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heute: Die Rente mit 70

Prolog

Herr W: „Und, wie haben dir die ersten Wochen in der fünften Klasse gefallen, Paula?“
Paula: „Opa hat mir immer gepredigt, dass ich fleißig sein muss - so wie er damals - denn an der blista würde es Hausaufgaben, Hausaufgaben, Hausaufgaben geben. Ist aber gar nicht so schlimm, wie er behauptet hat.“
Herr W: „Paula, nichts gegen deinen Großvater, aber als er damals bei mir in der Wohngruppe Schüler war, so wie du jetzt, da war er gar nicht so fleißig - aber das bleibt unter uns!“

Ein Blick in die Glaskugel

Jetzt träumen ja viele Politiker*innen schon ganz unverblümt von der Rente ab 70. Aber stell dir doch nur mal so einen Grauen Panther im Wohngruppenalltag der blista vor – so als pädagogische Mitarbeiter*in! - Hey, nicht meine Idee, das mit den 70! - Da muss man sich doch auch mal fragen dürfen: Wie soll das im Wohngruppenalltag überhaupt gehen? Bei der Generation Prä-Rollator muss man doch mit jeder Menge Hilfebedarf rechnen, auf die sich die WG-Bewohner*innen einzustellen haben. Nehmen wir mal einen fiktiven 70-Jährigen. Nennen wir ihn der Einfachheit halber Herr W. Herr W arbeitet bereits als Betreuer im Internat und jetzt machen wir mit ihm eine kleine Zeitreise in seine blista- Zukunft. Herr W ist jetzt 58 und der psychische und physische Verfall hat bereits merklich eingesetzt. Wir rechnen das jetzt einfach mal auf 70 Lebensjahre hoch und hören mal rein, wie und wo der Hilfebedarf sich äußert.

Einkaufen

WG-Bewohner: „Wenn Herr W einkaufen geht, dann machen wir vorher immer einen Startcheck mit ihm – so wie bei den Airlines, bevor der Flieger abhebt. Hat er die Lesebrille dabei, den Einkaufszettel in der Tasche oder jetzt in Coranazeiten seine Maske zur Hand? Er ist ja so was von vergesslich geworden. Und dann bekommt er auch immer noch von uns die Mahnung mit auf den Weg, dass er einfach mal fragen könnte, wenn er etwas nicht finden oder lesen kann. Oft bringt er dann einfach irgendwas mit, was er so zu greifen bekommt. Letztes Mal war fast alles bio - können wir uns eigentlich gar nicht leisten. Und dann behauptet er einfach, dass die anderen Artikel ausverkauft gewesen seien – klar, dreiste Notlüge. Jeder weiß, dass die günstigen Artikel meistens ganz unten im Regal stehen, aber mit dem Bücken hat er es ja nicht mehr so, der Knie wegen. Also nimmt er einfach das mit, wo er einfach drankommt. Er könnte ja auch mal eine junge Dame fragen, ob sie ihm nicht mal dabei helfen kann, - aber nein. Auch mit dem Einkaufszettel ist das so ein Problem, denn etwas lesen und etwas wahrnehmen sind bei ihm zwei verschiedene Dinge. Oft muss er dann noch mal losziehen. Im Grunde könnte man ihn den ganzen Nachmittag mit Einkaufen beschäftigen – ist ja auch nicht mehr der Schnellste.

Gut, am Samstag, wenn wir für zwei Tage einkaufen müssen, dann gehen wir auch schon mal mit. Klar würde er das auch alleine schaffen, dauert dann eben, aber wenn du ihn so siehst: Der riesige Einkaufsrucksack auf seinem gebeugten Rücken. Und wenn er dann mit Rucksack und Seniorenshopper so loszuckelt, um den Einkauf für acht Leute zu holen, da kann man schon mal Mitleid mit ihm bekommen. Ja, natürlich könnten wir auch selber einkaufen gehen, aber dann kommt Herr W gar nicht mehr vor die Tür. Beweglichkeit und Fitness werden ja auch nicht besser im Alter, deshalb muss er regelmäßig raus - und von sich aus geht er ja nicht vor die Tür, immer ist es zu kalt oder zu warm oder es regnet. Aber wenn du dann mal mitgehst, bereust du es auch gleich wieder. Letztens sollte er 22 Euro 27 bezahlen. Lange Schlange hinter uns. Er hatte seine Brille vergessen. Also ich kann ja auch nicht so gut sehen. Da hat er die ganze Kleingeldsammlung aus seiner Geldbörse aufs Band geschüttet. Ich sag nur: eisiges Schweigen in der langen Reihe hinter uns. Und dann hat es noch nicht mal gereicht. Ich glaub, der hat noch nie mit Karte bezahlt, aber da sind wir jetzt auch dran.“

