Buchtipp

Das Buchcover von "Ein Tropfen Geduld" von W.M. Kelly zeigt ein vermutlich aforamerikanisches Kind, das mit vollen Backen und zusammengekniffenen Augen eine Posaune bläst.

Ein Tropfen Geduld —

Irgendwo im Nirgendwo in den Südstaaten der USA der 1920er Jahre. Der kleine Ludlow Washington ist geburtsblind. Mit 5 Jahren übergibt ihn sein Vater unerwartet und ohne viele Worte der Obhut eines Heims für schwarze blinde Kinder. Seine Familie verschwindet damit für immer aus Ludlows Leben. Im Heim wird er der „Sklave“ eines anderen schon etwas älteren blinden Mitbewohners. Ludlow erlernt im Blindenheim ein nicht näher bezeichnetes Blasinstrument und erweist sich bald als genialer Musiker. Mit 16 Jahren übergibt ihn der Leiter des Heims an einen schwarzen Bandleader – sprich Ludlow wird mehr oder weniger an ihn verkauft. Da er noch keine 18 Jahre alt ist, bleibt ihm keine andere Wahl, als in dessen Band zu spielen, um nicht zurück ins Heim zu müssen. Fortan spielt er in einer Kleinstadtspelunke, in der Prostituierte auf ihre Freier warten. Mit ihnen macht er auch seine ersten sexuellen Erfahrungen. Bald schon schwängert und heiratet Ludlow die Tochter seiner Zimmerwirtin, um kurz darauf Frau und Kind schon wieder zu verlassen und in New York in der Band einer der erfolgreichsten Sängerinnen der 40er Jahre anzuheuern. Ludlow erlebt einen kometenhaften Aufstieg. Er wird zu einem der kreativsten Jazzmusiker seiner Zeit und sein Glück bzw. seine Musik führen ihn direkt in die Arme eines netten weißen Mädels. Der Nachwuchs lässt dann auch nicht lange auf sich warten … So Schluss mit der Inhaltsangabe!

Der schwarze Schriftsteller William Melvin Kelley hat Ein Tropfen Geduld 1965 veröffentlicht, in einer Zeit, in der die schwarze Bürgerrechtsbewegung ihrem Höhepunkt zustrebte, einem hochpolitischen Jahrzehnt, in dem sich Schwarze offen gegen den Rassismus der Weißen stellten und viele Aktivisten dies mit ihrem Leben bezahlen mussten oder für Jahrzehnte in Gefängnissen weggesperrt wurden. In Kelleys neu aufgelegtem Roman geht es um die Suche der Schwarzen nach ihrer Identität, ihrem Platz in der US-Gesellschaft. Der blinde, schwarze Musiker Ludlow Washington, der sich orientierungslos durchs Leben treiben lässt, der Musik macht, weil es besser ist, als mit einer Blechtasse an der Straßenecke zu betteln, steht hier stellvertretend für diese Suche. Lesenswert!

Im Abspann wird die Entstehung des Romans und seine Bedeutung noch einmal von Gerald Early näher beleuchtet. Ich war dann doch etwas überrascht, für welche Entwicklungen der schwarzen Community in den USA der Lebensweg des blinden Musiker Ludlow Washington symbolisch steht. So wurde am Ende aus einer guten Unterhaltungs- auch noch eine Art Bildungslektüre.