Menschen

Portraitfoto von Gabor Balintfy

„Immer ein Mensch mit einer Geschichte”

Thorsten Büchner. Gabor Balintfy hatte einen Monat Zeit, sich auf seine neue Aufgabe vorzubereiten. Er sollte ab November 2015 die neu an der blista eingerichtete Intensivklasse für minderjährige geflüchtete Jugendliche als Klassenlehrer übernehmen. „Den Monat davor habe ich damit verbracht, in anderen Marburger Schulen, die bereits Flüchtlingsklassen eingerichtet hatten, zu hospitieren und mich so gut es ging auf den Unterrichtsbeginn vorzubereiten.“ Die Gruppe bestand zu Beginn aus 16 Jugendlichen, die zumeist aus Syrien oder Afghanistan stammten. „Die Jungs waren, was ihre schulischen Vorerfahrungen anging, sehr weit auseinander“, beschreibt Balintfy. Die Spannbreite reichte von einem Intensiv­schüler, der in Afghanistan bereits sein Abitur abgelegt hatte, bis hin zu einem Schüler, der lediglich drei Monate die heimatliche Koranschule besuchte. „Die Voraussetzungen der Jungs sind so unterschiedlich, dass es keinen Sinn macht, sie alle auf den gleichen Wissensstand bringen zu wollen.“

Im Unterschied zu berufsorientierten Klassen für Flüchtlinge steht bei einer sogenannten „Intensivklasse“ der Deutsch-Unterricht ganz im Mittelpunkt. 16 Stunden Deutsch unterrichtet Balintfy, die Hälfte davon zusammen mit einer Kollegin, um so „auf die unterschiedlichen Lernvoraussetzungen und Lerngeschwindigkeiten“ eingehen zu können.

Die Erlebnisse, die seine Schüler im Heimatland und auf der Flucht gesammelt haben, spielen im Unterricht „zwar eigentlich keine Rolle“, dennoch schwingen die teilweise traumatischen Erfahrungen, die seine Schüler erleben mussten, immer mit. „Das war gerade am Anfang unserer Zeit so. Die Jungs haben sehr viel geschlafen, waren oft krank und hatten viele andere Dinge im Kopf.“ Da sei es gerade wichtig gewesen, das nicht etwa als Lernverweigerung oder mangelnde Motivation aufzufassen, sondern als Teil des Verarbeitungsprozesses der Flucht und des Ankommens in Sicherheit. „Da muss man eben genauer hingucken.“ Durch den Kontakt zu seinen Schülern ist für Balintfy deutlich geworden, dass hinter dem abstrakten Begriff Flüchtling „immer ein Mensch mit einer Geschichte steht.“ „Niemand der Jungs hat seine Familie und seine Heimat freiwillig verlassen.“ Die Geschichten und Erlebnisse „seiner Jungs“ nimmt Balintfy auch mit in den Feierabend und die Ferien.

Im Unterricht bespricht Gabor Balintfy auch das sich im letzten Jahr gewandelte gesellschaftliche Klima den Flüchtlingen gegenüber. „Natürlich gab es auch unter den Jungs Konflikte und Diskussionen über unterschiedliche Wertevorstellungen.“ Dabei gehe es aber nicht darum „vom Lehrerpult aus zu demonstrieren, dass die eigenen Werte der Jungs, mit denen sie aufgewachsen sind, falsch sind“, sondern darum, miteinander ins Gespräch zu kommen und für gegenseitiges Verständnis zu werben sowie gemeinsame, kulturübergreifende Werte zu finden und zu fokussieren.

Zunächst war es für die Jugendlichen ungewohnt, auf dem blista-Campus zu sein. „Viele sagten am Anfang, dass sie lieber auf eine „normale“ Schule wollten“, erzählt Balintfy. Schnell haben die Flüchtlinge dann aber erkannt, welche Vorteile der blista-Besuch bringt. Lehrer, die gewohnt sind, auf individualisierte Weise den Lehrstoff zu vermitteln, kleine Klassen und ein überschaubares Schulgelände. Beeindruckender Beleg dafür, wie „willkommen und angekommen“ sich seine Schüler mittlerweile fühlen, konnte Gabor Balintfy während des Festaktes zum blista-Jubiläum erleben.

Nach dem ersten Schuljahr sind fünf Jugendliche in die Jahrgangsstufe 10 der „Carl-Strehl-Schule“ gewechselt, um dort einen Schulabschluss zu erwerben. Ein Schüler wird im kommenden Jahr mit dem Studium beginnen und bereitet sich derzeit in einem einjährigen Intensivkurs vor. Ein anderer Schüler hat eine Ausbildung begonnen. „Ich habe mir vorgenommen, dass keiner meiner sieben verbliebenen Jungs im Sommer die blista ohne Abschluss oder Perspektive verlässt.“ Dann wird die zweijährige Intensivklasse beendet sein. „Vermutlich wird es auch keine neue Klasse an der blista mehr geben, da solche Intensivklassen zukünftig nur noch an rein staatlichen Schulen angesiedelt werden sollen“, bedauert Balintfy. Mittlerweile unterrichtet er auch reguläre blista-Klassen, etwa in der Jahrgangsstufe 5 oder in der Fachoberschule Gesundheit. Parallel zu seiner Lehrtätigkeit studiert Balintfy „Deutsch als Fremdsprache“. „Das ist dann nach Biologie und dem Lehramtsstudium für Deutsch und Biologie schon mein drittes Studium“, lacht er. Vor der blista unterrichtete er an einer Montessori-Schule in Südhessen und mehrere Jahre bei Marburger Bildungsträgern. „Ich habe immer schon mit jungen Menschen gearbeitet, die aus irgendwelchen Gründen durchs gesellschaftliche Raster fallen. Das führt dann zu Selbstzweifeln, Enttäuschungen und Frustrationen. Da zu helfen, diese Menschen auf die Beine zu bekommen, das ist mein Anliegen.“