Betreuer mit vollem Einkaufsrucksack und Seniorenshopper schnauft die Treppe rauf

Zubereitung von Hauptmahlzeiten

WG-Bewohner: „Er hat ein sehr gutes Basiswissen in diesem Bereich und ist auch motiviert, keine Frage, aber das Ergebnis lässt oft mehr als zu wünschen übrig. Im Alter lassen ja die Geschmacksnerven nach, da kocht er wohl mehr nach Farben. Und dann ist er auch noch Oldschool: Erbseneintopf - wer isst denn heute noch so was? Neulich hatte er die Idee mit diesem widerlichen Sauerkraut. Mal abgesehen davon, dass er dieses Zeug selber gar nicht mehr verträgt - ihn davon wieder abzubringen war eine Aufgabe, störrisch wie ein alter Esel. Und bei vegan ist er völlig überfordert - und vor allem auch unwillig, sich mal auf was Neues einzulassen. Und auch mit der Hygiene hapert es bei ihm. Der würde am liebsten den ganzen Abwasch mit einem Liter Wasser und ‘nem Tröpfchen Spüli machen – hätte sein Großvater auch immer so gemacht und wäre damit uralt geworden, behauptet er. Nur wenn dir die Pfannen aus der Hand gleiten, weil sie noch fettig sind, hört der Spaß einfach auf. Es kommt noch so weit, dass wir eines Tages den Abwasch selber machen müssen.“

Aufstehen/Zubettgehen/Tag/Nachtrhythmus

WG-Bewohner: „Morgens ist er immer wach, sehr früh, auch am Wochenende. Das bekommen wir immer mit, der Altbau ist total hellhörig, das nervt vielleicht. Wir vermuten ja so was wie senile Bettflucht. Abends hingegen - sein Dienst endet ja gerade am Wochenende oft spät - da haben wir schon an manchen Tagen unsere liebe Not, ihn bis Dienstschluss wachzuhalten. Schon ab neun Uhr nickt er immer wieder weg. Im Herbst nach der Zeitumstellung wird es dann noch dramatischer. Dann lassen wir immer mal wieder eine Tür zuknallen, dann schreckt er in seinem Sessel auf. ‚Die Türen haben Griffe‘, zetert er dann. Aber das machen wir ja nur für ihn. Wenn es nach ihm ginge, würden wir im Winter um 17 Uhr zu Abend essen, und danach kennt er nur noch eine Richtung und die heißt: Bett.“

Anziehen/Ausziehen

WG-Bewohnerin: „Man muss ihn schon hin und wieder darauf hinweisen, dass er sein T-Shirt vollgekleckert hat und er es ruhig mal wechseln könnte, bevor er raus in die Öffentlichkeit geht. Aber in dem Alter sind Männer ja nahezu schmerzfrei bei so was. Auch bei den Hosen – ich sag nur: auftragen. So ein Used-Look, das wirkt lässig und cool bei 20-Jährigen, aber bei ihm - ich sag da nur: leicht verlottert. Aber modisch, ganz ehrlich: eine einzige Katastrophe. Der läuft noch immer mit Kapuzenpulli und Turnschuhen durch die Gegend - seit 50 Jahren - und denkt, er sei trendy und cool. Dabei merkt er gar nicht, dass er damit schon mindestens 40 Jahre über dem Verfallsdatum liegt. Und dann bindet er sich seine paar Strähnen zu einem Zopf - ich sag: am besten ganz ab mit diesen Fusseln. Da fragt man sich doch, was der im Spiegel so sieht wenn er hineinschaut? Und das Beste ist: Im Hilfebedarfsbogen für uns Schüler kreuzt er immer ‚Beratung‘ beim Thema Klamotten und Mode an. Neulich kam er mit einer grauen Jogginghose an. Was ihn da geritten hat, weiß der Teufel. Wahrscheinlich hat er es im Park bei irgendwelchen Jugendlichen gesehen. Wollte wohl auch cool und leger rüberkommen. Und jetzt hat er ja auch wirklichen keinen Hintern mehr in der Hose. Also kurz, dass Ding baumelte im Schritt fast bis zu den Knien, das sah vielleicht aus – wie gepampert. Aber das schreibt ihr bitte nicht. Ich dachte: Ein Rollator vorneweg und er würde in jedem Seniorenstift die Herzen der Old Ladies zum Schmelzen bringen. Wir konnten es ihm aber ausreden, haben einfach mit dem Smartphone ein Foto von hinten gemacht – da hat er es eingesehen, dass sein Körper nicht mehr zur Hose passt.“

