

Diese Workshops sind eine der ersten Ergebnisse einer neuen blista-Arbeitsgruppe, die sich mit der Situation von hörsehbeeinträchtigten Schülerinnen und Schülern beschäftigt. Unter der Leitung von Jutta Duncker besteht die Arbeitsgruppe aus Lehrerinnen und Lehrern, Mitarbeiterinnen aus dem Internat, der RES, der Öffentlichkeitsarbeit und einer Vertreterin des Elternbeirats, deren Kind selbst hörseheingeschränkt ist. Ziel der Arbeitsgruppe ist es, diese Schülergruppe spezifisch zu fördern und – mehr noch als bisher schon – die Lern- und Lebensbedingungen für sie an der blista zu verbessern.

Momentan haben an der blista 10­ % der Schülerinnen und Schüler zusätzlich zur Seheinschränkung eine Hörbeeinträchtigung. „Dabei reicht das Spektrum von einer mittelschweren Hörbeeinträchtigung bis hin zur völligen Gehörlosigkeit unter lautsprachlichen Kommunikationsbedingungen«, beschreibt Jutta Duncker.

Mit Florian Ott, seit einem Jahr Lehrer der Carl-Strehl-Schule, verfügt die neue Arbeitsgruppe über einen echten Experten, da Ott sowohl im Förderschwerpunkt Sehen wie im Förderschwerpunkt Hören ausgebildet ist. Ott hat einen Leitfaden mit Tipps und Infos zum Thema Hörsehbeeinträchtigung zusammengestellt, der an alle Lehrkräfte ausgeteilt wird, die einen hörsehbeeinträchtigten Schüler in der Klasse haben. „Gleichzeitig haben wir begonnen, am Kommunikationsverhalten in den Klassen zu arbeiten. Davon profitieren letztlich alle, dem hörsehbeeinträchtigten Schüler ermöglicht es aber überhaupt erst, dem Unterrichtsgeschehen zu folgen“, sagt Duncker. Innerhalb der Klassen wird daher darauf geachtet, dass immer nur eine Person spricht, durcheinander quasseln soll vermieden werden: deutliche und laute Aussprache stets in Blickrichtung zum hörseheingeschränkten Mitschüler ist unbedingt notwendig. Für diejenigen Schüler, die ein Cochlea-Implantat oder ein Hörgerät nutzen, gibt es bei Bedarf Mikrofonanlagen. Jeder Mitschüler und die jeweilige Lehrkraft haben ein eigenes Mikrofon, sodass der hörsehbeeinträchtigte Schüler den Fachlehrer und möglichst auch jeden Mitschüler verstehen kann. In diesem Punkt kann sich die Schule von vielen anderen, die hörbeeinträchtigte Schüler unterrichten, abheben; Lehrermikro bieten viele, auch in der Inklusion, Mitschülermikro kaum jemand. Zudem soll nach und nach die Raumakustik der Unterrichtsräume verbessert werden. Auch hiervon werden alle Schülerinnen und Schüler ebenso wie die Lehrer profitieren.

„Das alleine reicht aber nicht aus. Eine Hörsehbeeinträchtigung ist mehr als nur die Addition von schlechtem Sehen und schlechtem Hören“, so Duncker.

Für viele Hörsehbeeinträchtigte sei es ­wichtig, die akustischen Informationen, die sie erhalten, auch visuell mitverfolgen zu können, wenn die Sehkraft es zulässt. „Da fangen wir nun wieder an, bestimmte ­Gesichtspunkte, die die Unterrichtsstunde gliedern, an die Tafel zu schreiben.“