Der gebeugte Betreuer mit Jogginghose und schwarzem T-Shirt

Eigenbeschäftigung

WG-Bewohner: „Da ist er überhaupt nicht gut drin. Ständig hängt er an uns dran, will mit uns reden, wie es so in der Schule läuft, was wir heute so vorhaben, ob wir noch Hausaufgaben aufhaben und ob er uns dabei helfen soll – so weit kommt es noch. Hat der Kerl nichts Besseres zu tun, als immer nur mit uns quatschen zu wollen? Das kann es doch nicht sein. Neugierig ist er wie ein altes Tratschweib. Alleine kann er sich anscheinend überhaupt nicht beschäftigen. Er nervt da wirklich. Ich meine, er muss doch auch mal was mit Gleichaltrigen machen! Hat er keine Freunde, die in seinem Alter sind? Oder so was wie ein Hobby?“

Absprache und Durchführung von Arztterminen

WG-Bewohnerin: „Da kann ich nur vor ihm warnen! Mach deine Arzttermine - wenn möglich - alleine! Lass dich nur nicht von ihm hinbringen oder begleiten! Der hängt sich nämlich immer gerne bei dir mit dran, wenn du mal einen Arzttermin hast. In seinem Alter ist ja immer was. Frag dich lieber selber durch, informier‘ ihn nicht! Er scheint ja jeden Arzt und jede Sprechstundenhilfe in Marburg zu kennen – und Peinlichkeit ist für ihn ein absolutes Fremdwort. Er hört ja auch nicht mehr so gut und meint, dann besonders laut reden zu müssen. Alle anderen Patienten sind dann ganz Ohr - nachher wissen die bis ins Detail, was dir und ihm so alles fehlt.“

Epilog – Rente mit 70 und danach?

Herr W sitzt mit einer neuen Schülerin, die gerade die blindentechnische Grundausbildung absolviert, am Frühstückstisch.
„Und du hast vor deiner Sehrestverschlechterung als Altenpflegehelferin gearbeitet?“
„Jap, in der Tagespflege mit Demenzkranken, würde ich auch gerne nach der BTG irgendwie weitermachen.“
„Und was hast du da so den lieben langen Tag gemacht, wenn ich fragen darf?“
„Naja, hauptsächlich musste ich mir immer etwas einfallen lassen womit ich unsere betagten Kunden beschäftigen kann, also so, dass sie sich bei uns wohlfühlen und ihre verbliebenen Ressourcen und Fähigkeiten behalten. Ich habe versucht, für sie Dinge zu finden, die sie von früher her kannten, die sie bei uns dann auch weiter machen konnten.“
Mitleidig schaute Herr W auf die Putzfrau, die gerade in der Küche herumfeudelte und kurz vor der Rente stand. Wenn sie wüsste, dass das wohl vielleicht niemals ein Ende haben würde, also die Sache mit dem Putzen. Aber das würde sie dann ja nicht mehr wirklich mitbekommen.

„Wir hatten auch schon ehemalige Lehrkräfte und Pädagog*innen als Kunden gehabt. Ich glaube, sogar einen von der blista, aber das war vor meiner Zeit. Den haben die in die Küche gesetzt mit einer großen Kaffeetasse, und da saß er dann den ganzen lieben langen Tag und starrte auf die Tasse. Alle paar Minuten haben sie dann einen FSJler oder Bufdi kurz zur Küchentür reinschauen lassen. Da ist der Kunde dann plötzlich munter geworden, wie aufgezogen. Hat gerufen: Wie war‘s in der Schule? Hast du Hausaufgaben auf? Wann kommst du wieder? Und wenn der Bufdi verschwunden ist, ist der Kunde wieder in sich zusammengesackt.“ „Ähh, das ist doch jetzt ein Witz, oder?“ „Ich geh dann mal, muss in den Unterricht. Wir sehen uns später.“

  • Autor Winfried Thiessen ist Mitarbeiter im dezentralen Internat der blista.