Das Erlernen einer Fremdsprache stellt zusätzlich eine hohe Anforderung an betroffene Schülerinnen und Schüler. Eine große Schwierigkeit stellt die Wahrnehmung und Verarbeitung fremder Lautverbindungen dar. Außerdem weicht die Aussprache häufig vom Schriftbild ab, so dass diese Abweichungen nach anderen Regeln eingeprägt werden müssen. Für diese Fälle besteht die Möglichkeit eines Nachteilsausgleichs, der dafür sorgt, dass die Unterrichtsmaterialien so aufbereitet werden, dass sie für den hörseheingeschränkten Schüler stress- und problemärmer wahrgenommen werden können. „Wenn wir im Unterricht eine Radiosendung hören oder einen Film ansehen, dann geben wir dem hörseheingeschränkten Schüler dieses mit nach Hause, damit er dort in Ruhe noch einmal nachhören kann, oder wir übertragen verbale Informationen in Schriftform, so dass der Schüler im Idealfall mitlesen kann, was gerade gesprochen wird. Auch der Einsatz von spezieller Zusatztechnik (Funkanlage + Adapter) kann in diesem Zusammenhang sehr hilfreich sein“, verdeutlicht Jutta Duncker.

Nicht nur im Klassen- oder Fachraum findet an der blista Unterricht statt. Auch bei den vielen sportlichen Aktivitäten, wie etwa der Ruderfreizeit, wird Wert darauf gelegt, dass alle Schüler, ob blind, seheingeschränkt oder hörsehbeeinträchtigt gleichermaßen teilnehmen und teilhaben können. „Dieses Jahr haben wir dank der guten Tipps und Hilfe von engagierten Eltern und der Kreativität von Lehrern eine hervorragende Lösung gefunden.“ Ein Schüler, der nahezu komplett gehörlos ist und nur dank Cochlea-Implan­taten hören kann, war mit zur Ruderfreizeit am Edersee. Im Wasser darf er die Implantate nicht ohne weitere Schutzmaßnahmen - die das elektrische Hören leider wieder erschweren – tragen. Da sein Sehrest zu gering war, um Zeichen des Sportlehrers wahrzunehmen, griffen die Sportlehrer zu einem einfachen, aber genialen Trick. Damit er im Einer-Ruderboot Signale der Lehrkräfte empfangen und wahrnehmen konnte, band sich der Achtklässler ein Gerät um das Handgelenk, welches über Funksignale initiiert, Vibrationsimpulse übertragen kann. Die Sportlehrer konnten ihm so taktil wahrnehmbare Signale senden. Einmal vibrieren hieß: weiter rudern, zweimal: Stopp.

Diese enge Zusammenarbeit mit den Eltern der hörseheingeschränkten Kinder und Jugendlichen möchte die Arbeitsgruppe gerne ausbauen. Im Rahmen des Sommerfests gab es bereits eine erste Gelegenheit zum gegenseitigen Austausch. „Überhaupt werden wir in unseren Bemühungen sehr stark von den Expertinnen und Experten auf diesem Gebiet unterstützt. So hat etwa die Leiterin des Deutschen Taubblindenwerks in Hannover bereits ihre Unterstützung angeboten. Außerdem sind wir mittlerweile gut in der Hörsehbehindertenszene vernetzt“, so die Leiterin der blista-Arbeitsgruppe.

Wie für die Schule, wird auch für den Internatsbereich und den Reha-Unterricht überprüft und überlegt, wie dort die Rahmenbedingungen verändert werden müssen, damit etwa morgens beim Frühstück in der WG der Tag nicht gleich mit einem stressigen Geräusche-Chaos beginnt oder das Orientierungstraining am Nachmittag , was die akustische Reizüberflutung und das individuelle Richtungshörvermögen angeht, so optimal wie möglich ablaufen kann.

Viele der hörsehbeeinträchtigten blista-Schüler waren vorher auf Sehbehinderten-, Gehörlosen- oder Regelschulen. „Einige unserer Schüler haben uns davon berichtet, dass es leider selten so war, dass ganzheitlich gefördert wurde. Zumeist wurde sich auf eine Beeinträchtigung konzentriert und die besonderen Bedingungen, die man braucht, wenn man schlecht sieht und schlecht hört, waren häufig ausgeblendet. Das wollen wir gerne ändern“, fasst Duncker das Ziel ihrer Arbeitsgruppe zusammen.

Kontakt zur Arbeitsgruppe: hoeren@blista.de

[*Öffentlichkeitsarbeit, Foto: Bruno Axhausen]